"Harmony" für chaotische EU-Justiz- und -Innenpolitik

Andi aus NRW soll vor Islamismus, Rechts- und Linksextremismus schützen

Die belgische Ratspräsidentschaft will das verwirrende Durcheinander von Behörden, Datenbanken, Richtlinien, Strategien, Mehrjahresprogrammen und Aktionsplänen ordnen

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Die Europäische Union spielt eine immer stärkere Rolle in der Ausgestaltung einer eigenen Justiz- und Innenpolitik (JI) mit den EU-Agenturen Europol, Eurojust, CEPOL und Frontex. Der Lissabon-Vertrag bringt weitere Neuerungen, darunter die Einrichtung des "Ständigen Ausschuss des Rates für die innere Sicherheit" (COSI). Jetzt blicken selbst die Protagonisten der innenpolitischen Aufrüstung nicht mehr durch. Das Durcheinander von Behörden, Datenbanken, Richtlinien, Strategien, Mehrjahresprogrammen und Aktionsplänen soll durch einen neuen Plan beseitigt werden. Die belgische Ratspräsidentschaft lanciert das Projekt "Harmony".

Plakat für das EU-Programm COPPRA

Nachdem die schwedische EU-Präsidentschaft das "Stockholmer Programm" eingetütet hat und der spanische Vorsitz Migrationsabwehr und SWIFT-Abkommen vorantrieb, sorgt sich Belgien um Networking und Vereinfachung grenzüberschreitender Polizeizusammenarbeit. Neben der Bildung eines neuen "Netzwerks der Zielfahndungsexperten (FAST) steht beispielsweise die Einrichtung einer "European Airport Police Cooperation Platform" (AIRPOL) auf der Agenda. "Grenzüberschreitende Operationen" sollen die polizeiliche Kooperation einüben, darunter die "Bekämpfung der illegalen Migration innerhalb der EU" mit der Operation HERMES. Das ambitionierteste belgische Vorhaben allerdings heißt Harmony und verspricht die endgültig optimale Synchronisation der Zusammenarbeit von EU-Agenturen mit den Verfolgungsbehörden der Mitgliedsstaaten.

Intern firmiert "Harmony" unter dem Begriff "Policy Cycle", ein Modell zur Priorisierung und Umsetzung von Maßnahmen gegen allerlei noch zu definierendes Übel. "Harmony" teilt sich in vier Phasen. Zunächst werden Bedrohungsanalysen erstellt, deren Prioritäten die EU-Kommission anschließend festlegt und in Mehrjahres-Strategieplänen an eine "Praktikerebene" weitergibt. Dort werden wiederum Aktionspläne ausgearbeitet und die Vorhaben schließlich umgesetzt. Die Maßnahmen werden jährlich sowie nach ihrem Abschluss evaluiert. Man verspricht sich einen Mehrwert durch die enge Verzahnung der beteiligten Agenturen, Ratsarbeitsgruppen, der Kommission und den Polizeien der Mitgliedsstaaten. Die regelmäßige Evaluation soll eine hohe Flexibilität für schnelle Kurswechsel gewährleisten.

Ähnlichkeit mit EU-Innenministerium

Der "Policy Cycle" bleibt vorläufig auf den Bereich der "Schweren und Organisierten Kriminalität" begrenzt. Eine Erweiterung auf "Terrorismus" und "Zivilschutz" wird allerdings bereits diskutiert, dann würde womöglich auch das Brüsseler Geheimdienstzentrum SitCen integriert. Auch Frontex möchte beteiligt werden, da die Arbeit der EU-Migrationspolizei ebenso mit der "Schweren und Organisierten Kriminalität" zu tun habe.

Geplant ist die Einrichtung eines "Advisory Boards", das sich aus noch zu benennenden "Experten" zusammensetzt. Fraglich ist, wo das "Advisory Board" angesiedelt werden soll. Europol hätte etliche Kapazitäten und Ressourcen die hierfür vermutlich genutzt werden. Eine Schlüsselrolle spielt allerdings der nach dem Vertrag von Lissabon neu geschaffene "Ständige Ausschuss des Rates für die innere Sicherheit" (COSI). Der COSI koordiniert das "Harmony"-Projekt und benennt entweder das "Advisory Board" oder wird es womöglich gleich selbst übernehmen.

Der "Ständige Ausschuss des Rates für die innere Sicherheit" wurde im Februar als offizielles Organ der neu strukturierten EU-Innenpolitik konstitutiert und trat am 11. März erstmals zusammen. Das Gremium erinnert an ein Innenministerium, zu dessen Aufgaben die Förderung und Stärkung einer "operativen Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit" gehört.

Der COSI wird aus den Ministerien der Mitgliedstaaten bestückt. Für die Bundesrepublik Deutschland werden jeweils ein Vertreter des Innenministeriums, des Justizministeriums und der Bundesländer entsandt. Für Fragen der Zollzusammenarbeit kann auch das Finanzministerium einen Beauftragten bestimmen. Als "permanente Kontaktpunkte" für den COSI wurden jeweils ein Vertreter der Referate Innenpolitik und Justizpolitik bei der deutschen Ständigen Vertretung in Brüssel ernannt.

Der Aufgabenbereich des COSI erstreckt sich auf Polizei- und Zollbehörden, Außengrenzen sowie die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Der Ausschuss soll Mängel feststellen und Empfehlungen für ihre Beseitigung aussprechen. Wenn es vom COSI als als notwendig erachtet wird, können auch Vertreter von Eurojust, Europol, Frontex und "anderen einschlägigen Einrichtungen" eingeladen werden. Zuarbeit kommt von den neu geschaffenen Arbeitsgruppen "Terrorismus" und "JI-Außenbeziehungen". Der COSI übernimmt zudem die Aufgaben der früheren "Task Force der europäischen Polizeichefs" (PCTF), die bis zu ihrer Auflösung in Zusammenarbeit mit Europol mit der Analyse "grenzüberschreitender Kriminalität" befasst war und zur "Planung operativer Maßnahmen" beitrug.

Großaktion europäischer Polizeien geplant

Für die restliche Amtszeit der Trio-Präsidentschaft von Spanien, Belgien und Ungarn hat der COSI insgesamt 14 Themenbereiche auf die Agenda gesetzt. Neben "Harmony" soll im November die "Strategie der inneren Sicherheit" verabschiedet werden, deren Umsetzung in einem Aktionsplan folgen soll ("Interne Sicherheitsstrategie" der EU soll nachhaltig werden). Ein Europäischer Pakt zur Bekämpfung des internationalen Drogenhandels nimmt die Unterbrechung von "Kokain- und Heroinrouten" aufs Korn, während das Augenmerk des COSI gleichzeitig auf den Aktivitäten der kurdischen PKK liegt. Mit dem "Internal Security Fund" wird die grenzüberschreitende Repression mit finanziellen Erleichterungen ausgestattet.

In der Pipeline des COSI ist anscheinend eine umfangreiche Mission der Agenturen Europol, Frontex, Eurojust sowie Interpol. Zusammen mit den Polizei, Zoll und Grenzpolizei der Mitgliedsstaaten will der COSI deren Zusammenspiel in Echtzeit testen. Unter dem bekannten Motto "Kampf gegen Terrorismus und organisierte Kriminalität" werden vier Kriminalitätsfelder adressiert: Drogen, Menschenhandel, gesuchte Personen sowie Schmuggel. Laut eines EU-Dokuments könnte die Aktion gleichzeitig an Land-, See- und Luftgrenzen sowie im nicht näher bezeichneten "domestic territory" stattfinden.

COPPRA-Stair-Case-Model: Von Unzufriedenheit zum Terrorismus

"Tierrechtsaktivismus" folgt "islamistischem Terrorismus"

Forderungen nach mehr Kooperation und Datentausch unter den EU-Agenturen sowie mit Polizeien der Mitgliedsstaaten werden regelmäßig in Strategiepapieren der EU festgeschrieben. Die EU-Polizeizusammenarbeit wird allerdings selbst für deren Protagonisten immer undurchsichtiger.

Vor der Sommerpause hatte die EU-Kommission deshalb eine Übersicht über alle Informationssysteme veröffentlicht, in denen Personendaten gespeichert und getauscht werden. Größte Datenkrake ist die Polizeiagentur Europol (Europol wird internationaler Daten-Marktplatz). Die Behörde sammelt in "Analysedateien" (AWF) Dossiers über Verdächtige und ihre Kontaktpersonen, aber auch Opfer und Zeugen. 2004 gab es laut einer Europol-Jubiläumsschrift 19 "Analysedateien", die nach Kriminalitätsphänomen unterteilt sind. Erst dieses Jahr ist mit "Check the Web" eine AWF hinzugekommen. "Check the Web" steht seit 2007 unter deutscher Leitung und soll Informationen zu "islamistischem Terrorismus" zusammentragen. Das Portal enthält fast 400 Webseiten und inhaltliche Analysen zu Organisationen, die dahinter stehen sollen.

Mit der Umwandlung in eine AWF dürfen in "Check the Web" jetzt ebenfalls Personendaten abgelegt werden. Eine schrittweise Erweiterung soll auch hier folgen: Der EU-Terrorismus-Koordinator Gilles de Kerchové wünscht eine Integration der kurdischen PKK, während die belgische Ratspräsidentschaft ebenso Tierrechtsaktivismus und Rechtsextremismus aufnehmen möchte. Im Oktober soll ein Workshop in Brüssel Vorschläge hierzu erarbeiten. Um für eine Erweiterung von "Check the Web" auf andere Kriminalitätsbereiche genügend Druck aufzubauen, will die belgische Ratspräsidentschaft explizit auch jene Verfolgungsbehörden einladen die sich nicht nur mit der ursprünglichen Ausrichtung von "Check the Web" auf "islamistischen Terrorismus" beschäftigen.

Das Thema "Animal Rights Extremism" stand bereits 2007 auf der Tagesordnung einer Konferenz der früheren "Task Force der europäischen Polizeichefs". Europol hatte dort Erkenntnisse über "illegale Aktivitäten" referiert, woraufhin die Polizeiführer bei der Agentur eine Bedrohungsanalyse in Auftrag gaben. Als Ergebnis regte Europol kurz darauf die Ausweitung von Datensammlungen sowie regelmäßige Analysen an. Weitere "Produkte" von Europol sollten hierfür genutzt werden. Im April 2008 hatte Europol eine eigene Konferenz zu Tierrechtsaktivismus organisiert. Auch der Europäische Rat fordert ein "hohes Maß an Vorsicht und Wachsamkeit gegenüber Tierschutz-Extremisten" und verweist auf das Geheimdienstzentrum SitCen. Gegenwärtig erstellt Europol vierteljährliche Lageberichte zu "Animal Rights Extremism".

Taschenbücher und Comics gegen "Radikalisierung"

Auch im Bereich der Erfassung und Bekämpfung von "Radikalisierung" (EU will Datenbank zur Bekämpfung der "Radikalisierung" einrichten) bleibt der belgische Ratsvorsitz nicht untätig.

Zur Einführung eines "standardisierten, multidimensionalen semistrukturierten Instruments zur Erfassung von Daten und Informationen über die Radikalisierungsprozesse in der EU" veranstaltet die belgische Polizei nächste Woche eine Konferenz zur "Vorbeugung der Radikalisierung/des Terrorismus" im Rahmen des von der EU geförderten Projekts Community Policing Preventing Radicalism & Terrorism (CoPPra).

Ziel von CoPPra ist etwa das Erstellen eines "praktischen Taschenbuchs" für den "ersteingreifenden Polizeibeamten", der damit ulkig zu "frühzeitiger Aufspürung der Radikalisierung" befähigt würde. Ein Ausbildungsprogramm soll Polizeien aller Mitgliedstaaten mit dem Büchlein und seiner Handhabung vertraut machen.

Von deutscher Seite ist das Innenministerium Nordrhein-Westfalens durch dessen Polizei bei CoPPra beteiligt. Der NRW-Verfassungsschutz hatte letztes Jahr mit dem Comic Andi auf seinen Kampf "für Demokratie und gegen Extremismus" aufmerksam gemacht. "Andi" kolportiert einen Extremismusbegriff nach der Hufeisen-Theorie, die unterstellt, dass militanter linker politischer Aktivismus sich gleicher Mittel bediene wie Rechtsextremismus oder Islamismus. Mit dieser uferlosen Extremismusdefinition befindet sich das Innenministerium aus NRW jedenfalls in bester Gesellschaft mit dem EU-Projekt gegen "Radikalisierung", das zukünftig "extreme Rechte/Linke, Islamisten, Nationalisten, Globalisierungskritiker, etc." mit grenzüberschreitender Überwachung und Repression überziehen will.