"Wir waren nicht dort, um den Irakern zu helfen"

Der US-Kriegsdienstverweigerer und Irak-Veteran Chris Capps über seine Zeit in Bagdad, die laufenden US-Kriege und General Petraeus

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Chris Capps ist ehemaliger US-Soldat und Aktivist der Antikriegsorganisation Irak-Veteranen gegen den Krieg (IVAW). Nach seinem Einsatz in Irak trat er aus der Armee aus. Heute lebt er im hessischen Hanau und ist in der Friedensbewegung aktiv. Im Gespräch mit Telepolis sprach er über seine Erfahrungen auf der US-Militärbasis Camp Victory in Bagdad und die Entscheidung, den Kriegsdienst in Afghanistan zu verweigern.

Sie sind im Frühjahr 2004 in den USA in den Militärdienst eingetreten, also deutlich nach Beginn der beiden laufenden Kriege des Pentagons in Afghanistan und Irak. Was hat Sie damals zu diesem Schritt bewogen?

Chris Capps: Ich habe damals noch bei meinen Eltern zu Hause gewohnt. Ich war 20 Jahre alt und hatte keine Mittel, ein College oder eine Universität zu besuchen. Stattdessen arbeitete ich als Pizza-Lieferant. Kurzum: Meine Zukunftsaussichten waren nicht sehr rosig und ich sah im Militär einfach eine Möglichkeit, Karriere zu machen. Die US-Regierung hilft Kriegsveteranen, sich später universitär weiterzubilden. Anders als in Europa ist diese höhere Bildung für viele Menschen in den USA unerschwinglich. Und selbst wenn ich diese Möglichkeit nicht nutzen würde, dachte ich, dass der Arbeitsmarkt nach dem Einsatz für mich viel besser aussehen würde. Für Veteranen gibt es in den USA eine ganze Reihe von Möglichkeiten: von privaten Militärjobs bis hin zu Arbeitsstellen in Regierungsinstitutionen. Ich war mir damals auch nicht sicher, ob ich im Militär bleiben würde, um mich mit 40 Jahren zurückzuziehen. Ich dachte also ganz einfach, dass dieser Schritt gut für meine Zukunftsaussichten wäre.

Wie haben Sie dann die Ausbildungszeit erlebt? Hat die Aussicht auf einen Kriegseinsatz Ihnen keine Sorge bereitet? Wie sind sie auf den Krieg vorbereitet worden?

Chris Capps: Nach meinem Eintritt in das Militär wurde ich nach Fort Jackson in den US-Bundesstaat South Caroline geschickt, dort wurde ich für den Kampfeinsatz trainiert. Alles in alles war das sehr viel einfacher, als ich erwartet hatte. Aus meiner Kompanie wurde ich für das Sporttrainingsprogramm ausgewählt und bestand mit Auszeichnung in meiner Klasse für die Fernmeldetruppe.

Der Einsatz in Irak spielte keine Rolle?

Chris Capps: Als ich eingetreten bin, dachte ich, dass der aktive Kriegsdienst nur einen kleinen Teil der Truppe betrifft und dass man nur im äußersten Notfall einberufen wird. Von dieser Idee kam ich sehr schnell ab. Eigentlich war schon am ersten Tag meiner Ausbildung klar, dass die Nationalgarde, die Reservistentruppe und Berufssoldaten stark in den Kampfeinsatz eingebunden sind und immer wieder zu Einsätzen mobilisiert werden. Aber besorgt war ich eigentlich nicht. Ich war eher neugierig, wie es wohl sein würde.

Meine Zweifel an diesen Kriegen wurden allerdings auch schon während der Grundausbildung geschürt, denn just zu dieser Zeit kam der Skandal über die Fotos von Gefangenenmisshandlungen in Abu Ghraib auf. Mein Trainingsoffizier machte uns recht schnell klar, dass die Idiotie dieser Soldaten in Abu Ghraib möglicherweise die Rebellen motivieren und US-amerikanische Leben gefährden könnte. Als ich später dann in Irak war, bekam ich mehr von dem Gefängnissystem dort mit.

Sie wurden im November 2005 nach Bagdad entsandt. Wie war der erste Eindruck von dem US-Militärlager "Camp Victory"?

Chris Capps: Nun, vor Ort wurde ich zunächst nicht mit der Aufgabe betraut, für die ich als Fernmelder ausgebildet wurde. Meine Arbeit bestand darin, Glasfaser- und Twisted-Pair-Kabel mit Cisco-Routern zu verbinden. Diese Arbeit war nötig, um eine – das ist wichtig – permanente militärische Telekommunikationsinfrastruktur in Irak aufzubauen. Sie bestand aus zwei Netzwerken, intern als NIPR und SIPR bekannt. Ein weiteres Netzwerk mit dem Namen Centrex kann auch von verbündeten Truppen, etwa den Australiern oder Briten, benutzt werden.

Die klassischen militärischen Funkstrukturen, für die ich ausgebildet war, waren für die Planer offenbar nicht ausreichend. Deswegen wurden alleine in Camp Victory Millionen US-Dollar in die Glasfaser-Netzwerke gepumpt. Ich zweifele daran, dass dieses Geld investiert wurde, um diese Infrastruktur irgendwann an die irakischen Behörden zu übergeben, denen der Betrieb dieser militärischen Kommunikationswegen ja gar nicht erlaubt ist. Alleine diese Aufgabe wies daraufhin, dass Camp Victory auf sehr lange Zeit ausgelegt ist.

"Der ganze Ort dort stank nach Geld und Korruption"

Das hört sich zunächst aber nicht nach einem harten Kampfeinsatz ein. Wie haben Sie das Kriegsgeschehen vor Ort erlebt?

Chris Capps: Von Zeit zu Zeit wurde ich zu Wachdiensten eingeteilt. Dabei musste ich in der Regel Iraker begleiten, aber auch Beschäftigte von den Philippinen, aus Pakistan, verschiedenen Ländern Osteuropas oder Bangladesch, um nur einige zu nennen. Die meisten von ihnen waren direkt von US-Armee eingestellt worden, einige aber auch von Privatfirmen wie Flour, KBR – damals ein Subunternehmen von Halliburton –, Dyncorps oder einem Dutzend weiterer Vertragspartner der Armee. Die US-amerikanischen Angestellten dieser Firmen bekamen mitunter 100.000 US-Dollar pro Jahr steuerfrei. Wie Sie sich vorstellen können, verdienten Angestellte etwa aus Pakistan sehr viel weniger. Zudem wurden sie oft von bewaffneten Kräften wie mir begleitet, weil offenbar befürchtet wurde, dass sie Bombenattentate verüben.

Der Lebensstandard in Camp Victory war im Vergleich zu den irakischen Gebieten im Umfeld unglaublich hoch, wie ich später dann aus Gesprächen erfuhr. Es gab einen PX...

...ein vom Militär betriebenes Kaufhaus...

...einen Burger King, ein Green-Beans-Kaffeeladen, Pizza Hut, Subways und einen Basar. In der enorm großen Kantine gab es Coca Cola und Energy-Drinks, so viel man wollte, Speiseeis und freitags Steak und Hummer. Außerhalb der Basis herrschte Hunger und selbst das externe Personal, das bei uns arbeitete, hatte keinen Zugang zu der Kantine. Offenbar fürchte man Selbstmordanschläge.

Später haben Sie in Reden und Artikeln mehrfach das Thema der Korruption angesprochen. Welche Hinweise haben Sie auf solche wirtschaftlichen Delikte?

Chris Capps: Der ganze Ort dort stank nach Geld und Korruption. Ich erinnere mich an einen Fall, in dem meine Einheit einer Vertragsfirma 20.000 US-Dollar zahlte, um sechs Schächte auszuheben, damit wir Glasfaserkabel verlegen konnten. Die Schächte waren statt der vorgegebenen zwei Meter nur einen Meter tief, der Beton war so porös, dass wir ihn mit den Fingernägeln abkratzen und konnten und die Kunststoffrohre zwischen den Schächten waren zerbrochen. Wir konnten den Auftrag also nicht zu Ende führen, dennoch wurde die Firma bezahlt. Ich glaube sogar, dass sie noch einmal Geld bekommen haben, um das Problem zu lösen.

Eines der größten Probleme in Irak ist die Praxis so genannter Selbstkostenerstattungsverträge bei Vertragsfirmen. Dadurch wird Ineffizienz und Korruption geschürt, weil die privaten US-Firmen gerade angehalten werden, ihre Kosten höher anzusetzen, um einen größeren Gewinn einzufahren.

Nach diesen Erlebnissen in Irak haben Sie die Versetzung nach Afghanistan verweigert. Erklären Sie uns kurz wie es dazu kam.

Chris Capps: Kurz nach meiner Rückkehr auf die Basis in Deutschland wurde meine Einheit aufgelöst und wir wurden in anderen Einheiten untergebracht. Ich gehörte zu denjenigen, die in eine Einheit kamen, die schon wieder ihren nächsten Einberufungsbefehl hatte. Es wären mir demnach nur einige Monate Zeit zwischen meiner Rückkehr aus Irak und meiner erneuten Entsendung nach Afghanistan geblieben.

Wie kam es also diesem Meinungsumschwung?

Chris Capps: Ich hatte nicht das Gefühl, dass sich das Geschehen in Afghanistan sehr von dem in Irak unterschied – und ich hatte wegen meiner Zeit in Irak Schuldgefühle. Ich war ursprünglich schließlich nicht nach Irak gegangen, um ein Unternehmen reich zu machen oder weil ich irgendetwas von dem dort Erlebten gutgeheißen hätte – vom Geheimgefängnis bis hin zum Verhalten des Militärs selbst.

Wir waren ganz offensichtlich nicht dort, um den Irakern zu helfen. Die Einheimischen wurden oft schlecht behandelt, ihnen wurde mit Misstrauen und Furcht begegnet. Die Iraker, mit denen ich gearbeitet habe, waren froh darüber, eine Arbeitsstelle zu haben – auch wenn das bedeutete, dass die außerhalb der Basis ihr Leben riskierten. Deswegen denke ich nach wie vor, dass sie nicht so behandelt hätten werden sollen, wie das geschehen ist.

Sie haben sich dann also gegen eine weitere Karriere in der Armee entschieden. Welchen Ausweg gab es für Sie aus dem Militär?

Chris Capps: Nur sehr wenige. Ich hätte einfach mitmachen und warten können, bis mein Vertrag ausläuft. Das wäre kurz nach meiner Rückkehr aus Afghanistan gewesen, wenn meine Dienstzeit über die so genannte Stop-Loss-Richtlinie nicht zwangsweise verlängert worden wäre. Ich hätte aus Gewissensgründen gegen einen weiteren Einsatz Widerspruch einlegen können, aber das ist ein sehr schwieriger und langwieriger Prozess. Ich hätte eine Verletzung oder eine chronische Erkrankung simulieren können – auch das ist sehr schwer.

Ich habe mich schließlich für die Desertion entschieden. Im US-Militärjargon heißt das AWOL: Absence Without Official Leave. Am Ende wurde ich unehrenhaft aus der Armee entlassen.

In den US-amerikanischen Medien ist zuletzt öfter von solchen AWOL-Fällen zu lesen. Ist das ein zunehmendes Problem für die US-Militärführung? Welche Tendenz haben Sie unter Ihren Kameraden ausmachen können?

Chris Capps: Als ich später in der Kaserne Fort Sill wegen Desertion interniert war, bekam ich wöchentlich vielleicht 40 ähnlicher Fälle mit. Neben Fort Sill kommen Deserteure in den USA nach Fort Knox. Rechnet man das hoch, kann man also davon ausgehen, dass es zu dieser Zeit, 2007, in der Woche 80 Deserteure gab.

Zu den aktuellen Trends kann ich nichts sagen. Ich habe zuletzt keine entsprechenden Statistiken des US-Militärs gesehen, noch habe ich Grund, solchen Daten Glauben zu schenken. Bei meiner Arbeit mit dem Military Counceling Network habe ich aber einen Rückgang der Desertion ausgemacht. Ich kann Ihnen die Gründe dafür nicht nennen, aber die Kameraden, die ich jüngst betreut habe, wiesen Posttraumatische Belastungsstörungen auf und waren deswegen nicht in der Lage oder willens, zurück nach Irak oder Afghanistan zu gehen.

Die Moral der Truppe in Afghanistan ist inzwischen an einem permanenten Tiefpunkt angelangt

Nach der aktuellen Nachrichtenlage wird sich diese Lage kurz- und mittelfristig nicht ändern. US-General David Petraeus, der jüngst wieder das Kommando der US-geführten Truppen in Afghanistan übernommen hat, begann seinen Führungseinsatz mit martialischer Rhetorik. Er werde die Kriegsführung verschärfen. Welche Perspektive sehen Sie für diesen Krieg?

Chris Capps: Meiner Meinung nach ist General Petraeus intelligenter als andere Führungskräfte im US-Militär, weil er sich gewahr ist, dass es in Afghanistan mehr als militärische Kraft braucht, um die Widerstandsbewegung zu bezwingen. Noch im Jahr 2006 war das aber eine weit verbreitete Meinung unter den Offizieren. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich glaube nicht, dass General Petraeus ethischer oder ehrenhafter handelt als andere US-Militärs auf dieser hohen Ebene. Er ist machiavellischer, er hat mehr politisches Verständnis und er ist fähiger als andere, auf einem soziopolitischen Niveau strategisch zu denken.

Sie selbst leben inzwischen im hessischen Hanau und sind in der Veteranenorganisation IVAW (Iraq Veterans Against War) tätig. Wie können wir uns diese Arbeit vorstellen?

Chris Capps: Im Moment plane ich im Rahmen der IVAW-Arbeit eine Tour durch Städte in Deutschland und Norditalien, in denen sich US-Militärbasen befinden. Ich versuche zudem, finanzielle Mittel zu akquirieren, um die Arbeit mittel- und langfristig abzusichern. Seit ich aus der Armee entlassen wurde, habe ich in allen Arten politischer Events teilgenommen: Ich bin auf politischen Aktionen als Redner aufgetreten, habe an Demonstrationen teilgenommen und habe in Schulklassen aufgeklärt. Vor allem aber helfe ich Soldaten im aktiven Dienst, aus der Armee herauszukommen.

Erklären Sie uns bitte den Hintergrund Ihrer Organisation, der IVAW. Welchen Einfluss hat diese Antikriegsorganisation in den USA?

Chris Capps: Die IVAW ist in der Tat vor allem in den USA organisiert. Das Büro in Frankfurt ist derzeit die einzige Außenstelle außerhalb der Vereinigten Staaten. Vor der Wahl von Präsident Barack Obama war die IVAW eine wichtige oppositionelle Stimme gegen die Kriegspolitik der Bush-Regierung in Irak und ihr kam eine Schlüsselrolle in der US-amerikanischen Friedensbewegung zu.

Nach der Wahl von Obama ist die Lage für die Friedensbewegung in den USA schwieriger geworden, obwohl allen klar ist, dass die US-Truppen mindestens bis zum Jahr 2011 in Irak bleiben werden und dass die USA weitgehend unkontrollierte Kriege in Afghanistan und Pakistan führen. Dennoch machen wir weiter und Mitstreitern wie Ethan McCord kam eine wichtige Rolle zu, nachdem das erste Wikileaks-Video veröffentlicht wurde. Wir haben auch eine Kampagne gestartet, um den US-Soldaten Bradley Manning aus der Haft bekommen, der Informationen über die laufenden Kriege an die Presse und auch an Wikileaks weitergegeben hatte. Manchmal wirkt diese Arbeit hoffnungslos, aber wir werden nicht aufgeben. Schließlich haben wir Freunde in den Kriegen verloren, andere sind schwer verletzt worden. Das ist nichts, worüber man einfach so hinweggehen kann.

Denken Sie dennoch, dass die Bewegung der Irak- und Afghanistan-Veteranen einmal einen solchen Einfluss bekommen kann wie die Bewegung während des Vietnam-Krieges?

Chris Capps: Wenn ich mir die Sache pragmatisch ansehe, glaube ich das nicht, obwohl unsere Arbeit deutliche Erfolge hat. Wir schaffen es, der Öffentlichkeit wichtige Informationen zugänglich zu machen und eine Widerstandsbewegung innerhalb der Armee aufzubauen. Wenn wir all das aber mit der Lage während des Vietnam-Krieges vergleichen, so gibt es einen wichtigen Unterschied: Damals gab es ohnehin schon eine massive kulturrevolutionäre Bewegung. Aus dieser Massenbewegung haben die Soldaten Unterstützung erhalten. Zudem wurden tausende junge Menschen gegen ihren Willen in den Krieg geschickt, wo viele von ihnen getötet wurden.

Doch auch angesichts dieser Unterschiede halte ich es nicht für unmöglich. Ich werde jedenfalls meinen Teil dazu beitragen, dass die GI-Widerstandsbewegung in der Armee an Stärke gewinnt. Es gibt einige Aspekte, die uns zugute kommen und die Moral der Truppe in Afghanistan ist inzwischen an einem permanenten Tiefpunkt angelangt. Die wichtige Sache im Moment ist, die Widerstände gegen diese Bewegung innerhalb der Armee ausfindig zu machen und zu beseitigen. Solange die Soldaten trotz alles Unmuts unter Kontrolle gehalten werden können, wird sich die Lage nicht grundsätzlich verändern.