Nach der Utopie: Der Teufel möglicherweise

Performance

Das psycho-sexuelle Labor des Dr. Cammell - Teil 2

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Teil 1: Performance, einer der aufregendsten Filme der Sixties, wird 40. Donald Cammell, ohne den er nicht entstanden wäre, hat er wenig Glück gebracht.

Colin McCabe, Autor eines schönen Buches über Performance, erinnert an die alte Hollywood-Weisheit, dass man, um einen erfolgreichen Film zu schaffen, deren fünf machen muss: den Film, für den man das Drehbuch schreibt; den Film, den man besetzt; den Film, den man dreht; den Film, den man schneidet; und den Film, den man ins Kino bringt. Ein Drehbuch war geschrieben, die Rollen waren erfolgreich besetzt worden. Jetzt befanden sich Cammell und Roeg auf Etappe Nr. 3: den Dreharbeiten, die zu den legendärsten und skandalumwittertsten der Filmgeschichte gehören.

Tohowabohu mit Badewanne

Meistens reicht ein kurzes Nachdenken, um mit einiger Wahrscheinlichkeit zwischen Dichtung und Wahrheit unterscheiden zu können. Beschwerden der Nachbarn, die wie bei Performance die Polizei rufen, weil sie sich gestört fühlen, gibt es bei an Originalschauplätzen gedrehten Filmen oft; sie sind kein Beleg dafür, dass da Orgien gefeiert wurden. Der Drogenkonsum im Haus am Lowndes Square dürfte erheblich gewesen sein (vor allem Haschisch). Von Anita Pallenberg und Michèle Breton ist bekannt, dass sie ein Suchtproblem hatten. Aber die Erzählungen des Lieferanten Tony Sanchez (Up and Down With the Rolling Stones), denen zufolge die Akteure geradezu in Drogen schwammen, sind sicher maßlos übertrieben.

Cammells Filme sind so intensiv, weil er die Darsteller bis an ihre Grenzen treibt (und manchmal darüber hinaus). So etwas kann nur funktionieren, wenn der Regisseur die Kontrolle behält und für einen reibungslosen Ablauf der Dreharbeiten sorgt. Cammell und Roeg waren äußerst diszipliniert und effizient. Sie überschritten die vorgesehene Drehzeit um etwa sieben Tage, das Budget um 10 Prozent. Beides hielt sich durchaus im üblichen Rahmen. Nach 12 Wochen waren sie fertig. Mit Leuten, die dauernd zugedröhnt sind, wäre das unmöglich gewesen. Schockierend an Performance war, mit welcher Selbstverständlichkeit die Charaktere Drogen konsumieren, statt das sensationalistisch aufzubauschen. Aber in der Spritze, die sich Pallenberg in einer berüchtigten Einstellung setzt, waren Vitamine, kein Heroin.

Improvisation ist kein Synonym für Kontrollverlust. Die Kontrolle hatten nur die Warner Brothers verloren, nicht Cammell und Roeg. Die Legende vom großen Tohowabohu und vom Film, bei dem keiner wusste, was er tat, entstand im Vorführraum. Einige Abgesandte von Ken Hyman, Warner-Produktionschef in London, kamen täglich nach dem Mittagessen und ließen sich die Muster des Vortags zeigen, wobei sie – David Cammell zufolge – bald eindösten. Üblicherweise wird bei solchen Veranstaltungen eine sinnvoll zusammengestellte Auswahl des belichteten Filmmaterials vorgeführt. Der unerfahrene (und später ausgetauschte) Cutter bestand aber darauf, alles zu zeigen, was im Laufe des Tages mit zwei Kameras gedreht worden war. Das konnten bis zu zweieinhalb Stunden sein. Anfangs scheint das die verwirrten Warner-Leute vor allem ermüdet zu haben. Dann gerieten sie in helle Aufregung, weil plötzlich Turner mit Pherber und Lucy in der Badewanne saß.

Performance

Hyman erhielt die Nachricht, dass da ein paar sexbesessene Dilettanten einen Film machten, den man nicht ins Kino bringen konnte. Die Dreharbeiten mussten für einige Tage unterbrochen werden. Hyman besuchte dann erstmals den Set und soll furchtbar erschrocken sein, weil Jagger einen bisexuellen Eindruck auf ihn machte. Lieberson gelang es trotzdem, seinen Freund Ken soweit zu beruhigen, dass Cammell und Roeg weitermachen konnten. Nächster Stein des Anstoßes war Turners Doppelbett. Im Labor, das die Negative entwickelte, arbeitete die als sehr prüde bekannte Mrs. Bloggins. Als sie die Muster von Jagger und den anderen im Bett zu sehen bekam, schlug sie Alarm.

Performance

Lieberson und David Cammell mussten zum Labor kommen, wo ihnen der Firmenchef eröffnete, dass er das Filmmaterial nicht herausgeben könne, weil er damit gegen das Gesetz zur Verbreitung obszöner Publikationen verstoßen würde. Nach einigen Verhandlungen durften die beiden das Labor mit dem Negativ verlassen (durch den Hinterausgang). Vorher mussten sie dabei zuschauen, wie der Firmenchef das Positiv mit Hammer und Meißel zerstörte. Der Rest des Films wurde im Technicolor-Labor entwickelt. Dort gab es keine Mrs. Bloggins und keine weiteren Beanstandungen.

Bei den Warner Brothers war man seit dem Eklat rund um Turners Badewanne davon überzeugt, mit der Produktion von Performance einen schweren Fehler begangen zu haben. Dem fertigen Produkt begegnete man in der Führungsetage daher voller Voreingenommenheit. Die Filmgeschichte ist voller Meisterwerke, die unter solchen Umständen irreparabel beschädigt wurden. Im Fall von Performance kam kurioserweise ein Film dabei heraus, der vermutlich besser ist als das, was von den Machern ursprünglich abgegeben wurde.

McCabe weiß noch genau, mit welchem Gefühl der Befreiung er Performance sah, als der Film im Januar 1971 endlich in London gestartet wurde. Das ging nicht allen so. 1969 war das Jahr, in dem die dunkle, gewalttätige Seite der Swinging Sixties offensichtlich wurde. In den USA wurden Charles Manson und seine okkulte Hippie-Sekte wegen des Mordes an Sharon Tate festgenommen. Beim Stones-Konzert in Altamont starben vier Menschen, einer wurde erstochen. Und in England fand der Prozess gegen die Kray-Zwillinge statt, der einen Abgrund an Korruption und Verbrechen offenbarte. Performance hat etwas Prophetisches und wirkte auf manche Betrachter daher so, als hätten die Macher versucht, sich opportunistisch anzuhängen und die Gewalt auszubeuten, obwohl der Film bereits 1968 entstanden war. Vielleicht wäre er gnädiger aufgenommen worden, wenn sich der Kinostart nicht so sehr verzögert hätte.

Der widerwärtigste Film überhaupt

In Großbritannien war noch weitgehend dieselbe Kritikergeneration aktiv wie vor zehn Jahren. Sei es, weil sie sich mit ihren Hasstiraden über Michael Powell und Peeping Tom langfristig verausgabt hatten, sei es, weil ein von heimischen Talenten mit Geld aus Hollywood gemachter Film lokalpatriotische Gefühle weckte: die Kritiker von der britischen Mainstream-Presse blieben vorsichtig distanziert, gingen aber insgesamt viel freundlicher mit Performance um als ihre amerikanischen Kollegen. Diese schrieben schlimme Verrisse. Richard Schickel nannte Performance im Magazin Time den „ekelhaftesten, den in seiner Gesamtheit wertlosesten Film, den ich gesehen habe, seit ich Kritiker bin“. Andrew Sarris von der Village Voice ließ seine Leser wissen, dass Performance, wenn Filme einen Geruch hätten, furchtbar stinken würde, dies aber wenigstens auf originelle Weise. Sogar der Filmexperte des Rolling Stone fand Performance ganz fürchterlich, kleidete seine Ablehnung aber in verquaste Sätze wie diesen: „Eines der Attribute des Bösen ist seine Hässlichkeit, und auf einer Ebene ist das ein sehr hässlicher Film.“

Die New York Times gab sich weltoffen und diskussionsbereit, indem sie zuerst eine negative und eine Woche später eine positive Besprechung veröffentlichte. Das war nicht fair, sondern heuchlerisch. Die meisten Kinos hatten den Film schon wieder abgesetzt, als die Times-Leser erfuhren, dass er doch sehenswert sein könnte. Den Verriss (Überschrift: „Der widerwärtigste Film überhaupt“) steuerte John Simon bei, der Chefkritiker des Blattes. Sein Fazit: „Man muss kein Drogensüchtiger, Päderast, Sado-Masochist oder Schwachkopf sein, um Performance zu genießen, aber es hilft, wenn man eines oder mehrere von diesen Dingen ist.“ Vordergründig waren es der Sex, die Gewalt und die Drogen (und natürlich die unterstellte „Unverständlichkeit“), an denen sich die Kritiker störten. Die Erfahrung lehrt aber, dass das oft nur der Aufhänger ist, dass die tieferen Gründe für die Ablehnung anderswo zu finden sind.

Cecil Wilson, Kritiker der britischen Daily Mail, empörte sich darüber, dass Mick Jagger über weite Strecken des Films aussehe wie Brigitte Bardot. Das klingt abstrus, kommt der Sache aber näher, als es Herrn Wilson wohl bewusst war. Performance ist, was man durchaus bemängeln kann, nicht frei von männlichem Voyeurismus. Aber der Film nimmt auch das tradierte Bild von der Maskulinität auseinander und setzt es so wieder zusammen, dass sich der Unterschied zwischen den Geschlechtern verwischt und liebgewordene, weil Sicherheit verheißende Grenzziehungen nicht mehr möglich sind. Von der Grenzaufhebung betroffen ist auch – ganz im Sinne von Artauds „Theater der Grausamkeit“ – das Publikum. Einen Film, der zwischen Fiktion und Wirklichkeit changiert, dessen Darsteller innerhalb eines vorgegebenen Rahmens ihre eigenen, realen Beziehungen ausagieren, kann man nicht so selbstgefällig-distanziert sehen wie einen, wo die Akteure Szenen aus einem vorher geschriebenen Drehbuch nachspielen. Wiederherstellen lässt sich die verlorene Distanz durch Ekelbekundungen. Performance, schrieb Chefkritiker Simon, habe ein neues Genre begründet: das des „widerwärtigen Films“.

Performance

Mitte Oktober 1968 waren die Dreharbeiten zu Performance beendet. Wie es dann weiterging, ist wieder der Stoff für Legenden. Hier die wahrscheinlichste Version: Im Februar 1969 flogen Cammell, Roeg und Lieberson mit einem Rohschnitt des Films nach Los Angeles, um ihn den Geldgebern zu präsentieren. Die Vorführung war ein Desaster. In den Anekdotenschatz der Filmgeschichte ging ein Satz von Ken Hyman ein, der gesagt haben soll, dass sogar das Wasser in Turners Badewanne schmutzig sei. Performance wäre vermutlich in einem Lagerhaus gelandet und heute verschollen, wenn die Warner Brothers 1969 nicht an ein Firmenkonglomerat namens Kinney National Services verkauft worden wäre, das dank der zum Imperium gehörenden Parkplätze und Bestattungsinstitute über sehr viel Geld verfügte.

Die neuen Warner-Chefs, Ted Ashley und John Calley, standen Performance reserviert gegenüber, genehmigten aber die Mittel, um den Film fertigzustellen. Im Juli fand in Santa Monica ein Preview statt. Solche Testvorführungen sind wichtig, weil die Reaktion des Publikums abgefragt wird. Die Resultate dienen dem Studio als Entscheidungsgrundlage dafür, wie es weiter mit einem Film verfahren soll. Inzwischen gibt es mehr oder weniger sinnvolle Kriterien für die Auswahl der Zuschauer. Damals war das weitgehend dem Zufall überlassen. Das Granada-Kino war ein Dritt- oder Viertverwerter. Durchschnittsbürger mittleren Alters, die gelegentlich ins Kino gingen, sahen dort Filme, die anderswo längst gelaufen waren. Die Wahrscheinlichkeit, im Granada auf Freunde des innovativen, experimentellen Films zu treffen, oder wenigstens auf junge Leute oder gar Fans der Stones, war eher gering. Im Juli 1969 stand Midnight Cowboy auf dem Spielplan (ein halbes Jahr nach dem Kinostart). Anschließend wurde Performance gezeigt.