Die neue Zuchtwahl

Ob Arbeitslose oder Migranten: Wie aus der die bürgerlichen Mitte Sozialrassismus wieder hoffähig gemacht wird

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"Es handelt sich in der Geschichte um das Leben und immer nur um das Leben, die Rasse, den Triumph des Willens zur Macht, und nicht um den Sieg von Wahrheiten, Erfindungen oder Geld", schreibt 1923 Oswald Spengler in "Der Untergang des Abendlandes".1 Darin entwirft er das Bild einer organischen Struktur der Geschichte, in der Völker und Kulturen aufblühen und wieder vergehen. Er schreibt von der "Heraufkunft des Cäsarismus", der die Diktatur des Geldes und "ihrer politischen Waffe, der Demokratie", breche. Es handele sich um den "letzten Kampf", dem "zwischen Geld und Blut".

Oswald Spengler und sein Geschichtsentwurf sind eine Stimme in dem gesellschaftlichen Raunen aus der Mitte des Bürgertums, das der Ersetzung des "jüdischen Zinsknechtschaft" durch "deutsche Blutsbande" nach 1933 voranging. Dieses Raunen und Rufen aus der bürgerlichen Mitte galt den Inhalten der zeitgenössischen Ideologien und in ihnen ist viel von Zuchtwahl, Auslese, völkischem Denken und Antisemitismus, von Euthanasie und deutschem Wesen die Rede. Die Demokratie der Weimarer Zeit fand aus diesen gutbürgerlichen Kreisen heraus nicht die Verteidiger, die notwendig gewesen wären.

Heute erleben wir erneut die Neigung bürgerlicher Kreise, das Grundgesetz der Republik in seinen konkreten Paragraphen und in seinem zugrundeliegenden Geist zu verneinen. Diese Verfassungsfeinde tragen nicht die Kapuzenshirts des "Schwarzen Blocks" bei Demonstrationen, sondern feines Tuch und Professorentitel. Wie in der Weimarer Zeit entsteht aus der bürgerlichen Mitte heraus eine neue Art militanter Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen, eine neue Art Sozialrassismus. Auf dem Hintergrund einer erneuten tiefen Wirtschaftskrise, dem Anwachsen von Armut, Prekariat und sozialer Unsicherheit, einer unvermindert hohen Arbeitslosigkeit, von sinkenden Reallöhnen und einem wachsenden Heer von "Überflüssigen", von Angst um den Arbeitsplatz und Angst vor dem sozialen Abstieg ist mittlerweile in der bürgerlichen Mitte eine Diskussion angekommen, die die Menschen in "Leistungsträger" und "nicht Leistende" einteilt. Eine Diskussion, die offensichtlich zwischen wertvollen und weniger wertvollen Menschen unterscheidet. Und die für die "nicht Leistenden" die Minderung der Unterstützung bis hin zum Entzug aller Lebensmittel fordert. 65 Jahre nach dem Ende des Endkampfs zwischen "Geld und Blut" diskutiert man in Talksshows und Zeitungsbeiträgen wieder die durch die "demographische Entwicklung" bedrohte Zukunft des Abendlandes.

Warum sich (verbeamtete) Professoren bei dieser Debatte gerne hervortun, ist unklar. Doch der Grad der eigenen sozialen Absicherung mit lebenslanger Arbeitsplatzgarantie und gesicherter Altersversorgung scheint mit der Vorliebe zu korrelieren, den Lebensstandard von Bedürftigen abzusenken und papierene Wirtschaftsmodelle an lebenden Personen auszuprobieren. Und ihr Status als Hochschullehrer scheint sie nicht zu hindern, die Verfassung zu ignorieren und zu verneinen.

In einem geradezu historischen Urteil zur Sicherung des Sozialstaates erklärte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts am 9. Februar 2010, dass die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen (also "Hartz IV"), nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach dem Grundgesetz erfüllen. Denn Artikel Eins des Grundgesetzes lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Artikel 20: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Zudem, so das oberste Gericht, müsse trotz Pauschalierung von Hartz IV der Einzelfall geprüft werden.

Akademische Sportdisziplin des Arbeitslosen-Bashings

Dieses Urteil aber hinderte zum Beispiel den Hamburger Wirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar nicht, wenige Tage nach dem Urteil die Abschaffung aller sozialer Leistungen und die Einführung eines pauschalierten Grundeinkommens zu fordern, das weder eine Einzelprüfung vorsieht noch dessen Höhe ein menschenwürdiges Dasein garantiert, sondern den Prämissen eines "Anreizes zur Arbeitsaufnahme" unterliegt. Und Gunnar Heinsohn, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Bremen, fordert gar die gänzliche Abschaffung der Arbeitslosenunterstützung nach fünf Jahren.

Sozialstaatsgebot und Menschenwürde spielen keine Rolle mehr in dieser neuen akademischen Sportdisziplin des Arbeitslosen-Bashings: "Auf der Basis der von der Gesellschaft derzeit formulierten Ziele ist eher ein Absenken der Mindestsicherung als ein Anstieg gerechtfertigt", ließ etwa Wirtschaftsprofessor Friedrich Thießen von der Universität Chemnitz wissen und nannte schon mal die Marke von 132 Euro als ausreichend für den Lebensunterhalt (der Hartz IV-Satz für Alleinstehende liegt heute bei 359 Euro). Und auch Bernd Raffelhüschen, Professor an der Universität Freiburg, ist selbstredend für "Leistungssenkungen".

In diesem akademischen Chor, der den Hilfebedürftigen das Lied vom Hunger als "Anreiz für die Arbeitsaufnahme" singt, fehlt – bislang – nur noch die Stimme, die für Arbeitslose oder vielleicht auch generell für Bedürftige wie Behinderte oder Kranke die staatlichen Sozialleistungen völlig streichen will. Noch wird eine wie auch immer armselige "Grundsicherung" (bis auf Heinsohn) nicht in Frage gestellt, doch genau dies liegt in der Logik der Armutsbefürworter. Danach steige der Anreiz, jede Arbeit anzunehmen – und sei sie noch so unwürdig und sittenwidrig – mit dem Grad der Existenzangst. In dieser Angst-Ökonomie ist es sinnvoll, den Arbeitslosen das Leben so beschwerlich wie möglich zu machen, um sie wieder "in Arbeit" zu bringen. Ob es freilich überhaupt zu besetzende Arbeitsplätze gibt, ist in diesem Denken unwichtig. Unwichtig sind auch die zahllosen empirischen Befunde, wonach Arbeitslose sich extrem bemühen, erneut eine Arbeitsstelle zu finden um wieder ein normales Leben zu führen.

Diese Angriffe aus der bürgerlichen Mitte richten sich vor allem gegen die gesellschaftliche Gruppe der Hartz IV-Bezieher. Dabei handelt es sich um Langzeitarbeitslose und ihre Angehörigen sowie um Beschäftigte im immer größer werdenden Niedriglohnsektor, den sogenannten Aufstockern. Sie erhalten von der öffentlichen Hand Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II, also den Regelsatz und die Kosten für Miete und Heizung. Im März 2009 lebten in Deutschland fast sieben Millionen Menschen, darunter 1,9 Millionen Kinder von Hartz IV. Unter den 3,6 Millionen Bedarfsgemeinschaften, in denen diese Personen zusammenleben, finden sich 645.000 Alleinerziehende und 555.000 Paare mit Kindern. 1,95 Millionen sind Alleinstehende und 435.000 sind Paare ohne Kinder.2

Sozialeugenischer Diskurs

Dieser Gruppe soll nun nicht nur die Leistungen gekürzt oder gekappt werden, sondern sie werden mittlerweile mit einem sozialeugenischen Diskurs überzogen, der die Angehörigen dieser Gruppe pauschal als minderwertig klassifiziert und deshalb ihre gesellschaftliche Dezimierung fordert. Dies geschieht in einem Tonfall, der in Nähe zur nationalsozialistischen Rassenlehre steht.

Dies sei anhand der Äußerungen des Sozialpädagogik-Professors Heinsohn dokumentiert, dessen Gastkommentare in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung3 und der Welt erschienen sind (Das unwerte Hartz IV-Leben). Heinsohn entwirft zunächst in geradezu Spenglerischer Manier ein düsteres Bild der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland: "Die Bedrohung für die Wirtschaft, den Sozialstaat, das Gemeinwesen insgesamt wird als so groß empfunden, dass es unter den Demographen kaum einen gibt, der dem Land noch Hoffnung macht." Die "Bedrohung", das ist die Schrumpfung der Bevölkerung, die bis in das Jahr 2060 (!) hochgerechnet wird. Immer weniger Arbeitende müssten immer mehr Nicht-Arbeitende ernähren. Derartig langfristige Szenarien sind freilich wenig aussagekräftig und völlig ausgeblendet wird, dass steigende Produktivität auch die Versorgung einer Bevölkerung garantiert, in der die Produzenten weniger werden. Auch heute produzieren weniger Beschäftigte mehr Güter als je zuvor. Einen "rechtsextremen und nationalkonservativen Diskurs" nennt der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge diese Dramatisierung des Bevölkerungswandels.4

In diesem Diskurs wird die angeblich unzureichende Geburtenrate der Deutschen beklagt. Dem folgt auch Heinsohn ("von 100 Kindern, die Deutschland benötigt, um nicht weiter zu schrumpfen und zu vergreisen, werden 35 gar nicht erst geboren"), doch er verbindet dies nun zusätzlich mit sozialrassistischen und klassenhygienischen Forderungen. Denn Kind ist für Heinsohn nicht Kind, fehlt Deutschland doch "nicht das vierte bildungsferne Kind der Sozialhilfemutter, sondern das erste oder zweite der hoch besteuerten und kinderlosen Karrierefrau". Das Problem ist also nicht nur die sinkende Geburtenrate, sondern vielmehr, dass die falschen Mütter Kinder bekommen:

Während deutsche Frauen außerhalb von Hartz IV im Durchschnitt nur ein Kind haben und leistungsstarke Migrantinnen sich diesem Reproduktionsmuster nähern, vermehrt sich die vom Sozialstaat unterstützte Unterschicht stärker - mit allen Folgeproblemen.

Gunnar Heinsohn

Die Kinder dieser oben skizzierten Gruppe der Hartz IV-Bezieher sind für Heinsohn also nicht die Lösung des Bevölkerungsschwundes ("eine demographische Zukunft haben nur die Bildungsfernen"), sondern vielmehr ein Problem. Denn diese Kinder sind unfähig, es "steht zu befürchten, dass in einigen Jahrzehnten weit mehr als ein Viertel der Menschen in eine Hightech-Gesellschaft mit ihren hohen Qualifikationsanforderungen nicht passt". Nicht die Fortpflanzungsfähigkeit der "Unterschicht" steht in Frage, wohl aber deren "Ausbildungsfähigkeit". Bei der "Massenkindhaltung" der Unterschicht sei es auch fraglich, ob diese Kinder mit Steuermitteln "in Krippen intelligent gemacht" werden können.

Heinsohn unterscheidet also deutlich zwischen Hartz IV-Kindern und Kindern von "Karrierefrauen", von Kindern des "leistenden Bevölkerungsteils". Und er lässt keinen Zweifel daran, dass er die "Hartz IV-Kinder" für minderwertiger, weil unfähiger und un-intelligenter, in Hinsicht auf die Rolle als künftige "Leistungsträger", hält. Dieses Geburts-Merkmal schreibt Heinsohn diesen Kinder zudem offensichtlich dauerhaft zu, der Makel lässt sich in seinem Denken offenbar weder durch Förderung noch durch Ausbildung tilgen.

Der sozialrassistische Charakter dieser Äußerungen tritt durch die Forderung nach Dezimierung der Zahl dieser Kinder hervor:

Solange die Regierung das Recht auf Kinder als Recht auf beliebig viel öffentlich zu finanzierenden Nachwuchs auslegt, werden Frauen der Unterschicht ihre Schwangerschaften als Kapital ansehen. Allein eine Reform hin zu einer Sozialnotversicherung mit einer Begrenzung der Auszahlungen auf fünf Jahre statt lebenslanger Alimentierung würde wirken ...

Gunnar Heinsohn

Heinsohn tritt hier für eine Geburtenkontrolle in der "Unterschicht" ein. Indem dieser die staatliche Unterstützung entzogen wird, sinke auch deren Geburtenrate, wie das Beispiel Amerika nach Begrenzung der Sozialhilfe auf fünf Jahre zeige:

Gleich nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes verwenden auch sie das gesamte Arsenal der Geburtenkontrolle. Im einst besonders hart betroffenen Kalifornien liegen afroamerikanische Frauen heute bei nur noch 1,7 Kindern. Sie erreichen nicht einmal mehr die Nettoreproduktion.

Gunnar Heinsohn

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Diese sinkende Geburtenrate der Armen ist für Heinsohn offensichtlich wünschenswert:

Bildungsferne Jungen, die über Gewalt nach oben streben, werden kaum noch gezeugt. Eine bedauernswerte, weil hoffnungslose Jugend wächst schlicht nicht mehr heran. Ungeborene können niemandem einen Baseballschläger über den Kopf ziehen ...

Gunnar Heinsohn

Noch einmal zur Erinnerung: Heinsohn beklagt ja zunächst die sinkende Geburtenrate als "Bedrohung". Gleichwohl fordert er für die Armen den Entzug staatlicher Unterstützungsleistung, damit sich die Zahl dieser "Unterschicht-Kinder" reduziert. Gebären sollen hingegen die "Karrierefrauen" der "Leistungsträger". Den Platz der abgetriebenen oder verhüteten Hartz IV-Kinder könnten dann eingewanderte "erfolgreiche Unternehmer" ausfüllen:

Nach dem Kassieren des Rechts auf lebenslange Elternschaft in Hartz IV könnte sogar eine ernsthafte Einwanderungspolitik à la Kanada beginnen.

Gunnar Heinsohn

"Wie man mit Geld Armut vermehrt"

Dieser Sozialrassismus von Heinsohn stützt sich argumentativ vor allem auf eine Zahl: Der Abnahme der Zahl der Sozialhilfeempfänger in den USA von 12,2 Millionen in 1996 auf 4,5 Millionen in 2005. Als Ursache dafür sieht Heinsohn die Begrenzung der Sozialhilfe in den USA auf fünf Jahre durch den demokratischen Präsidenten Bill Clinton in 1996. In seiner Logik wird Arbeitslosigkeit durch Arbeitslosenunterstützung geschaffen und Armut durch Sozialfürsorge. Streicht man diese Leistungen, dann lösen sich auch die Probleme in Luft auf. Denn Armut entsteht durch das staatliche Angebot der Fürsorge: "Werden die Prämien für Kinder von Sozialhilfebezieherinnen ... abgeschafft, wird für solche Anreize auch nicht mehr geboren", schafft doch die Sozialhilfe, so Heinsohn nur "zusätzliche Gebäranreize für die Frauen am unteren Rand", die sich lebenslange Finanztransfers "erkindern".

"Aus dem Meer der Statistiken, die die Studien zu den Auswirkungen der Wohlfahrt'reform' hervorgebracht haben, sticht eine wahrhaft bemerkenswerte Tatsache hervor", schreibt der Soziologe Loic Wacquant zu diesem wundersamen Verschwinden der Armen in den USA: "Während die Zahl der Unterstützungsempfänger drastisch zurückging, blieb die nationale Armutsrate nahezu unverändert."5 Sie lag 1996 bei 13,7 und 2004 bei 12,7 Prozent. 2003 hatten 40 Prozent der ehemaligen Sozialhilfeempfänger (Haushaltvorstände) keine Arbeit gefunden und mussten sich mit Hilfe von Verwandten, durch informelle Ökonomie und Kriminalität durchschlagen. Von den 60 Prozent, die durch die wirtschaftlichen Boomjahre eine Arbeit fanden, hatten die weitaus meisten einen nicht sozialversicherungspflichtigen Teiljob, mit dessen Verdienst sie unter der Armutsschwelle bleiben. Die Armut wurde aus den Wohlfahrtsregistern und damit aus der öffentlichen Sphäre verdrängt in die Unsichtbarkeit von Familie und Markt.

Nichtsdestotrotz überträt Heinsohn seine Anschauungen über die amerikanische Gesellschaft ohne jedwede Probleme auf die Bundesrepublik. Auch hier sieht er "Gebäranreize" für die "Unterschicht":

In Hartz IV selbst bereiten nicht die Betroffenen die größte Sorge, sondern die Regierung. Sie legt das Angebot auf den Tisch, einer Frau bei zwei bis drei Kindern bis zum 50. Lebensjahr knapp eine halbe Million Euro aus den Taschen der Mitbürger zu überweisen.

Gunnar Heinsohn

In einem abenteuerlichen Vergleich "belegt" er die unterschicht-erzeugende Wirkung der Sozialhilfe:

Die Zahl der von Sozialhilfe lebenden Kinder unter 14 Jahren explodiert in Deutschland zwischen 1965 und 2009 von 120 000 auf fast zwei Millionen im April 2009.

Gunnar Heinsohn

Für Heinsohn hat dies offenbar nichts damit zu tun, dass 1965 in der Bundesrepublik Deutschland Vollbeschäftigung herrschte, 2009 es aber eine Unterbeschäftigung von rund sechs Millionen Menschen gab, Arbeitslosigkeit existiert in seinem Denkschema offenbar nicht. Nach dieser Logik gehen all die jüngst zu Tausenden Entlassenen von Nokia, Benq, Quelle, Siemens, Telekom, BMW, Henkel und anderen Firmen nur deshalb in die Arbeitslosigkeit und nach einem Jahr in Hartz IV, weil dort die "Anreize" des Regelsatzes für Kinder von 219 Euro locken - wie bizarr kann doch die Welt deutscher Professoren sein.

"Widerwärtig" nennt der hessische Sozialrichter Jürgen Borchert diese Logik, die "aus Opfern Täter macht". Zwar sieht auch er ein dräuendes demographisches Problem heraufdämmern, bei dem zu sinkenden Geburtenraten einerseits ein Anstieg der Kinder in Sozialhilfe andererseits kommt und thematisiert die geringen Bildungschancen dieses Nachwuchses, freilich indem er sie in Zusammenhang mit den Ursachen stellt:

Denn permanenter ökonomischer Stress schlägt sich nicht selten in Alkoholismus oder Gewalt in den Familienhaushalten nieder. Kinder leiden darunter am allermeisten. Jedes dritte Kind, das 2004 eingeschult wurde, zeigte Auffälligkeiten im verhalten oder gar Entwicklungsstörungen.

Jürgen Borchert

Entgegengesetzt zur sozialrassistischen Variante bei Heinsohn will Borchert aber die armen Familien nicht durch Entzug der "Anreize" dezimieren, sondern ihrer Verarmung durch eine Umverteilung des vorhandenen Reichtums entgegentreten und ihre soziale Lage verbessern.

In was für einem diskursiven Umfeld sich hingegen Heinsohn mit seiner Argumentation befindet, scheint diesem gleichwohl zu dämmern:

"Rassist" gilt in Deutschland noch als liebevoller Anwurf gegen Kritiker von Zuständen, die Clinton 1996 zum Handeln gezwungen haben. Gerne kommt da auch noch ein Goebbels oder gleich ein ganzer Holocaust hinterhergeflogen.

Gunnar Heinsohn

Gnädigerweise kann sich Heinsohn immerhin vorstellen, die Gnadenfrist für Hartz IV-Empfänger leicht zu verlängern:

Man müsste beim Kappen der Sozialhilfe die Amerikaner nicht einmal sklavisch imitieren. Man könnte sie überbieten und statt fünf ein Maximum von fünfeinhalb oder gar sechs Jahren Sozialhilfe anbieten.

Gunnar Heinsohn

Es macht keinen Sinn, die im sozialstaatlichen Kontext absurden Ausführungen von Heinsohn weiter zu widerlegen, die angeführten Textstellen sprechen weitgehend für sich. Sie stehen hier als Beispiel eines neuen Diskurses aus der rechtskonservativ-bürgerlichen Mitte, die die Gesellschaft in "Leistungsträger" und "Nichtleister" spaltet und Letztere diskriminiert. Neu ist, dass diese angeblichen "Nichtleister", also die Arbeitslosen, Hartz IV-Empfänger und armen Kinder mit einem sozialeugenischen Diskurs überzogen werden, der vom Verkauf von Organen ("Wenn jemand existenziell bedroht ist, weil er nicht genug Geld hat, um den Lebensunterhalt seiner Familie zu finanzieren, muss er meiner Meinung nach die Möglichkeit zu einem geregelten Verkauf von Organen haben", sagt Peter Oberender, Volkswirtschaftsprofessor an der Universität Bayreuth) bis zum völligen Entzug der staatlichen Unterstützung reicht. Damit ist eine bisher unbekannte öffentliche Radikalisierung einer grundgesetzfeindlichen Debatte erreicht, die nicht nur das Sozialstaatsgebot ignoriert, sondern mit dem Ruf nach der Dezimierung der "Unterschicht" auch die Würde des Menschen verletzt.

Eingebettet ist dieser Diskurs in ein demographisches Katastrophenszenario. Ging es im Umfeld der Weltwirtschaftskrise von 1929 auch um ein "Volk ohne Raum", ertönt in der Weltwirtschaftskrise 2010 aus der bürgerlichen Mitte die Warnung vor dem "Volk ohne Leistungsträger". Diese Diskurse diskriminieren auf das Verletzlichste sozial verwundbare Gruppen wie Hartz IV-Empfänger und stärken die Totengräber des sozialen Friedens in Deutschland.

Dass dieser Sozialrassismus nicht nur mehr in den Spalten bürgerlicher Zeitungen vertreten wird, sondern mittlerweile massive Konsequenzen für Hartz IV-Empfänger nach sich zieht, zeigt das Sparpaket der Bundesregierung. Gemäß der Heinsohnschen Parole, das Elterngeld schaffe "vor allem Gebäranreize in der Unterschicht", bleibt dieses Elterngeld den Gutverdienenden weitgehend erhalten, wird aber den Bedürftigen gänzlich gestrichen.