Google Street View: Eine politische Kampfansage

2004 wurde der Paragraph 201a zum Schutz des "höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen" beschlossen, gegen den Google provokativ verstößt

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Wie harmlos Google Street View ist, mag jeder selbst entscheiden. Wer als Privatperson jedoch Google die Veröffentlichung von Bildern seines Zuhauses untersagen möchte, ist auf die geltende Rechtslage angewiesen. Bürgerinnen und Bürger fragen sich daher, was die Politik getan hat, um ihre Persönlichkeitsrechte zu schützen. Googles Aktion stellt die Politik auf den Prüfstand. Solange Google nicht erkennen lässt, wie es sich aus dieser Konfliktsituation heraus manövriert, sollte sich das Unternehmen über politischen Gegenwind nicht wundern.

Google Street View wäre vielleicht ein Webauftritt wie die deutschen Webangebote Sightwalk.de oder bilderbuch-koeln.de, wenn es sich wie jene damit begnügen würde, in normaler Augenhöhe die bei Touristen beliebtesten Innenstadtbezirke für das Web aufzubereiten. Wer dagegen wie Google Street View jede Sackgasse auch in den entlegensten Ecken einer Stadt erfasst und wer außerdem eine Aufnahmehöhe von zweieinhalb Metern wählt, um besser über Mauern und Hecken spähen zu können, macht damit jedem unmittelbar klar, dass jeder betroffen ist. Das Ergebnis dieser Form von Direktansprache Googles an die Bevölkerung ist – nicht anders wie bei der Volkszählung auch - eine breite Diskussion.

Über das Unkenntlichmachen von Häusern wird dabei noch recht ernsthaft und sachbezogen geredet. Google bietet Betroffenen eine Widerspruchslösung an. Der zuständige Hamburger Datenschutzbeauftragte räumte gegenüber der SZ ein, dass er ohne dieses Angebot keine Chancen sieht, auf Grundlage des Datenschutzrechts eine Löschung zu erreichen.

Wenn sich das Unternehmen aber nicht an seine Zusagen hält, hätte ich wenig in der Hand. Einen Bußgeldbescheid durchzusetzen, wäre bei der gegenwärtigen Gesetzeslage schwierig.

Johannes Caspar

Weil das Datenschutzrecht keinen wirksamen Schutz bietet und damit kein Entkommen möglich scheint, verfängt die Aufregung viel besser, die medial bestens transportierbare Beispiele von Bildern bei Street View über unterschiedlichste verfängliche, unsittliche oder ungesetzliche Handlungen verbreiten, die Google in anderen Ländern bereits in einiger Zahl produziert hat. Nackte, Ehebrecher, Volltrunkene im eigenen Vorgarten, Einbrecher und andere bei Google dokumentierte Entgleisungen aus anderen Ländern brachte der Berliner Tagesspiegel auf den ironisch gemeinten einfachen Nenner, Google Street View werde für "weniger Unsittlichkeit" sorgen:

In einer Zeit, in der jeder wissen könnte, was der andere gerade tut, können wir uns so unfeine Dinge wie an Zäune zu pinkeln einfach nicht mehr leisten. Google Street View sei Dank.

Tagesspiegel

Dieser Kommentar spießt die moralischen Widersprüche unserer Zeit auf: Google befriedigt den Voyeurismus dieser Welt, in der sich zugleich jeder davor fürchtet, Opfer einer solchen globalen Zurschaustellung zu werden. Google ist dabei ein vermeintlich unschuldiger Lieferant unmoralischer Angebote für moralisierende Zeitgenossen. Und Datenschutz ist da nur eine abstrakte Metapher für den Umgang mit der Zurschaustellung von immer wieder gern gesehenen Eingriffen in die Intimsphäre anderer Leute.

Für Google ist unser Voyeurismus und unsere eigene Aufregung darüber ein geldwerter, überaus profitabler Marktmechanismus. In der Aufmerksamkeitsökonomie des Internets schafft die Wertedebatte aus dem Feuilleton kostbaren Mehrwert. Große mediale Aufregung ist eine flächendeckende unbezahlte Werbung, auf die kein Unternehmen verzichten könnte. Der Bilanz zuliebe muss Google nun mit Street View schnell an den Start.

Wenn Google da nicht die unwesentliche Kleinigkeit des politischen Gesamtrahmens übersehen hätte. Politik und Datenschützer fühlten sich zuerst überrumpelt. Dann gingen Kommunen ungewohnt schnell dazu über, selbst ein Vorgehen der Bürgerinnen und Bürger gegen Google zu koordinieren oder auf Bundes- und Landesebene gleich neue Regeln zu Diensten wie Street View zu fordern. Mittlerweile rudern einige schon zurück. Ist das also doch nur politisches Schauspiel für die Bürgerinnen und Bürger, das Google nicht ernst nehmen muss?

Verschärfter Schutz der Persönlichkeitsrechte

Nach zahlreichen großen Datenschutzskandalen in Deutschland wurde in den letzten zwei Jahren zwar eine Verschärfung des Datenschutzes vehement gefordert, aber bisher nicht umgesetzt. Eine von allen Parteien im Bundestag gemeinsam getragene Verschärfung des Schutzes der Persönlichkeitsrechte ist daher eine wirklich ungewöhnliche politische Angelegenheit.

Ein solches überfraktionelles Ereignis war 2004 die – ohne die damalige PDS, aber mit deren Zustimmung – von den Fraktionen einvernehmlich betriebene Beschlussfassung, Beratung und Verabschiedung des Sechsunddreißigsten Strafrechtsänderungsgesetzes, mit dem ein Paragraph 201a neu in das Strafgesetzbuch eingefügt wurde. Strafrechtskern ist folgende, nur mäßig eindeutige Regelung gegen die "Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen":

(1) Wer von einer anderen Person, die sich in einer Wohnung oder einem gegen Einblick besonders geschützten Raum befindet, unbefugt Bildaufnahmen herstellt oder überträgt und dadurch deren höchstpersönlichen Lebensbereich verletzt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.

§ 201a

Ebenso wird nach Abs. 2 bestraft, wer solche Bildaufnahmen gebraucht oder einem Dritten zugänglich macht. Schließlich können nach Abs. 4 die "Bildträger sowie Bildaufnahmegeräte oder andere technische Mittel, die der Täter oder Teilnehmer verwendet hat, eingezogen werden".

Auch wenn es durchaus große Unklarheiten gibt, ob mit diesem Gesetz das politisch Gewollte auch juristisch eindeutig geregelt wurde, so ist ausschlaggebend, dass hier als Reaktion auf Kritik der Datenschützer versucht wurde, einen geschützten Lebensraum – die Wohnung, aber auch den mit Sichtschutz versehenen Garten – gegen Fotografien von außen ebenso zu schützen, wie gegen unerlaubtes Fotografieren im Innenraum selbst. Das Verbot erstreckt sich sowohl auf das Fotografieren als auch den eigenen "Gebrauch" der Bilder, deren Weitergabe und deren Übertragung - ausdrücklich auch per Webcam. So sollen - zusätzlich zum Schutz personenbezogener Daten im Datenschutzgesetz und dem Schutz des gesprochenen Wortes gegen heimliche Aufzeichnung - die Persönlichkeitsrechte auch besser gegen ungewolltes Fotografieren geschützt werden.

Die Bundestagsdebatte zur Verabschiedung des Gesetzes machte den politischen Willen deutlich. Volker Kauder erklärte als Ziel der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: "Stoßrichtung ist vielmehr der Schutz der Privatsphäre vor Ausspähen und Hineinfotografieren" (BT.-Drs. 15/105, S. 9536). Die Motivlage der FDP-Fraktion skizzierte Jörg van Essen: "Der Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden, schützt besonders die Frauen, die häufig Opfer solcher Aktivitäten sind, und zwar nicht nur der beschriebenen Aktivitäten, sondern auch Opfer der Tätigkeit von Paparazzi, die sich nicht scheuen, auf Bäume zu klettern, um in den intimsten Bereich von insbesondere bekannten Frauen einzudringen, Fotos zu machen und diese zu verkaufen" (15/105, S. 9537f).

Staatsanwalt statt Datenschützer?

Die erwarteten Aufnahmen von Google Street View von der Straße in eine Wohnung hinein oder über eine Gartenmauer hinweg auf dort aufgenommene Nackte oder sich sonstwie unsittlich benehmende Zeitgenossen mutieren auf dieser Grundlage auch ganz ohne juristische Phantasie zu einem Fall nicht für das Feuilleton oder den Datenschutz, sondern für den Staatsanwalt.

Doch ist dabei eine Unsittlichkeit völlig irrelevant, denn der Wortlaut des Gesetzes unterscheidet nicht nach dieser Art der Abbildung. Jedes beliebige Bild einer Person in ihrem geschützten Raum einer Wohnung, eines Hotelzimmers, hinter einer Gartenmauer oder Hecke, das den "höchstpersönlichen Lebensbereich verletzt", ist allein schon ausreichend für eine Strafanzeige. Die Gesetzesbegründung führt als Beispiel dafür bereits "Verhältnisse innerhalb der Familie" an. Wer etwa mit wem zusammen in einer Wohnung lebt, geht niemanden etwas an, also müssen Fotos davon im Internet auch nicht geduldet werden. Dass der 201a StGB sogar ermöglicht, "Bildträger sowie Bildaufnahmegeräte oder andere technische Mittel, die der Täter oder Teilnehmer verwendet hat", einzuziehen, könnte – entschlossene Staatsanwälte und Richter vorausgesetzt – bei Google Anlass zum Nachdenken geben. Schließlich beschlagnahmte erst vor wenigen Tagen die Polizei im ansonsten technikverliebten Südkorea einige Google-Rechner.

Dass Hamburgs oberster Datenschützer Probleme sieht, die Datenschutzgesetze auf Google Street View anzuwenden, ist nachvollziehbar. Es ist allerdings zugleich auch ein schwerer Dämpfer für den Glauben von Bürgerinnen und Bürgern in die Schutzfunktion ihres Staates und seiner Repräsentanten. In der nächsten Zeit wird sich daher die Debatte darüber noch verschärfen, welche Grenzen der Gesetzgeber und damit die Politik kommerziellen Datensammlern setzt.

Immerhin könnten aber Bürgerinnen und Bürger nun bei Google nachsehen, ob sie sich bei Street View ungefragt in ihren geschützten Lebensumfeld in einer Situation abgelichtet finden, die ihren höchstpersönlichen Lebensbereich verletzt, um dann den Staatsanwalt gegen Google in Aktion zu bringen. Je mehr Betroffene die Justiz einschalten, um so interessanter dürfte sich zweifellos die Debatte entwickeln. Ein Grund ist nicht nur die bisher vor allem von Datenschützern beklagte Indifferenz der Justiz gegenüber Internet-Delikten. Weit wichtiger sind die bereits im Gesetzgebungsverfahren geäußerten sehr unterschiedlichen Ansichten zur Anwendbarkeit des 201a StGB. Schon bei einer kleinen, über die Republik verteilten Menge von Klagen dürfte das juristische Ergebnis äußerst bunt werden: ein Sieg für Google ebenso wie deren Verurteilung samt Löschungsverfügung oder gar eine Beschlagnahme von Gerät.

Google sollte sich also auf das juristische und wirtschaftliche Risiko von Strafverfahren mit zunächst ungewissem Ausgang einstellen. Aus welchen rationalen Gründen könnte Google das aber in Kauf nehmen wollen? Fehlender juristischer Sachverstand dürfte als Begründung ausscheiden, da Google in Deutschland von eloquenten Juristinnen und Juristen vertreten wird. Nahe liegender ist da schon die juristische Strategie, erst einmal die Anwendbarkeit des Strafparagrafen rundweg zu verneinen, dann Klagen gegen Street View abzuwarten und schließlich den Instanzenweg durch die Gerichtsbarkeit zu nutzen, um die uneindeutige Rechtslage gerichtlich eindeutig klären zu lassen.

Wenn dies wirklich die Strategie bei Google sein sollte – und der Gegenbeweis könnte allein darin bestehen, dass inkriminierbare Bilder gründlich beseitigt sind -, könnte Juristen allerdings auch der Gedanke beschleichen, hier einen vorsätzlichen Willen zum Rechtsbruch zu unterstellen.

Reality-Check

Eine solche juristische Risikostrategie kann aufgehen – ihre politischen Kosten sind jedoch eindeutig: Die Politik in Deutschland hat vor wenigen Jahren einvernehmlich ein explizit formuliertes Gesetz in Kraft gesetzt, das Google jetzt einem Realitätstest aussetzt. Dieses Gesetz ist derzeit außerdem so ziemlich der einzige potentielle und nicht einmal allzu starke Hebel, um rechtlich gegen Google Street View vorzugehen.

Dass Google trotz aller Datenschutz-Debatten im Vorfeld gegen ein vom Bundestag breit unterstütztes Gesetz agiert, ist ein Affront gegen den Gesetzgeber, selbst wenn Google letztlich vor Gericht verlieren sollte. Sollte Google dagegen gewinnen und die politische Absicht der Parteien von einem Gericht zerpflückt werden, hätte das Unternehmen den Gesetzgeber nicht allein herausgefordert, sondern obendrein schwer brüskiert. Eine Blamage des Gesetzgebers und ein Nachsitzen der Fraktionen bei einer deutlich verschärften Gesetzesversion wäre die sichere Folge. Nichts ist ärgerlicher als ein politischer Kompromiss, dessen mangelnde Tauglichkeit bewiesen ist. Google Street View ist also keineswegs ein Thema für das Feuilleton oder die Wirtschaftsseiten, sondern eine politische Kampfansage.

Google treibt also derzeit ein doppeltes Spiel. Neben der Risikostrategie auf juristischer Ebene betreibt Google auf politischer Ebene die gezielte Provokation gegen die Rolle des Gesetzgebers und dessen Anspruch auf Einhaltung von Regeln. Die Reaktionen aus der Politik zeigen, dass die Botschaft angekommen ist und sich der Gesetzgeber ein solches Machtspiel nicht gefallen lassen will. Ob Google juristisch siegt oder verliert ist dabei belanglos. Politisch hat Google heute schon verloren. Wer als Unternehmen ein solches hochpolitisches Machtspiel riskiert, ohne vorher den Versuch einer Abstimmung zu unternehmen, handelt entweder fahrlässig, unwissend – oder aber nach einer Konfrontationsstrategie. Die Zukunft wird zeigen, was davon zutrifft.

Telepolis hat eine Umfrage zum Thema gestartet: Große Aufregung in Deutschland über Google Street View. Hat Google nur das Fass zum Überlaufen gebracht?