Frankreich im Xenophobie-Rausch

Die Opposition bläst zum Widerstand gegen Sarkozys Immigrationspolitik

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Frankreichs Linke geht am Samstag auf die Strasse – gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Die Attacken der Regierung Sarkozy gegen Roma und Immigranten haben mittlerweile neben der französischen Opposition sowie Menschenrechtsorganisationen auch die Uno und die EU auf den Plan gerufen. Derweil werden jeden Tag mehr Roma abgeschoben.

Vor einigen Monaten waren sie für viele Franzosen nur ein blinder Fleck im Stadtbild: Roma-Familien aus Osteuropa campen unter Autobahnbrücken, hausen in Wellblechhütten und Zelten. Sie lassen sich am Rande französischer Großstädte wie Paris auf leer stehenden Flächen nieder – meist geht das einige Wochen oder Monate gut. Ins Zentrum fahren sie nur, um vor Metroeingängen und Einkaufszentren zu betteln, eine Chance auf Arbeit haben sie kaum.

Mittlerweile ist das fahrende Volk das Topthema der Republik (siehe auch "Wir sind genauso Franzosen wie alle anderen auch"). Mit seinen Angriffen auf die oftmals rumänisch- und bulgarisch stämmigen Roma und die französischen Gens de Voyage hat der Präsident eine Debatte losgetreten, durch die er nun selbst zur Zielscheibe heftiger Kritik aus aller Welt wird. Dabei hat sich allein an der Praxis wenig geändert: Die Roma werden schon seit Jahren regelmäßig aus Frankreich abgeschoben - allein im letzten Jahr waren es über 10.000 Rückführungen.

Was derzeit die internationale Gemeinschaft gegen Sarkozy aufbringt, ist vor allem seine Rhetorik: „Die neuesten Ankündigungen von Präsident Sarkozy, die Einwanderungspolitik zu verschärfen, hat das Fass zum überlaufen gebracht. Es ist das erste Mal, dass ein französischer Präsident derart harte Maßnahmen gegen Immigranten ankündigt“, erklärt der Präsident der Ligue des droits de l'homme (Liga für Menschenrechte) Jean Pierre Dubois, einer der Initiatoren der heutigen Großdemonstrationen gegen Fremdenhass und Rassismus, die in ganz Frankreich angekündigt sind. Mittlerweile sei die Politik von Sarkozy kaum mehr vom Programm des Rechtspopulisten Le Pen zu unterscheiden.

Doch das Fischen im rechten Lager könnte zum Fallstrick für den Präsidenten werden, denn die Opposition rüstet derzeit für die nächste Präsidentschaftswahl 2012. Sie zeigt sich am heutigen Protesttag in seltener Eintracht: Sozialistenführerin Martin Aubry war eine der ersten, die den Aufruf gegen die fremdenfeindliche Politik Sarkozys unterschrieb, mit ihr sind heute sämtliche Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen aller Couleur, die Katholische Kirche, Kommunisten und sogar einige Sarkozisten auf der Strasse. Sie alle sorgen sich auch um das Image ihres Landes, wollen kein zweites Italien werden.

Mittlerweile schüttelt die ganze Welt den Kopf über Sarkozys Politik. Der UN-Menschenrechtsausschuss sowie der Europarat und sogar der Vatikan kritisieren die Massenabschiebungen und die Stigmatisierung der Roma. Die französische Regierung streitet allerdings weiterhin ab, dass es sich hier um Massenabschiebungen ohne Einzelfallprüfung handelt. Sie behauptet auch, nicht gezielt gegen eine Volksgruppe, sondern gegen Illegalität vorzugehen, das betonten Staatssekretät Pierre Lellouche und Immigrationsminister Eric Besson diese Woche in Brüssel.

EU nimmt Frankreichs Abschiebepraxis unter die Lupe

Die EU-Kommission prüft nun, ob das Recht auf Freizügigkeit, dass seit seit 2004 für alle EU-Staaten gilt, auch richtig angewendet oder ob von Seiten der französischen Regierung dagegen verstossen wurde (vgl. dazu EU: Französische Abschiebung der Roma rechtlich fragwürdig). Demnach haben alle Unionsbürger das Recht, sich drei Monate frei in einem anderen EU-Land zu bewegen, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Die Einreisenden müssen nach der EU-Richtlinie entweder auf Arbeitssuche sein, eine Arbeit nachweisen können oder über genügend finanzielle Mittel verfügen.

Abgeschoben werden können EU-Bürger nur, wenn sie ein Problem für die Sicherheit und Ordnung eines Landes darstellen oder den allgemeinen Bedingungen nicht nachkommen. Das setzt eine genaue Einzelfallprüfung voraus. Ob die französischen Behörden diesem Prozedere ordnungsgemäß nachgekommen sind, will Justiz-Kommissarin Viviane Reding herausfinden. Ein erster EU-Bericht kritisierte in dieser Woche die französische Umsetzung der EU-Freizügigkeitsrichtlinie. Auch im EU-Parlament unterstützen allein die rechtsextremen Abgeordneten die Politik von Sarkozy vorbehaltlos. Auch ein Gerichtsurteil in Lille, dass die Ausweisung von sieben Roma stoppte, scheint zu bestätigen, dass die Praxis der französischen Behörden nicht lupenrein ist.

Immerhin wurden allein im letzten Monat über 700 Roma abgeschoben. Die gängige Abschiebepraxis sieht tatsächlich eher nach kühler Routine als nach eingehender Prüfung der einzelnen Schicksale aus: Meist unangekündigt tauchen die Polizeitrupps in den Camps der Roma auf und fangen an diese systematisch zu zerstören. Wenn keine Hütte mehr steht und die Roma nur noch das Nötigste bei sich haben, werden sie in ein Flugzeug gesetzt und bekommen 300 Euro pro Erwachsene und 100 Euro pro Kind als „Hilfe“ für die Rückkehr – das nennt sich dann „freiwillige Rückkehr“.

Viele von ihnen hätten das schon mehrmals durchgemacht, berichten Aktivisten der Organisation FNASAT (Fedération nationale des associations solidaires d'action avec les Tsiganes et les Gens du voyage), die die Roma juristisch unterstützen. Das Geld werde oftmals dazu verwendet, um nach wenigen Monaten im Heimatland wieder die Rückreise anzutreten. Weder für den französische Staat noch für die Roma ist diese Praxis also besonders sinnvoll. Deshalb arbeiten französische Behörden nun an der besseren Personenerkennung mit Hilfe von biometrischen Daten. Kritiker bezweifeln jedoch, dass sich dieses gravierende soziale Problem technisch lösen lässt.

Lieber in Pariser Slums als auf den Strassen von Bukarest

In der EU nehmen derzeit rund acht Millionen Menschen das Recht auf Freizügigkeit in Anspruch. Aber nicht alle tun das freiwillig. Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) hat ermittelt, dass vor allem Rassismus und Armut die häufigsten Gründe für die Ausreise nach Westeuropa sind. Die nach Frankreich kommenden Roma stammen meist aus Rumänien und Bulgarien – den Ländern mit dem niedrigsten Lebensstandard in der EU. Auch wenn die sogenannten „Bidonvilles“ - sprich die kleine Slums -, in denen sie hier in Großstädten hausen für normale EU-Bürger schockierend sind: Hier leben sie trotzdem noch besser als in ihrer Heimat. Die Roma kommen aber nicht nur nach Frankreich. Auf die Frage, warum er hier in Finnland und nicht in Osteuropa sei, antwortete ein Roma in dem Bericht, dass er in Finnland drei bis vier Mahlzeiten statt nur eine zusammenbekomme.

Nicht nur die französische Regierung reagiert derart hart gegen die unerwünschten EU-Gäste. „Marginalisierung und Diskriminierung von Roma in der EU breiten sich derzeit rasant aus“, erklärt Victoria Vasey vom Europäischen Zentrum für die Rechte der Roma (European Roma Rights Centre, ERRC) mit Sitz in Budapest. „Es gibt immer mehr Gewalt gegen Roma - vor allem in Osteuropa“. Durch die größere Sichtbarkeit sei aber auch die Gewaltbereitschaft in den westeuropäischen Ländern seit der EU-Erweiterung gestiegen. Erst letzte Woche schoss ein Mann in Bratislava eine Romafamilie nieder.

Ist Sarkozy also Mainstream? Nein, meint die Roma-Vertreterin aus Budapest. Das erschreckende an der französischen Tagespolitik sei, dass die ungewöhnlich scharfe, populistische Rhetorik mit der ihrer unmittelbaren harten Durchsetzung zusammengehe. Derartige politische Antworten kenne sie sonst nur aus Italien.

Sarkozy und die Politik von Berlusconi

Der Vergleich mit dem Nachbarland drängt sich in derzeit vielen auf: „Sarkozy erinnert an die Politik von Berlusconi. Seine Politik für die Reichen, die Stigmatisierung von Minderheiten und die Korruptionsskandale - und er hat den Populismus als Politikstil gewählt“, meint Dubois von der französischen Liga für Menschenrechte. Die politische Spitze in Frankreich sei derzeit in einem „fremdenfeindlichem Rausch“ und es gebe kaum demokratische Mechanismen, um sie zu stoppen.

Tatsächlich geht die fremdenfeindliche Politik weit über die Abschiebung der Roma hinaus. Größte Sorgen bereitet Menschenrechtlern die Androhung des Präsidenten, Franzosen mit ausländischer Herkunft die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Dies hatte der Präsident im Juli angekündigt, nachdem es in Grenoble wochenlang zu Ausschreitungen in den Vorstädten gekommen war. Allerdings ist diese Forderung nicht durch die Verfassung gedeckt. Zudem ist davon über ein Viertel der Franzosen betroffen, die über ausländische Wurzeln verfügen. „Es werden alle Register gezogen: Gegen Roma, Ausländer, Franzosen mit Migrationshintergrund und die illegalen Einwanderer – das alles nimmt unglaubliche Dimensionen an“, erklärt Demo-Initiator Dubois.

Der Entzug der Staatsbürgerschaft ist Teil des verschärften Einwanderungsgesetzes, das nächsten Dienstag im französischen Parlament diskutiert werden soll. An diesem Tag soll auch landesweit gestreikt werden – gegen Sarkozys geplante Rentenreform. Gleichzeitig findet die nächste Sitzung des EU-Parlamentes in Straßburg statt, bei dem die ersten Ergebnisse der EU-Untersuchung bekannt werden sollen. Doch auch Sarkozy bleibt nicht untätig: Er will Politiker aus ganz Europa in den kommenden Wochen zu einem Einwanderungsgipfel nach Paris einladen. „Es bleibt ihm nichts weiter übrig als weiterzumachen“, meint Menschenrechtler Dubois. Die Geister, die Sarkozy rief, wird er wohl nicht mehr so schnell los.