Sozialdarwinismus wird hoffähig

Medienhype. Alle Bilder: Silvio Duwe

Die Präsentation von "Deutschland schafft sich ab" trifft auf Protest

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Wer vor der Bundespressekonferenz spricht, der hat etwas Gewichtiges mitzuteilen. Thilo Sarrazin hat den Ort für seine Buchvorstellung bewusst gewählt. Die Nähe zu dem Saal, in dem drei Mal in der Woche die Regierungspressekonferenz stattfindet, soll seinen Aussagen eine besondere Bedeutung verleihen. Was Sarrazin zu sagen hat, ist wichtig für das Wohl und Wehe der gesamten Republik – das soll ankommen in den Köpfen der Journalisten und vor allem auch in den Köpfen der Bundesbürger.

Dabei hat Sarrazin nichts Ernstzunehmendes mitzuteilen. Das ist nicht neu. Neu hingegen ist, dass er seine platte Weltsicht auf gut 400 Seiten in Buchform niederschreibt, und dabei auch noch gute Chancen hat, einen Bestseller zu landen. Auf Amazon jedenfalls steht sein Buch "Deutschland schafft sich ab" schon jetzt auf Platz 1.

Dirk Stegemann: Sprecher von "Bündnis Rechtspopulismus stoppen" und Mitglied VVN-BdA Berlin

Während sich im Haus der Bundespressekonferenz die Journalisten drängen und teilweise gar nicht mehr hineingelassen werden können, formiert sich draußen Protest gegen die Buchpräsentation. Es könne nicht sein, dass in der Bundespressekonferenz einem Rassisten Platz eingeräumt werde, so Dirk Stegemann, Sprecher des Aktionsbündnis Rechtspopulismus Stoppen, das zu der Demonstration aufgerufen hatte. Scheinbar habe der DVA-Verlag Rassismus und Sozialdarwinismus als Verkaufsargument für sich entdeckt, und in Bild sowie dem Spiegel willentliche Vollstrecker gefunden, so Stegemann. Auch Kenan Kolat, Vorsitzender der türkischen Gemeinde, ist empört. Einem NPD-Funktionär hätte die Presse nicht so viel Aufmerksamkeit gewidmet.

Demonstranten vor der Bundespressekonferenz

Drinnen zeigt sich Markus Desaga, der Sprecher der DVA, derweil verwundert und überrascht von den Reaktionen, die es schon vor Erscheinen des Buches gab. Ein leises Glucksen geht durch den Raum, wirklich glauben mag ihm niemand. Sarrazin, so Desaga, sei einer, der es auf sich nehme, auf unangenehme Fragen unbequeme Antworten zu geben. Er hoffe auf eine Versachlichung der Debatte, da das Buch nun erschienen ist und daher gelesen werden kann.

Markus Desaga, Pressesprecher DVA

Unterstützung erhält Sarrazin auch von der Autorin Necla Kelek, die Sarrazin dafür lobte, mit der These "Viel hilft viel" aufgeräumt zu haben. Auch mit seinen Ausführungen zur Vererbbarkeit von Intelligenz hat sie keine Probleme. Dass "Ethnien wie die Völker Anatoliens oder Ägyptens, die über Jahrhunderte von Osmanen daran gehindert wurden, lesen und schreiben zu lernen, in denen Mädchen noch heute nicht zur Schule gehen dürfen, andere Talente vererbt bekommen als die Söhne von Johann Sebastian Bach", sage doch schon der gesunde Menschenverstand.

Necla Kelek: Autorin und Soziologin

Märtyrer für die Wahrheit

Thilo Sarrazin selbst lud derweil alle ein, seine Behauptungen zu widerlegen. Dabei sind wesentliche Teile davon schon jetzt – mit guten Gründen – in der Kritik. So zeigt eine Studie, dass die Bildungsmotivation auch in türkischen Familien, anders als von Sarrazin behauptet, durchaus hoch ist. Ebenso als widerlegt kann gelten, dass sich die Muslime in der Geburtenzahl auch nach mehreren Generationen nicht an den deutschen Durchschnitt anpassen. Auf dieser Behauptung basiert jedoch Sarrazins "Analyse" der Bevölkerungsentwicklung, mit der er Angst vor Überfremdung schüren will.

Dabei geht es in Sarrazins Buch, das erwartungsgemäß für einen Sturm der Entrüstung sorgt, weniger um eine ernsthafte und sachliche Debatte zu einem wichtigen Thema, sondern vor allem um Provokation. Und nicht zuletzt versucht sich Sarrazin zu einem Aufrechten, einen Märtyrer für die Wahrheit zu stilisieren, der, von politisch korrekten Gutmenschen umgeben, "Tatsachen" ausspricht, für die er immer wieder zu Unrecht Prügel einstecken muss.

Sarrazin gibt sich friedlich

Es habe ihn "trotz aller Erfahrung […] sehr verblüfft", welche Wirkungen seine Aussagen über "Kopftuchmädchen produzierende" türkische Frauen oder seine wertvollen Ernährungshinweise für HartzIV-Empfänger hätten, schreibt Sarrazin im Vorwort zu seinem Buch. Dabei habe er doch nur " elementare Lebenszusammenhänge knapp und klar auf den Punkt" gebracht (Sarrazin nicht allein zu Haus).

Mit seinem Hinweis, dass man statt zu heizen auch schlicht einen Pullover anziehen könne, habe er nur zeigen wollen, dass "Eigenverantwortung und Selbstbestimmung möglich" seien. Sarrazin hat wohl auf ein herzliches Dankeschön und einen Strauß Blumen gehofft, stattdessen wurde er aber von "hasserfüllten Mails" erschreckt – das Leben ist ungerecht zu einem Aufrechten wie Sarrazin.

Es gehört zum Standardrepertoire eines jeden Demagogen, sich zum Opfer eines mächtigen Gegners zu stilisieren. Sarrazin sieht sich als Opfer der Medienmacht, ausgeübt von den "politisch Korrekten", die Verfechter der Wahrheit wie ihn "politisch gefährlich" leben lassen. Eben aus Angst vor dieser Medienmacht flüchteten sich die meisten Spitzenpolitiker ins Seichte. Auch allgemeine Politikerschelte darf nicht fehlen, immerhin will doch der Stammtisch gewonnen werden. Doch schon wenn es um die Diktatur der Medien geht, widerlegt Sarrazin sich selbst und schreibt im Nachwort seines Buches freimütig, dass er von der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) sogar zu diesem Buch angeregt wurde. Nach seinem Lamento im Vorwort hätte man vermuten können, dass es wesentlich schwerer gewesen wäre, unterdrückte Wahrheiten an den Mann zu bringen. Aber zumindest im Hause Bertelsmann, zu dem die DVA gehört, geht es in dieser Beziehung wohl recht freiheitlich zu.

Kenan Kolat: Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland

Deutschland wird nach Sarrazin dümmer und muslimischer

Das Tabuthema, das Sarrazin vorgibt anzusprechen, ist weder neu noch originell aufbereitet. Streng genommen enthält das Buch keine Aussage, die nicht schon in der einen oder anderen Form in einem Interview mit ihm aufgetaucht ist. Mal wieder geht es Sarrazin um die Unterschicht und die ungebildeten Migranten, insbesondere die Muslime. Von dort gehen laut Sarrazin "Gefährdungen und Fäulnisprozesse im Inneren der Gesellschaft" aus.

Die sarrazinsche Argumentationslinie ist trivial und schnell erzählt: Intelligenz ist in den verschiedenen gesellschaftlichen Schichten ungleich verteilt. Die Menschen in den oberen Schichten sind besonders intelligent, weshalb sie auch den Aufstieg geschafft haben. In den unteren Schichten hingegen tummeln sich die Dummen, wobei die Muslime besonders hoffnungslose Fälle darstellen. Zudem sei Intelligenz erblich, und zwar zu 50 bis 80 Prozent. Da sich vor allem die Unterschichten, und hier insbesondere die Muslime, deutlich "fruchtbarer" sind als die Oberschichten, die sich mit dem Gebären eher zurückhalten, wird Deutschland immer dümmer und vor allem: immer muslimischer. Dieses Problem jedoch würde ignoriert und der Blick auf Unwesentliches gelenkt:

Wir nehmen als unvermeidlich hin, dass Deutschland kleiner und dümmer wird. Wir wollen nicht darüber nachdenken, geschweige denn darüber sprechen. Aber wir machen uns Gedanken über das Weltklima in 100 oder 500 Jahren. Mit Blick auf das deutsche Staatswesen ist das völlig unlogisch, denn beim gegenwärtigen demografischen Trend wird Deutschland in 100 Jahren noch 25 Millionen, in 200 Jahren noch 8 Millionen und in 300 Jahren noch 3 Millionen Einwohner haben. Warum sollte uns da das Klima in 500 Jahren interessieren, wenn das deutsche Gesellschaftsprogramm auf die Abschaffung der Deutschen hinausläuft?

Thilo Sarrazin Deutschland schafft sich ab

Dass der Intelligenzquotient eine umstrittene Größe ist und auch von den äußeren Bedingungen abhängt, spielt für Thilo Sarrazin keine große Rolle. Zudem sollte Sarrazin eigentlich wissen, dass Prognosen über die Bevölkerungsentwicklung in den nächsten 300 Jahren weniger mit Wissenschaft denn mit Wahrsagerei zu tun hat, immerhin ist es kaum sinnvoll, die Entwicklung der Geburtenzahl in den letzten Jahrzehnten einfach in die Zukunft zu projizieren. Zu viele Faktoren spielen eine Rolle, neben den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen etwa die Verfügbarkeit von Rohstoffen und eben auch die Veränderung der Umwelt aufgrund des Klimawandels.

Geld für Bildung statt Propaganda

Einschluss in der Festung Europa

Doch Sarrazin ist ein Freund der einfachen Rechnung und der plakativen Aussagen. So meint er gar Parallelen zwischen der Situation in der heutigen Bundesrepublik und dem Römischen Reich ausgemacht zu haben. Dieses sei ein Opfer der "Dekadenz und Geburtenarmut der ehemals führenden Schichten" und einer viele Jahrhunderte dauernden "Islamisierung des Orients" geworden. Folgerichtig fordert Sarrazin eine rigide Zuwanderungskontrolle, denn "ungesteuerte Zuwanderung konnte zu jeder Zeit staatliche Gebilde gefährden und die Stabilität einer Gesellschaft unterminieren."

Dass die Europäische Union mit Frontex bereits ein hoch militarisiertes System der Flüchtlingsabwehr betreibt (Europas Borderline) und die so genannte Drittstaatenregelung, die sogar Verfassungsrang genießt, zahlreiche Flüchtlinge an einer Einreise nach Deutschland hindert, erwähnt Sarrazin mit keinem Wort: Es würde seiner These, Europa und Deutschland schotteten sich nicht genug ab, schließlich auch zuwiderlaufen. Stattdessen greift er die Medien an, die über Missstände in der Flüchtlingspolitik berichten. Diese würden häufig nach dem Motto "piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb" berichten, was unhistorisch und albern sei.

Während die Muslime in der Lage sind, ganze Imperien zu Fall zu bringen, sieht Sarrazin in der Kombination "von christlicher und weltlicher Herrschaft bei reduzierter Staatlichkeit" ab 1000 n. Chr. Freiräume erwachsen, welche beispielsweise die Entdeckung des heliozentrischen Weltbildes ermöglicht hätten. Dass die Freiräume nicht groß genug waren, um offen das Dogma der Erde als Mittelpunkt des Universums in Frage zu stellen, verschweigt Sarrazin hingegen.

Kein Sex mit Nazis: Hilft laut Sarrazin wahrscheinlich auch, die Verbreitung rechtsextremer Gene zu verhindern

"Entleerung der unteren Schichten von intellektuellem Potential"

Diese einseitige Betrachtungsweise durchzieht das ganze Buch. Thesen oder einzelne Fakten werden in den Raum gestellt, ohne sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Für Sarrazin gibt es nur schwarz oder weiß. Alle Zwischentöne werden, wo immer möglich, ausgeblendet. Sie passen nicht in das Weltbild des Thilo Sarrazin.

So schreibt Sarrazin, dass das Land Berlin relativ hohe Pro-Kopf-Ausgaben für Bildung hat, im Vergleich mit Bundesländern, die weniger Geld für Bildung ausgeben, aber trotzdem schlechtere PISA-Ergebnisse habe. Mehr Geld, so seine Schlussfolgerung, sorgt nicht für bessere Ergebnisse. Das ist so zwar richtig, aber noch lange kein konstruktiver Beitrag zur Frage, wie man die Bildungschancen von sozial Schwachen verbessern kann. Auf eine vergleichende Analyse zwischen der Bevölkerungsstruktur und der Effektivität der Bildungsausgaben verschiedener Länder verzichtet er vollständig – ein Zeichen dafür, dass es Sarrazin nicht um die Suche nach Lösungsmöglichkeiten, sondern um Schuldzuweisungen geht. Das betrifft nicht nur Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter, sondern auch die Erwachsenen:

Dagegen sollten Fortbildung und Umschulung nicht mehr im Mittelpunkt der Ertüchtigungsbemühungen für Empfänger von Grundsicherung stehen. Alle Untersuchungen weisen nämlich darauf hin, dass solche Maßnahmen bei dieser Zielgruppe keine belegbaren nennenswerten Beschäftigungseffekte auslösen.

Thilo Sarrazin

Die Frage nach den Ursachen für dieses Problem stellt Thilo Sarrazin gar nicht erst, was wohl suggerieren soll, dass es nur an den Menschen selbst liegen kann. Auf die Idee, dass die Weiterbildungsangebote der Arge nicht immer die notwendige Qualität haben und so nur der Verbesserung der Arbeitslosenstatistik dienen, kommt der Bundesbanker nicht. Für ihn ist die Unterschicht sowieso schon lange abgeschrieben, der Genpool degeneriert. Denn bereits seit dem 19. Jahrhundert sei die deutsche Gesellschaft immer durchlässiger geworden, "auffallende Hochbegabungen" hätten damals in Preußen bereits die Möglichkeit bekommen, das Gymnasium zu besuchen. "Das bedeutet aber, dass die Entleerung der unteren Schichten von intellektuellem Potential bei uns weiter fortgeschritten ist als in Gesellschaften, deren Durchlässigkeit sich erst später entwickelte."

Demonstranten vor der Bundespressekonferenz

Warum sich Sarrazin immer noch als Sozialdemokrat versteht und partout nicht aus der SPD austreten möchte, bleibt wohl sein Geheimnis. Zwar ist sozialdemokratisches Gedankengut spätestens seit der Agenda 2010 auch in der SPD selten geworden, so weit nach rechts wie der ehemalige Berliner Finanzsenator hat sich aber keiner der Genossen bisher gewagt. Frei nach dem Motto: "Sozial ist, was Arbeit schafft", fordert Sarrazin die Arbeitslosen auf, jede Arbeit, unabhängig vom Lohn, anzunehmen. Durch das Transfersystem könne man ja notfalls noch aufstocken, und "zudem ist es immer noch besser, zu einem niedrigen Lohn zu arbeitet als gar nicht zu arbeitet [sic!]– und zwar für die Volkswirtschaft wie für die Betroffenen", wie Sarrazin in holprigem Deutsch verkündet. Mit diesem Programm wäre er besser in der FDP aufgehoben.

Die Lösung, die Sarrazin vorschlägt, ist erwartungsgemäß radikal und erinnert an ein Zuchtprogramm für einen höherwertigen Typus Mensch.

Jeder Hunde- oder Pferdezüchter lebt davon, dass es große Unterschiede im Temperament und im Begabungsprofil der Tiere gibt und dass diese Unterschiede erblich sind. Das heißt auch, dass manche Tiere schlichtweg wesentlich dümmer oder wesentlich intelligenter sind als vergleichbare Tiere ihrer Rasse.

Thilo Sarrazin

Was für Hunde und Pferdezucht gilt, muss auch für Menschen richtig sein. Immerhin würden neben "speziellen Neigungen und Gewohnheiten […] sicher auch allgemeine Intelligenz, Mut, bösartiges und gutartiges Temperament usw. vererbt", was auch in fast jeder Familie zu beobachten sei, wie Sarrazin Charles Darwin zitiert. Da das generative Verhalten der Deutschen seit Mitte der 60er Jahre keine "Darwinsche natürliche Zuchtwahl im Sinne von 'survival of the fittest'" sei, sondern eine negativ gesteuerte natürliche Selektion, muss gegengesteuert werden.

Demonstranten vor der Bundespressekonferenz

Zuchtprogramm für die deutsche "Oberschicht"

Neben dem sofortigen Einwanderungsstopp aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten sind somit Maßnahmen zur Familienförderung, die insbesondere die Oberschicht als Träger der Intelligenz zur Fortpflanzung animieren, notwendig. Dazu schlägt Sarrazin eine Art Gebärprämie in Höhe von 50.000 Euro für jedes vor dem 30. Lebensjahr geborene Kind vor, allerdings nur "für jene Gruppen, bei denen eine höhere Fruchtbarkeit zur Verbesserung der sozioökonomischen Qualität der Geburtenstruktur besonders erwünscht ist".

Zudem soll jedes Kind die Steuerbelastung der zugehörigen Familie senken – eine Maßnahme, die vor allem auf Besserverdiener abzielt und Familien, die hart arbeiten, jedoch trotzdem keine Steuern zahlen müssen, außen vor lässt. Jenen, die auf die Grundsicherung angewiesen sind, möchte der Sozialdemokrat Sarrazin sogar noch die Sätze für die Kinder kürzen, denn ein Paar ohne Kinder, so rechnet der Finanzexperte Sarrazin vor, konsumiere monatlich im Durchschnitt für 2.398 Euro, ein Paar mit Kind(ern) jedoch 422 Euro mehr. Da es im Schnitt bei jenen Familien, die überhaupt Kinder haben, zwei Kinder gebe, schließt Sarrazin auf einen Mehrbedarf von 422 Euro für zwei Kinder. Die Grundsicherung für diese beiden Kinder betrage jedoch 644 Euro – Kinder sind laut Sarrazin also eine Einnahmequelle, da man mehr erhalte, als man brauche.

Sarrazin vergisst jedoch in seiner Rechnung, dass eine normal verdienende Familie durchaus in der Lage ist, bei ihren Ausgaben Einsparungen zugunsten des Kindes vorzunehmen, das Geld also quasi innerhalb der Familie umverteilen kann. Zudem werden Geldgeschenke an Normalverdiener auch nicht vom Lohn abgezogen, wie dies bei Hartz IV-Sätzen üblich ist. Die Mehrausgaben des Durchschnittsverdieners sagen also über den Mehrbedarf des Kindes nichts aus, da sie nicht zeigen, wo und in welcher Höhe zur Kompensation Einsparungen vorgenommen wurden. Auch hier versucht Sarrazin, mit einer unzuverlässigen Vereinfachung Stimmung zu machen auf Kosten der sozial Schwachen. Die Oberflächlichkeit und damit auch die Verzerrung der Realität scheint er dabei bewusst in Kauf zu nehmen, immerhin gab er gegenüber der Süddeutschen Zeitung selbst zu, mit erfundenen Zahlen zu argumentieren.

Thilo Sarrazin geht es wohl in erster Linie um den Aufschrei, den er immer wieder gezielt herbeiführen kann. Und ein wenig geht es ihm auch um die Wiederherstellung einer Bundesrepublik, die längst Geschichte ist. Das wird deutlich, wenn er von seiner Schulzeit spricht und seine "Lesekarriere" schildert, nicht ohne zu erwähnen, dass seine Familie weder Radio noch Fernseher besaß. Diese heile Welt, in der moderne Medien keine Rolle spielen, wünscht sich Sarrazin zurück. Unumwunden schreibt Sarrazin, dass die Ganztagsschule die beste Methode sei, das "Übermaß an Medienkonsum zu begrenzen", durch welches vor allem die bildungsfernen Schichten benachteiligt würden. Von Medienkompetenz ist in seinen Ausführungen nirgends etwas zu lesen – Thilo Sarrazin ist offenbar im Gestern steckengeblieben. Ebenso lässt sich auch seine Einstellung den Muslimen gegenüber erklären.

Ich möchte, dass auch meine Urenkel in 100 Jahren noch in Deutschland leben können, wenn sie dies wollen. Ich möchte nicht, dass das Land meiner Enkel und Urenkel zu großen Teilen muslimisch ist, dass dort über weite Strecken türkisch und arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird. Wenn ich das erleben will, kann ich eine Urlaubsreise ins Morgenland buchen.

Thilo Sarrazin

An anderer Stelle schreibt Sarrazin, Dänen sollten auch in 100 Jahren als Dänen unter Dänen, Deutsche als Deutsche unter Deutschen leben können, wenn sie dies wollen. Hier wird klar, dass es Sarrazin nicht nur um Muslime geht, vielmehr spricht hier die Angst vor dem Fremden, nur schwach verdeckt von dem Argument, die kulturellen Eigenarten der Völker sollten doch bitte bewahrt werden. Diese Xenophobie lässt den großen Denker Sarrazin, der als Kind schon, unter einem Goetheportrait sitzend, die "Große Illustrierte Weltgeschichte" studierte, manchmal die großen Zusammenhänge aus den Augen verlieren.

Der Mainstream der Klimaprognosen geht davon aus, dass die Temperatur in Mitteleuropa in den nächsten 100 Jahren um zwei bis vier Grad steigen wird. Der Meeresspiegel der Nordsee wird bis dahin um 10 bis 20 Zentimeter gestiegen und das Leben in Mitteleuropa klimatisch angenehmer sein. Ein Teil der an Heizkosten gesparten Beträge muss allerdings in den Deichbau investiert werden.

Thilo Sarrazin

Die Frage, ob seine Nachfahren noch in einem Deutschland leben, in dem die Menschen sich als Deutsche fühlen, sei ihm wichtiger als der Anstieg der Nordsee um 10 oder 20 Zentimeter, so Sarrazin. Dabei ist beides untrennbar miteinander verbunden – aber derartige Zusammenhänge sind eben nicht jedermanns Sache.

Und so gilt, nicht erst seit diesem Beitrag von Thilo Sarrazin zur Debatte um Muslime und Hartz IV-Empfänger: "Verfall und Gefährung [sic!] sind schon lange nicht mehr zu übersehen."