Das Landgericht am Ende des Universums

Hamburger Presserichter verbieten Meinungsäußerung über die Zukunft

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Eine Boulevardzeitschrift hatte aus Anlass von Michael Ballacks Verletzung mit dessen "Karriereende" getitelt. Die Redaktion hielt ihre Einschätzung über Ballacks Karriere für eine Meinungsäußerung, betrifft sie doch die (Nicht-)Zukunft, kann also schwerlich eine in der Gegenwart durch Beweise feststellbare Tatsachenbehauptung sein, ist zudem wertend. Das sah das Landgericht Hamburg anders und verbot dem Verlag die Äußerung.

Auch andere Blätter thematisierten ein mögliches Karriereende des Sportstars. Die Annahme kam aus fachmännischer Sicht nicht von ungefähr, musste Ballack doch auf eine WM-Teilnahme verzichten und spielt in der neuen Saison nicht mehr für den aktuellen englischen Meister FC Chelsea, sondern bei einem Verein mit weniger klangvollem Namen. Vieles spricht für die Annahme, dass Ballack den Zenith seiner ruhmreichen Laufbahn überschritten hat. Ob der Karriereknick wirklich auch das Karriereende ist, kann heute niemand sagen.

Ersichtliche Spekulation fällt eigentlich unter Meinungsfreiheit; auch Übertreibung ist als Stilmittel erlaubt. Selbst das Landgericht Hamburg hielt die Karriereende-Headline ausdrücklich für eine Prognose - aber angesichts der mitschwingenden Behauptung eines Karriereendes eben doch für eine beweisbedürftige Tatsachenbehauptung. Der Außenverteidiger des Verlags fragte den Vorsitzenden Schiedsrichter noch sportlich, was denn die rote Karte bezwecken solle, das Match gewinne man doch spätestens beim Elfmeterschießen ....

Meinungsäußerungen, die Tatsachenbehauptungen sein sollen

Laut Artikel 5 des Grundgesetzes sind Meinungs- und Pressefreiheit gewährleistet. Das gilt für Meinungen, worunter man Werturteile, Schlussfolgerungen, politische Auffassungen, Theorien, Lehren, Vermutungen, Glaubensfragen, Weltanschauungen und jegliche subjektiven Ansichten versteht. Als Musterbeispiel für eine glasklare Meinungsäußerung galt bislang die Einschätzung einer künftigen Entwicklung, denn die Zukunft ist keine in der Gegenwart messbare Tatsache. Prognosen waren daher eine ungefährliche Sache.

Tatsachenbehauptungen hingegen definieren sich über ihre prinzipiell objektive Nachprüfbarkeit. Auch die Verbreitung von Tatsachenbehauptungen wird von der grundgesetzlichen Meinungsfreiheit geschützt, solange sie zutreffend oder im Falle der Unwahrheit für das Ansehen des Betroffenen belanglos sind. Für den Wahrheitsgehalt trägt der Äußernde die Beweislast.

Das Problem beginnt, wenn man eine Meinung über Tatsachen äußert. Meinungen beinhalten typischerweise irgendwelche Ansichten über Tatsachen, enthalten daher häufig indirekte Behauptungen über Tatsachen. Wer entsprechende Meinungen äußert und sich in Reichweite des Landgerichts Hamburg befindet, läuft ständig Gefahr, dass seine Meinungsäußerungen wie Tatsachenbehauptungen gewertet werden, wenn sie einen Tatsachenkern äußern oder auch nur andeuten.

Letzteres wird bereits dann angenommen, wenn eine Äußerung missverständlich ist, also in einer Weise interpretiert werden kann, die dem Betreffenden nicht passt. Im Ballack-Fall diskutierten die Richter auch die Möglichkeit, dass eine Karriere ja nicht auf aktiven Fußball beschränkt sein muss, er könne ja wie Beckenbauer weitere Karrieren machen. Klar kann Ballack noch als Trainer, Kommentator, Werbeträger und Supermarkteröffner machen, aber erwartet jemand ernsthaft eine solche Aussage in einer Titelzeile zur aktuellen Verletzung?

Beweislast beim Äußernden

Da im Presserecht der Äußernde die Beweislast für seine Äußerung über Tatsachen trägt, darf man sich praktisch nur über Dinge äußern, die man selbst beweisen kann, sofern sich ein Betroffener auf den Schlips getreten fühlen könnte. Man kann in Hamburg schnell in die Verlegenheit kommen, den "Wahrheitsgehalt" seiner Meinung beweisen zu müssen. Meint man zum Beispiel, ein Bundeskanzler färbe sich die Haare, was aus Sicht einer erfahrenen Kosmetikern altersbedingt nicht unwahrscheinlich ist, so wird diese Einschätzung nach Hamburger Logik als Tatsachenbehauptung angesehen und verboten, da niemand außer dem Kanzler den Beweis für eine Färbung bringen könnte.

Hamburger Gerichte, die manchmal sogar Eier nicht von Äpfeln unterscheiden können, werde nicht selten von der Karlsruher Gerichten zurückgepfiffen, wenn sie Meinungsäußerungen wie Tatsachenbehauptungen handhaben, doch muss man sich hierfür durch die Instanzen klagen.

Wenn nun in Hamburg schon Meinungsäußerungen über die Zukunft verboten werden, so fragt sich, wohin das führen soll - falls man insoweit noch Prognosen anstellen darf. Nur gut, dass das Wetter kein Persönlichkeitsrecht besitzt, denn sonst hätte Kachelmann bei einer unerwünschten Prognose schon wieder Probleme! Ein hohes Risiko gehen politische Kommentatoren ein, denn die Vorhersage eines Wahlgewinns wäre eine Persönlichkeitsrechtsverletzung des Verlierers, dessen Wahlverlust insinuiert würde.

Vielleicht hat ja Orakel-Krake Paul mit seinen Fußballprophezeiungen deshalb aufgehört, weil der als Tierhalter haftende Besitzer den Zorn sensibler Balltreter fürchtet. Gut möglich, dass das Weichtier sein Herrchen vor entsprechender Zukunft gewarnt hat.

"Rechtsstandort Hamburg e.V."

"Warum immer wieder Hamburg?" fragt man sich insbesondere in der IT-Welt, die der Weltfremdheit hanseatischer Rechtsauslegung bisweilen fassungslos gegenübersteht. Darüber Theorien anzustellen, ist nicht ganz ungefährlich, weil diese Tatsachenbehauptungen enthalten könnten...

Aber mal unter uns: Es gibt für Stadtväter durchaus ein Interesse, Gerichtsverfahren für Kläger örtlich besonders attraktiv zu machen. Denn solche Häufungen sind auch ein Wirtschaftsfaktor, etwa für die sich am entsprechenden Ort ansiedelnde Anwaltschaft. Ferner werden bei entsprechend häufiger Nachfrage Kammern mit Spezialzuständigkeiten gebildet und neue Richterstellen geschaffen. Man munkelt, dass Fälle mit Spezialmaterie beim Arbeitsanfall pro Richter mehr zählen, sodass diese glücklichen Spezial-Richter weniger Akten bearbeiten müssten, als konventionelle. Im Presserecht wiederum werden die meisten Verfahren durch einstweilige Verfügungen erledigt, bei denen oft nur das beantragte Verbot nach kurzem Überfliegen der Antragsbegründung ins Diktiergerät gesprochen werden muss, was den Arbeitsaufwand auch überschaubar macht.

Wie sehr sich die Hanseaten über herbeipilgernde Streithähnen freuen, beweist die im Juni 2009 erfolgte Gründung des honorigen Vereins "Rechtsstandort Hamburg e.V.", der die Hansestadt insoweit aufwerten möchte. Zu den Gründungsmitgliedern des Vereins zählen u.a. die Hamburgische Notarkammer, der Präsident der Hanseatischen Rechtsanwaltskammer, der Vorsitzende des Hamburgischen Anwaltsvereins sowie der Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Hamburg. Auch der Senat der Stadt Hamburg ist beigetreten. Vielleicht erklärt ja die Anwesenheit der damaligen Bundesministerin Zypries bei den Gründungsfeierlichkeiten, warum die Petition gegen den fliegenden Gerichtsstand sang- und klanglos verhallt ist. Versuche des Autors dieser Zeilen, ebenfalls in den illustren Zirkel aufgenommen zu werden, wurden bislang vornehm ignoriert.

Während es für manche Themen sinnvoll ist, eine besondere Gerichtsbarkeit zu konzentrieren, etwa den in Hamburg befindlichen Internationalen Seegerichtshof, so stehen faktische Spezialzuständigkeiten, die aufgrund klägerfreundlich eingestellter Gerichte entstanden sind, naturgemäß in der Kritik. Pächtern von Tankstellen etwa schreiben die Konzerne durchweg Hamburg als Gerichtsort in den Verträgen vor - Pächter, friss oder stirb. Wer im Presserecht etwas verbieten will, etwa Ballack dem Verleger der Zeitschrift, der bittet dank des fliegenden Gerichtsstands nach Hamburg, wo im Medienbereich die schärfsten Urteile gesprochen werden. Die Zunahme von Internetfällen am Landgericht Hamburg, die früher von der Pressekammer bearbeitet wurden, führte tatsächlich vor zwei Jahren zur Einrichtung einer neuen Kammer, die möglicherweise noch strenger urteilt und sich daher zweifellos steigender Beliebtheit erfreuen wird.

"Pre-Crime-Standort Hamburg e.V."

Wie wird es in Hamburg weitergehen? Da das Landgericht Hamburg nach Stand der Forschung keine eigenen Persönlichkeitsrechte wahrnimmt, darf insoweit noch spekuliert werden. Wie ist künftig die Beweislastverteilung vorzunehmen, da bei Äußerungen über die Zukunft ja niemand den Beweis oder Gegenbeweis führen kann? Kann es richtig sein, dass aufgrund der bisherigen Beweislastverteilung jeder eine ihm unangenehme Prognose über die Zukunft verbieten lassen kann, ohne irgendwelche Beweismittel oder Indizien aufzufahren?

Wie aus gut unterrichteten Kreisen um Okrakel Paul und führende deutsche Hellseher kolportiert wurde, steht nunmehr die Gründung des Vereins "Pre-Crime-Standort Hamburg e.V." bevor, in dem sich Mentalisten zu einer Pressure Group zusammenschließen, um eine Spezialzuständigkeit für Gedankenverbrechen und Zukunftsverbrechen nach Hamburg zu holen. Geplant ist die Zusammenarbeit mit zu Pre-Crime-Cops ausgebildeten Wahrsagern, die dann aufgrund richterlicher Anordnungen und einstweiligen Verfügungen präventiv auch gegen Gedankenverbrecher vorgehen.

Das jüngste Gericht zum jüngsten Gerücht

Doch nun sickerte durch, dass man das Problem technisch lösen möchte, denn es kann eigentlich nur eine Methode geben, zuverlässig den Wahrheitsgehalt über die Zukunft zu beurteilen: Aus der Zukunft selbst! So wird derzeit unter strengster Geheimhaltung in einer Hamburger Werft am derzeit kühnsten Projekt auf dem Gebiet der Rechtspflege gearbeitet, nämlich dem "Gericht am Ende des Universums". Man möchte eine zum Gerichtssaal umfunktioniertes Raumstation in einer versiegelten Zeitkapsel in die Zukunft schicken. Einige Richter haben sich bereit erklärt, sich unter Anleitung Gunther von Hagens kryogefrieren zu lassen, um am Tage des jüngsten Gerichts geweckt zu werden und die richterliche Tätigkeit aufzunehmen. Denn erst dann, wenn es keine Zukunft mehr gibt, kann darüber befunden werden, ob der Verlauf falsch eingeschätzt wurde. Ab der Apocalypse wird es nur noch Vergangenheit geben, die von Google automatisch archiviert sein wird. Dann können die Richter etwa überprüfen, ob Papa Ballacks Prophezeiung einer "Wiederauferstehung" eingetroffen ist.

Die Hamburger Zeitreisenden sind optimistisch, dass in den kommenden Millionen Jahren eine Technologie gefunden werden wird, um die "Zukunftskammer" in einer Zeitblase zu sichern, damit sie das Ende des Universums überlebt. Insbesondere die bisweilen lange Verfahrensdauer soll auf diese Weise aufgefangen werden. Die Zukunftsrichter sollen dann die gesicherten Erkenntnisse über die Vergangenheit mit Prognosen vergleichen und ihre Urteile mit einer weiteren, bislang ebenfalls noch nicht erfundenen Zukunftstechnologie wieder in die Gegenwart zurücksenden, damit die Urteile vollstreckt werden können. Statt eine eigene Kantine zu betreiben, wird insoweit über die Mitnutzung des "Milliways" verhandelt, dem Restaurant am Ende des Universums.

Eine erste dieser aus der Zukunft zu sendenden Informationen ist aufgrund eines Zeitparadoxons schon in der Gegenwart eingetroffen: So wird aus der Zukunft die gesicherte Tatsache berichtet, dass die Ballack-Entscheidung des Landgerichts Hamburg keinen Bestand haben wird.