Odyssee am Frauenplan

Goethehaus am Frauenplan. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-N0827-0014). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Am 28. August wäre Goethe 261 Jahre alt geworden. Aber vielleicht ist er auch gar nicht tot. Ein Rundgang durch sein Haus in Weimar

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Das Haus am Frauenplan 1. Von außen wirkt es wie eine süßliche Idylle, die sonnige Fassade Platz beherrschend hingefläzt hinter einem sprudelnden Brünnlein. Doch die behagliche Kulisse trügt. Hier fanden einst Tiefbohrungen statt, bodenlos, riskant, ergiebig bis heute. Nicht nur für Sonntagsreden pensionierter Studienräte, sondern auch für Geologen, Biologen, Astrophysiker. Goethes Einfluss auf die Kunst war gewaltig. Sein Einfluss auf die Wissenschaft ist es noch heute.

Der Museumsshop am Eingang seines Hauses ist eine Zumutung. Ein Hauch von Disneyland: Postkarten, Tassen, Büstn, Topflappen, T-Shirts. Der Geheimrat würde sich im Grabe umdrehen – aber nur, um besser sehen zu können. Er liebte den großen Auftritt, ein Meister der Inszenierung, nicht nur im Theater. Dies Haus war seine Bühne.

Aufwändig ließ Goethe den Zentraleingang umbauen, um besser Hof halten zu können. Die Stufen hinauf das Begrüßungsmosaik: SALVE. Ein Erkennungs- zeichen des Bildungsbürgertums, das diese Grußworte gern auf Fußabtretern vor ihrer Wohnungstür platziert.

Bild: Max A. Lizenz: CC-BY-SA-2.0

Ein Salon reiht sich an den nächsten, Tiefblicke als Imponiergehabe: Großes Sammlungszimmer, Majolikazimmer, Deckenzimmer, Junozimmer, Urbinozimmer. Dies hätte die Kulisse für einen Kubrick-Film abgeben können, wäre die kreiselnde Raumstation im Science Fiction-Klassiker "2001 – Odyssee im Weltraum" im 18. Jahrhundert zwischengelandet. Statt einer Antwort immer neue Fragen, statt fester Standpunkte immer neue Abgründe.

Sammlungszimmer. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-22807-0999). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die Zimmerflucht im Vorderhaus ist eine bildungsbürgerliche Bühne, eine Wunderkammer des Wissens. Heute kommen die Räume fast karg daher. Damals ist das anders, Goethe ist ein süchtiger Sammler, alles ist voll gestellt mit Skulpturen und Gemälden, Mineralien, Büchern, Möbeln, Souvenirs. Er sammelt 18.000 Steine, 9000 Grafiken, 4500 Gemmenabgüsse, 8000 Bücher, dazu Gemälde, Plastiken, Manuskripte, das meiste Kopien – für Originale fehlen ihm Geld und Sinn. Wer braucht schon Originale, wenn eine Kopie die Seele ebenso berührt. Piratebay und Google Books, Multitasking und Morphing, all das würde ihm sofort einleuchten.

Goethes Haus ist angelegt als Forschungsmuseum, Privatakademie, Institute for Advanced Study. Auf dem Flügel im Junozimmer spielt der jugendliche Felix Mendelssohn. Der Salon als Weltausstellung im Kleinen. Antike und Tagespolitik, Exotik und Provinz sind hier auf kleinstem Raum versammelt. Er ist ein leidenschaftlicher Leser des Koran, fordert statt einer Nationalliteratur eine Weltliteratur und postuliert im "West-Östlichen Diwan": "Wer sich selbst und andere kennt / Wird auch hier erkennen: / Orient und Okzident / Sind nicht mehr zu trennen".

Goethes Salon ist ein gesellschaftliches Ereignis. Hier tafeln Fürsten und Denker, Geologen und Dichter, Botaniker und feine Damen. Im Zentrum steht der Mensch, ist Goethes Maxime. Oft ist er es selbst, der im Mittelpunkt steht. Intellektuelle reisen aus ganz Europa an, um ihn zu treffen. Da es noch keine Fernleihe gibt zu seiner Zeit, kein Internet, müssen Salons wie die seinen herhalten als Kommunikationszentrale. Man liest sich Gedichte und diskutiert über den Zwischenkieferknochen, man spielt Theater und streitet sich über die Natur des Lichts. Ein gutes Argument, ein treffendes Bild, von irgendjemand in die Runde geworfen, taucht später oft in Goethes Gedichten oder Aufsätzen auf. Von wem etwas ist, wen kümmert’s, Plagiarismus, who cares. Ein Gräuel für heutige Urheberrechtsschützer und Patentanwälte. Manchmal weiß er selbst nicht mehr, ob ein Gedicht von ihm stammt oder nicht. Goethes Salon ist eine Sensation: Entertainment und Experiment, Forschung und Show. Diese Bühne steht im Vordergrund des Gebäudeensembles. Aber auch das ist natürlich wieder nur die halbe Wahrheit. Tür um Tür geht es weiter.

Seine Rolle als Doktor Faustus inszeniert er im vorderen Teil des Hauses, Wissen, Klarheit, Respektierlichkeit. Doch auch Mephisto ist präsent, die Nachtseite. Er liebt das intellektuelle Risiko. "Die Wahlverwandtschaften", der Roman einer Affäre zweier Paare überkreuz, ist angelegt wie ein erotisches Experiment, ein Skandal ersten Ranges. Goethe ist Spieler, die Behäbigkeit des Hauses nur Fassade. Die Wunderkammern des Wissens im Frauenplan sind Theater und Labor zugleich.

Er ist Amateur im emphatischen Sinne, die Wissenschaft seine erste große Liebe. Leidenschaftlich wendet er sich gegen Plutonisten wie James Hutton, den britischen Nestor des Fachs. Die Plutonisten glauben, dass Granit und Basalt aus tief liegenden Schmelzzonen im Innern der Erde stammen, dem Reiche des Unterweltgottes Pluto. Goethe nimmt die überwältigenden Beweise seiner Gegner zur Kenntnis, bleibt aber Neptunist: Nicht Feuer, sondern Fluten formen die Felsen, glaubt er. Und liegt damit immer wieder falsch, zum Beispiel beim vulkanischen Basalt. Er bemüht sich um die Wiederaufnahme des Bergbaus im nahen Ilmenau – und scheitert auch dabei. Auch das schreckt ihn nicht ab – ihm geht es um mehr, ums Große und Ganze. Eigenwillig verfolgt er so etwas wie die Physik komplexer Systeme. Er setzt auf Gesamtschau, auch wenn er bei den Details daneben liegen mag:

Ein Jahrhundert, das sich bloß auf die Analyse verlegt und sich vor der Synthese gleichsam fürchtet, ist nicht auf dem rechten Wege; denn nur beide zusammen, wie Ein- und Ausatmen, machen das Leben der Wissenschaft.

Der Streit ums Licht: wieder so ein Schauboxen ums Grundsätzliche. Als Widersacher sucht er sich erneut einen britischen Wissenschaftsstar aus: Isaac Newton. Der hatte hundert Jahre zuvor einen weißen Lichtstrahl mit Hilfe von Prismen zerlegt in einzelne Primärfarben. Goethe dagegen beschreibt in seiner "Farbenlehre" das Licht als sinnliche Erfahrung mit Wirkung auf die Seele. Dafür wird er heute oft belächelt. Dabei liegt er eigentlich nicht falsch, sondern nur anders. Newton beschreibt die Physik, Goethe die Physiologie. Aber er überreizt sein Blatt im theatralischen Duell mit einem Toten. Der Tote gewinnt, Goethe gilt heute in diesem Punkt als widerlegt.

Die Bibliothek, dahinter das Arbeitszimmer. Nach der Überfülle der Salons überrascht hier die Schmucklosigkeit. Ein karger Raum, grün gestrichen, weder Sofa noch Gardinen, ein Stehpult, drei Schreibtische. Dann das Schlafzimmer: noch einfacher. Ein Bett, eine große Tabelle über Tonlehre an der Tür, daneben eine geologische Zeittafel. Neben dem Fenster der Lehnstuhl, in dem er 1832 stirbt. Er gestikuliert mit der Hand und ruft: "Licht, mehr Licht!"

Arbeitszimmer. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-67941-0003). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Mehr Licht: Das Treppenhaus hinab, raus in den Garten. Ein träger Augustnachmittag, schwer vom Blütenduft. Für den Geheimrat ist der Garten wie seine Romane, seine Ehe, seine Salons, sein Leben: ein Labor. Mit Kapuzinerkresse stellt er Keimversuche an für sein Buch "Die Metamorphose der Pflanzen". Der Garten ist ruhig. Er gilt als Nebenschauplatz der Weltlitera- tur im Schatten der Salons im Vorderhaus. Doch eigentlich ist er das Zentrum.

Mehr Licht, hier suchte Goethe es. Hier studierte er das Knospen, Blühen und Vergehen. Nichts ist, wie es war, nichts bleibt, wie es ist. Er sucht nach der Urpflanze, nach dem Urphänomen des Werdens und Vergehens. Er sucht nach Urtier, Urmensch, Urphänomen. Seine Studien zum Zwischenkieferknochen, der sich beim Menschen über die Jahrtausende verändert hat, ist für ihn der Beleg: "Der Mensch gehört mit zur Natur!" Der Mensch ist denselben Naturgesetzen wie die Tiere unterworfen, wie alles Lebende. Damit ebnet Goethe den Weg für die Evolutionstheorie. Das zumindest glaubt der Physiker Hermann von Helmholtz.

Goethe im Garten: Er spricht nicht von "Umwelt", sondern von "Mitwelt". Der Mensch als Teil des Gesamtsystems Erde, als prägend und geprägt. Das klingt heute fast wie ein Vorgriff auf die Klimadebatte. Jeden Morgen studiert er das Wetter, fertigt Skizzen von den Wolken an, verfasst eine "Witterungslehre".

Im Küchengarten studiert Goethe Pflanzen – und Sterne. Im Februar 1800 stellt er hier einen "Siebenfüßer" auf, ein Teleskop mit einem über zwei Meter langen Tubus aus Mahagoni und einer zweihundertfachen Vergrößerung. Er schreibt an seinen Freund Friedrich Schiller: "Um sieben Uhr, da der Mond aufgeht, sind Sie zu einer astronomischen Partie eingeladen, den Mond und den Saturn zu betrachten; denn es finden sich heute Abend drei Teleskope in meinem Hause."

Gartenhaus, in welchem Goethe eine Steinsammlung einrichtete. Bild: Deutsches Bundesarchiv (Bild 183-67941-0012). Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Nachts stehen sie zwischen Spargel, Löwenzahn, Topinambur, Rapontica, Pastinake und beobachten den Mond: "Es erregt die merkwürdigsten Gefühle, wenn man einen so weit entfernten Gegenstandt so nahe gerückt sieht, wenn es uns möglich wird, den Zustand eines 50.000 Meilen von uns entfernten Körpers mit so viel Klarheit einzusehen." Im April lädt er Schiller erneut zu einer astronomischen Partie ein. Er hat einen Frauenplan: "Es war eine Zeit, wo man den Mond nur empfinden wollte, jetzt will man ihn sehen. Ich wünsche, dass es recht viele Neugierige geben möge, damit wir die schönen Damen nach und nach in unser Observatorium locken."

Ein kleines, barockes Gartenhaus: die mineralogische Sammlung. Das Herzstück des Museums - und daher verriegelt. Die über 160.000 jährlich eintreffenden Besucher würden die Sammlung nur durcheinanderbringen. Die Mineralogie war damals schwer in Mode, seit Goethe mit seiner Liebe zum "öden Steinreich" halb Weimar ansteckte.

Ein dämmriger Raum voller Holzschränke, Schachteln, eng beschriftet mit Fundort und Name. Quarz und Glimmer, Granit und Kalk: Über 18.000 Steine sind hier versammelt. Nichts ist vor seiner romantischen Weltsicht sicher, selbst Mineralien sieht er als Teil des Lebens an: "Ich fürchte den Vorwurf nicht, dass es ein Geist des Widerspruchs sein müsse", schreibt er, "der mich von Betrachtung und Schilderung des menschlichen Herzens, des jüngsten, mannigfaltigsten, beweglichsten, veränderlichsten, erschütterlichsten Teiles der Schöpfung, zu der Beobachtung des ältesten, festesten, tiefsten, unerschütterlichsten Sohnes der Natur geführt hat."

Beim Basalt und beim Licht mag Goethe danebenliegen – und dennoch im geistigen Zentrum des naturwissenschaftlichen Aufbruchs. Alexander von Humboldt, der berühmteste Weltreisende seiner Zeit, hat Werke Goethes immer im Gepäck. 1806 schreibt er in einem Brief:

In den Wäldern des Amazonenflusses wie auf dem Rücken der hohen Anden erkannte ich, wie von einem Hauche beseelt von Pol zu Pol nur ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Tieren und in des Menschen schwellender Brust. Überall ward ich von dem Gefühle durchdrungen, wie mächtig jene Jenaer Verhältnisse auf mich gewirkt, wie ich, durch Goethes Naturansichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war.

Wie Paläontologen, die versteinerte Knochen studierten, um das Leben urzeitlicher Tiere zu rekonstruieren, kartieren Astronomen heute die fossile Hintergrundstrahlung, den Nachhall des Urknalls. Mit fliegenden Weltraum-Teleskopen vermessen Astrophysiker heute das Werden und Vergehen von Galaxien, die Geburt von schwarzen Löchern und den Sternentod. All das erscheint wie eine Fortsetzung von Goethes Vision einer atmenden, sich wandelnden Mitwelt. Selbst Albert Einstein hat mit derlei Dynamik anfangs Probleme. Er ist zunächst ein überzeugter Anhänger eines statischen Universums – und somit ein entschiedener Gegner eines aus einem Uratom gewachsenen Kosmos, wie ihn die Urknalltheorie annimmt. Erst 1930 lässt sich Einstein umstimmen und beschreibt die Hypothese eines Urknalls als schönste und beste Erklärung der Entstehungsgeschichte des Alls.

"Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen", schreibt Friedrich Nietzsche. Doch hier irrt der Dichter. Die Meldung von Goethes Ableben ist maßlos übertrieben, sein Sterbestuhl überbewertet. Goethes Odyssee im Weltraum hat gerade erst begonnen: Sein Forschungsprogramm läuft weiter, auch ohne ihn.

Spurenelemente seines Denkens finden sich jede Woche in der Zeitung: Sterngeburten und Sternentod, Epigenetik und Klimawandel. Die Wissenschaftszeitschrift "Nature" verdankt ihren Namen einem Gedicht von Goethe. Darin schreibt er über die Natur:

Ihr Schauspiel ist immer neu, weil sie immer neue Zuschauer schafft. Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben.

Ein Fenster ist halb geöffnet. Draußen auf dem Kiesweg im Garten knirschen Schritte. Als könnte der Geheimrat jederzeit hereinschneien.

Sein Wissenschaftstheater am Frauenplan schafft sich immer neue Zuschauer. In der Mineraliensammlung zum Beispiel liegt ein Stein, der Goethes Namen trägt, ein rötlich schimmerndes Brauneisenerz, das pflanzenähnlich anmutende Rosetten bilden kann und nur in Zusammenhang mit Wasser entsteht. Im Jahr 2004 untersuchen Weltraum-Geologen das All mit Hilfe der Raumsonde "Spirit" – Geist. Und finden dies wässrige Mineral auch auf dem Mars: Goethit.

Leicht gekürzter Nachdruck aus Mekkas der Moderne - Pilgerstätten der Wissensgesellschaft.
Von "Bild der Wissenschaft" nominiert als "Wissenschaftsbuch des Jahres 2010"