Deutschland und Japan als Konjunkturüberraschung dieser Dekade?

Ganz ausgeschlossen scheint die Annahme des Staranalysten Martin Wolf von der Financial Times tatsächlich nicht zu sein

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Bevor Wolf sich zu dieser doch überraschenden Prognose durchringt, gönnt er sich in seinem Blog noch eine kleine Abrechnung mit der "konservativen Konterrevolution", die vor dreißig Jahren mit Ronald Reagan und Margaret Thatcher begonnen hatte und laut Wolf "ziemlich sicher" mit der aktuellen "Great Recession" beendet sei.

Die in den Statistiken ersichtlichen konjunkturellen Vorteile der USA und Großbritanniens gegenüber Japan und Deutschland, die mit Liberalisierungen, Privatisierungen und Steuersenkungen begründet worden waren, seien demnach durch fragwürdige Entwicklungen erzielt worden. Erstens hätte "die Expansion des Finanzsektors und die damit verbundene Verschuldung der Haushalte in der Wirtschaft der USA und Großbritanniens eine zu große Rolle gespielt und es sei die Frage, inwieweit das aus diesen verbundenen Entwicklungen resultierende Wachstum eine Illusion ist:

Der Finanzsektor kreiert Geld und Kredit nicht nur um an sich selbst und an eine Heerschar an Maklern und Agenten Gebühren zu zahlen, sondern auch um Baubooms zu finanzieren.

Martin Wolf

Voraussichtlich werde die nächste Dekade in den USA und Großbritannien nun aber sowohl im Finanzsektor wie bei den Haushalten von Schuldenabbau geprägt sein, während die Bereitschaft, dafür die Schulden des öffentlichen Sektors hochzufahren, an seine politischen oder ökonomischen Grenzen stoße. Die Kombination dieser Faktoren lasse also befürchten, dass die Performance dieser Länder nun ein wenig wie in Japan in den 1990er Jahren aussehen werde, dass von chronisch schwacher Nachfrage geprägt war (sieht man einmal von Japans Exporten ab).

Damit verbunden hätten die substantiellen Leistungsbilanzdefizite in diesen Ländern ein Schrumpfen der kapitalintensiven industriellen Produktion zugelassen, so dass die beiden Staaten trotz relativ niedriger Investitionen in Realkapital relativ stark hatten wachsen können. Auch dieser Prozess werde sich in der nächsten Dekade umkehren und Ersparnisse und Investitionen müssten nun laut Wolf substantiell ansteigen, allein um das aktuelle Wachstumsniveau zu halten. Geschehe dies nicht, würde sich das Wachstum indes noch weiter abschwächen.

Durch die Spekulationsblasen sei also die zugrundeliegende Wirtschaftsleistung der USA und der Briten überschätzt worden und deshalb müsse die nächste Dekade eben Deutschland und Japan gehören, wobei Wolf seine weiterführende Begründung leider auf die Aussage beschränkt, dass es eine gute Regel sei, dass Unerwartete zu erwarten.

Bubbles induce severe over-estimates of underlying economic performance. Will the same prove true of the US and UK? I would guess so. Might the next decade belong to Germany or Japan, instead? That would not surprise me either. Expect the unexpected. It is a good rule.

Martin Wolf

Allerdings hat Wolf schon öfter recht behalten, und wer nicht aus Frustration über die laufenden politischen Fehlleistungen und Unterlassungen ohnehin nur das Schlechteste erwarten will, könnte tatsächlich ein Paar Gründe dafür finden, warum die jüngsten Konjunkturerfolge Deutschlands mehr sein könnten, als ein kurzes technisches Zurückzucken nach den massiven Exporteinbrüchen während der Krise.

Viel hängt vor allem von China ab

Wolfs Szenario dürfte jedenfalls einen anhaltenden Aufholprozess in großen Emerging Markets wie China, Indien und Brasilien voraussetzen, die nun weiter wachsende Absatzmärkte für deutsche und japanische Produkte bieten müssten, um Wolfs Erwartungen zu erfüllen. Die Rohstoffexporteure, die ebenfalls als Kunden in Frage kommen, könnten immerhin davon profitieren, dass der steigende Ressourcenbedarf der aufstrebenden bevölkerungsreichen Staaten mit den vielen zur Neige gehenden billigen Rohstoffquellen zusammentrifft. Stark fallende Rohstoffpreise dürften also allenfalls im Zuge schwerer Weltwirtschaftskrisen und bei entsprechender Finanzmarktpanik zu sehen sein und auch dann nur vorübergehende Erscheinungen sein. Insofern könnte zumindest aus diesen Ländern mit einer stabilen Nachfrage zu rechnen sein, was wohl weniger auf die konkurrierenden Industrieländer zutrifft, die bisher gegenüber Deutschland und Japan hohe Leistungsbilanzdefizite aufweisen und nun an ihre Finanzierungsgrenzen stoßen, allen voran Griechenland, Spanien und Portugal.

Letztlich wird für das gesamte internationale Umfeld aber entscheidend sein, ob China es schafft, sich halbwegs krisenfrei durch die nächste Dekade zu lavieren. Die Erfahrung der Vergangenheit lässt dabei hoffen, dass es China auch weiterhin gelingt, selbst mit schweren ökonomischen Verwerfungen fertig zu werden. Immerhin hatte China Ende der 1990er Jahre den ruinösen Abwertungswettlauf der damaligen asiatischen Tigerstaaten während der Asienkrise nicht mitgemacht. Nach einer durchaus schweren eigenen Kreditblase musste die Pleite einer Reihe von staatsnahen Fonds (die "GITIC-Krise") verkraftet werden. Dennoch hat China die als minimal angesehenen Wachstumsraten von um die acht Prozent halten können.

Motivation, für stabile Wachstumsverhältnisse zu sorgen, ist dabei wohl ausreichend vorhanden. Denn in politischen Kreisen herrscht, wie es heißt, fast schon traditionell die Angst, dass ein Rückfall der Wachstumsrate unter fünf Prozent dafür sorgen könnte, dass das gesamte politische System samt Einheitspartei vom Volkszorn hinweggefegt werden könnte. Aber selbst wenn die 40-prozentige Schuldenexpansion des Vorjahres absehbare Abschreibungen zur Folge haben werden, und/oder Immobilienpreise und Aktienbörsen kollabieren, ist der chinesischen Regierung zuzutrauen, dennoch für stabiles Wachstum zu sorgen, was dann aber nicht unbedingt auch für die internationalen Märkte gelten muss.

Auch die demographische Entwicklung in Deutschland könnte zur Konjunktur beitragen

Klar bleibt, dass Japan und Deutschland in der letzten Dekade eher von depressiver Stimmung, allgemeinem Unbehagen und relativ rückläufigen Arbeitseinkommen geprägt waren, als von euphorischen Spekulationsblasen. Auch die betriebswirtschaftliche Mode, möglichst alle einfachen Fertigungen in Billiglohnländer auszulagern, ist inzwischen weitgehend abgeebbt, was mittelfristig auf Arbeitsmarkt und Einkommen durchschlagen könnte. Zweifellos haben deutsche und japanische Industriebetriebe zuletzt wesentlich mehr Realkapital aufgebaut, so dass sie jetzt über Produktionskapazitäten verfügen, mit denen sie die Nachfrage der Emerging Markets nach Luxusgütern und nach industrieller Ausrüstung besser erfüllen können als die USA und Großbritannien.

Letztendlich kann man mit ein wenig gutem Willen sogar der in Deutschland und Japan durchaus bedrohlichen Bevölkerungsdynamik positive Aspekte abgewinnen. Hier sollte man sich wohl zuerst einmal klar machen, dass das makroökonomisch relevante Verhältnis nicht Jung gegen Alt ist, sondern jenes zwischen denen die arbeiten, und jenen, die nicht arbeiten.

Offenbar führt die Überalterung der Gesellschaft derzeit zu ungedeckten Verpflichtungen des Pensions- und Gesundheitssystems, die im Umlagesystem von einer höheren Erwerbsquote der Frauen, geringerer Arbeitslosigkeit und der weiteren Anhebung des durchschnittlichen Pensionsantritts abgefangen werden muss und bei schwächerer wirtschaftlicher Entwicklung kaum ohne Rationierungen im Gesundheitssystem ausgeglichen werden können.

Andererseits sollten die Baby-Boomer mit dem Pensionsantritt damit beginnen, die angesammelten Ersparnisse auszugeben, was zu einem strukturellen Absinken der Sparquote, einem tendenziell höheren Innlandskonsum und steigenden Importen führen könnte - und genau das ist für viele Ökonomen ja die wichtigste Voraussetzung, um die internationalen Ungleichgewichte ins Lot zu bekommen. Freilich dürfte die Spendierfreudigkeit der Pensionisten dadurch eingeschränkt werden, dass sie inzwischen mit dreißig, vierzig weiteren Lebensjahren kalkulieren müssen und wohl zurecht befürchten, vielleicht einmal einen erheblichen Pflegeaufwand selbst finanzieren zu müssen. Dazu kommt, dass angesichts stagnierender Einkommen immer mehr Menschen schon froh sein können, wenn sie nicht als Nettoschuldner in Rente gehen, während die besonders Reichen tendenziell ihre Vermögen nicht aufbrauchen sondern bis zuletzt vermehren und dann vererben.

Wolfs Vermutung dürfte indes auch von den jüngsten Konjunkturstatistiken beflügelt worden sein. So ist das einzige Argument, dass US-Ökonomen noch gegen einen baldigen weiteren Rückfall der USA in die Rezession vorbringen können, dass dafür in der Regel ein "schwerer Schock" erforderlich sei. Indes hängt nicht nur der US-Häusermarkt schwerer in den Seilen denn je, auch der Außenhandel zeigt wieder bedenkliche Entwicklungen. So konnten die USA ihre Exporte im 2. Quartal zwar um 9,1 Prozent steigern, die ohnehin fast doppelt so hohen Importe schossen jedoch um 32,4 Prozent in die Höhe, so dass der Außenhandel das US-BIP um 4,45 Prozentpunkte reduziert hat. Damit nicht genug gingen auch die langfristigen Investitionen, die im ersten Halbjahr noch kräftig angezogen hatten, im Juli erstmals wieder zurück, was sich zuletzt darin ausdrückte, dass wichtige Kapitalgüterproduzenten wie Cisco von einer "ungewöhnlichen Unsicherheit" unter ihren Kunden sprechen.

Japan, dass nun seit bald drei Jahrzehnten unter dem Platzen seiner gewaltigen Blase leidet, wäre wohl tatsächlich längst fällig für einen ökonomischen "Rebound", anscheinend steht dem aber noch immer einiges an verkrusteten Strukturen entgegen. Immerhin ist es vor gut einem Jahr zum ersten politischen Machtwechsel seit dem 2. Weltkrieg gekommen, was ein Zeichen dafür sein könnte, dass endlich auch Japan wieder in Bewegung kommt. Vorerst kämpft Japan aber mit schwacher Innlandskonjunktur, fallenden Preisen und dem höchsten Stand des Yen zum Dollar seit 15 Jahren, was die erste Intervention der Notenbank am Devisenmarkt seit 2004 immer wahrscheinlicher macht.