Abstürzende Mittelschichten

Frank Hertels "Knochenarbeit" als Psychogramm einer orientierungslosen Generation

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In den 1970er Jahren war es der Österreicher Franz Innerhofer, der präzise in Romanen wie "Schöne Tage" und "Schattseite" das unfreie und mühselige Leben als Hilfsknecht auf dem väterlichen Bauernhof und als Arbeiter in der Fabrik beschreibt. Seine Protagonisten kamen von unten und arbeiteten sich langsam gesellschaftlich hinauf, entlang der "Großen Wörter" in der Arbeiterabendschule.

Mehr als drei Jahrzehnte später geht Frank Hertel den umgekehrten Weg. Der 38-jährige Akademiker (Studium der Soziologie) beschreibt in dem autobiographischen Bericht "Knochenarbeit" seinen sozialen Abstieg aus der Mittelschicht in die Niederungen der Billiglohnwelt – als angelernter Arbeiter in einer Backfabrik.

Wer nun glaubt, dass ein Studium der Soziologie vor Ressentiments schützt, der irrt. Das Buch verbreitet vielmehr eine schwer erträgliche Mischung aus plattesten Sozialdarwinismus ("Die Welt ist ein Dschungel und der Stärkste setzt sich durch"), dumpfen Vorurteilen vom Stammtisch nebenan ("Sozialhilfeempfänger genießen Herrenstatus. Man muss nicht arbeiten, um zu leben. Das hat man nicht nötig") und einer denkbar schlichten Untertanenlogik ("Wenn oben alles in Ordnung ist, stimmt auch der Rest").

Diese krude selbstgezimmerte Abstiegsphilosophie wäre keine Zeile wert, wäre sie nicht symptomatischer Ausdruck des gegenwärtigen sozialen Abstiegs von Teilen der Mittelklassen. Und wie sich das absteigende Kleinbürgertum der Weimarer Zeit auf seinem Weg in den Nationalsozialismus radikalisierte, weht einem aus den Seiten von Hertels Buch der Irrationalismus an ("Der erste Philosoph, den ich nach meinem Studium intensiv las, war Friedrich Nietzsche") und Assoziationen an Sturmabteilungen: "Auch wenn ich weder mit Karl Marx noch mit dem Sozialismus sympathisiere, sehe ich in Deutschland eine Klassengesellschaft"; "Ich sehe kalte Stürme auf uns zukommen"; "Wir sind vom Typ her gnadenloser als die Generation vor uns."

"Ich habe auf dem hiesigen Arbeitsmarkt keine Chance"

Doch der Reihe nach. Der Autor arbeitete – so das Buch - zehn Monate lang für 1.200 Euro netto in einer Backfabrik. Die Arbeit ist "hart und hektisch", ein "viel zu langer Kreislauf aus starker Anstrengung und erschöpftem Schlaf", es ist "kein wirklich erfülltes und schönes Leben". Zu Hause ist man zu müde zum Sprechen, unkonzentriert und seelisch kaputt – ein "Knochenjob" eben. So weit hat sich seit Franz Innerhofer also nichts geändert – nur die soziale Richtung, aus der diese Knochenarbeit beschrieben wird. Denn wurde aus dem Hilfsknecht Innerhofer der Student, wurde aus dem Akademiker Hertel der "Knecht", wie sich der Autor selbst bezeichnet. Fuhr der soziale Fahrstuhl in den 1970er Jahren hinauf, geht es jetzt wieder hinab.

Hertel rechnet sich selbst der "Mittelschicht" zu, sein zehnmonatiger Ausflug in die Knochenarbeit geschah aus "Geldnot". Mit 38 Jahren sieht er sich mit der Erkenntnis konfrontiert: "Ich bin in ein Akademiker, der in einer Firma arbeitet, die ihre Leute zum Teil aus dem Asylantenheim bezieht. Eine echte Karriere sieht anders aus". Einen Job als Soziologen ("kennt niemand, braucht niemand") gibt es nicht: "Ich habe auf dem hiesigen Arbeitsmarkt keine Chance."

Interessant ist nebenbei, was der Autor als Angehöriger seiner Generation an Selbstwahrnehmung der eigenen "Mittelschicht" und an Wahrnehmung der "Arbeiter" berichtet: "Wenn die Russen im Pausenraum zusammensitzen und in ihrer harten Sprache und mit ihren harten Gesichtern und rauchigen Stimmen das Leben verhöhnen, dann bin ich ganz ergriffen von soviel Männlichkeit und wünsche mir, dass auch die deutschen Männer etwas russischer wären: härter, mutiger, beseelter."

Soweit wäre das Buch eine durchaus lebendige geschriebene Reportage aus der real existierenden Arbeitswelt jenseits von hochglänzenden Werbeprospekten und weichspülenden Fernseh-Serien. Mit durchaus treffenden Realitätsbezug wie der Widerlegung von neoliberalen Bildungs-Mythen: "Von 32 Leuten in der Schicht hatten sechs studiert. Ein Iraker, ein Pole, ein Burmese, zwei Russen und ich." Wären da nur nicht die unsäglichen Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen aus dieser sozialen Lage.

"Jetzt muss man wissen, auf welcher Seite man steht"

Die lassen sich so zusammenfassen: Die Unterschicht ist dumm. Jeder muss sich selber helfen. Hartz IV-Empfänger sind sich zum Arbeiten zu fein, auf die Dauer kann sich das der Staat nicht leisten. Den Arbeitnehmern mit Kündigungsschutz und Betriebskindergarten geht es fantastisch, sie gehören zu den Herrn. Daneben gibt es die Knechte, die sich "Tag und Nacht" die Finger blutig arbeiten, damit die Sozialhilfeempfänger gemütlich auf der Couch sitzen können. Im Sozialismus müssen alle arm und klein bleiben. Das System ist in Ordnung, nur manche Menschen sind faul und verzagt. Der Wohlstandbummelzug ist abgefahren. Die Schwachen müssen dienen. Gewerkschaften sind schädlich.

Es sind derartige Stammtischparolen, neoliberale Versatzstücke und Sozialdarwinismus-Zutaten, die in jene seelische Kerben einrasten, über die sich die soziale Deklassierung einschreibt: "Etwas ist in mir kaputtgegangen. Meine Hoffnung wurde enttäuscht. Wir sind keine Opfer, sondern unbegabte Trottel." Als Dreh- und Angelpunkt ist die Aussage zu sehen: "Der Klassenkampf kehrt zurück. Jetzt muss man wissen, auf welcher Seite man steht. Das fällt mir schwer."

Nach Jahrzehnten der Vorherrschaft des neoliberalen und ökonomistischen Denkens erscheint die Welt nur noch als Dschungel, in dem man um das Überleben kämpft. Solidarität mit Schwächeren ist nicht mehr denkbar und der Akademiker verabschiedet sich nach zehn Monaten wieder aus der Welt der Knochenarbeiter: "Die armen Teufel, die da bis zur Rente bleiben müssen, tun mir sehr leid." Der Autor wird Hausmann und schreibt sein Buch. Und das ist im Grunde nur lesbar, wenn man sich über die erschreckende Weltsicht von sozialen Absteigern und den Zerfall eines vormaligen linken Milieus informieren will. In dieser Hinsicht ist das Buch höchst aktuell.

Frank Hertel: Knochenarbeit. Ein Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft. Hanser Verlag 2010, 208 Seiten. 14,90 €.