Acht Amokläufe später

Zirkulär inszenierte Ursache-Wirkungs-Ketten und die Mitverantwortung von Politikern

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Am letzten Sonntag tötete die Rechtsanwältin Sabine R. im baden-württembergischen Lörrach ihren ehemaligen Lebensgefährten mit zwei Kopfschüssen. Danach feuerte sie auf Passanten, von denen sie zwei verletzte, und begab sich ins katholische Elisabethen-Krankenhaus, wo sie einen Pfleger erstach und einen Patienten verwundete, bevor sie selbst durch siebzehn Polizeikugeln starb. Auch der Tod ihres fünfjähriger Sohnes, der durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Schädel und durch Ersticken ums Leben kam, soll auf das Konto der Frau gehen.

"Motiv dringend gesucht" titelte der Spiegel zum Amoklauf der Einundvierzigjährigen, bei der man offenbar keine "Killerspiele" finden konnte, weil sie ihre Wohnung abbrannte. Tatsächlich dürfte das Motiv für die Tat möglicherweise in einem Bereich liegen, den eher das Patienten- oder das seit 1976 an einem "Zerrüttungsprinzip" ausgerichtete Familienrecht zu verantworten haben könnte, als ein angeblich mit zu wenigen Verboten ausgestattetes Jugendschutzrecht. Dass aus dem Motiv eine Tat werden konnte, liegt wiederum daran, dass die Frau durch ihre Mitgliedschaft in einem Sportverein nicht nur legal an Waffen kam, sondern auch mit Steuergeld gefördert üben konnte, wie man damit so umgeht, dass man Menschen töten kann.

Blick auf Lörrach vom Fernsehturm St. Chrischona. Foto: Wladyslaw Sojka. Lizenz: CC-BY-SA.

Führt man sich die spektakulärsten deutschen Amokläufe der letzten Zeit noch einmal vor Augen, dann fällt auf, dass der ganz überwiegende Teil der Täter mit Waffen hantierte, die eigentlich dem Sport dienen sollten.

Am 1. November 1999 tötete beispielsweise der sechzehnjährige Martin P. im beschaulichen bayerischen Gebirgsstädtchen Bad Reichenhall vier Menschen und verletzte sechs. Das Schießen hatte P. von seinem Vater gelernt, einem organisierten Sportschützen. Im Haus des Vaters fand die Polizei insgesamt 19 Waffen - 17 davon bewahrte der Mann legal dort auf. Trotzdem stürzten sich die deutschen Medien nicht auf diese Waffen, sondern auf "Computerspiele", die die Polizei im Zimmer des Schützen fand. Um welche Spiele es sich dabei genau handelte, wurde allerdings nie an die Öffentlichkeit gegeben.

Im Jahr darauf, am 16. März 2000, brachte der sechzehnjährige Michael F. im Luftkurort Brannenburg den Leiter des Internats, in dem er zur Schule ging, und anschließend sich selbst um. Die beiden Waffen, die er bei sich führte, hatte er dem Waffenschrank seines Vaters entnommen, der in drei Schützenvereinen Mitglied war. Ob Michael F. einen Computer hatte, ist nicht bekannt.

Am 19. Februar 2002 erschoss der zweiundzwanzigjährige Adam L. in den Münchener S-Bahn-Vororten Eching und Freising den Direktor seiner alten Schule und zwei ehemalige Arbeitskollegen. Auch in seinem Fall fand man offenbar keine "Killerspiele". Dafür galt L. als "Waffennarr" und hatte sich seine Tatwerkzeuge ohne behördliche Genehmigungen besorgt.

Gut zwei Monate später, am 26. April 2002, ermordete der gescheiterte Gymnasiast Robert S. an einer Erfurter Schule acht Lehrerinnen, vier Lehrer, eine Schülerin, einen Schüler, eine Sekretärin, einen Polizisten und sich selbst. S. war seit 2000 Mitglied im Schützenverein Domblick e. V. und im Polizeisportverein, wo er einen Großteil seiner Freizeit bei Schießübungen verbrachte. Die beiden Waffen und die Munition, die er für seine Tat benutzte, hatte er rechtmäßig erworben und ordentlich angemeldet.

Am 2. Juli 2003 schoss ein Sechzehnjähriger im nordbayerischen Coburg auf seine Klassenlehrerin, traf sie aber nicht. Nachdem er anschließend eine Psychologin verletzte, tötete er sich selbst. Gut drei Jahre später, am 20. November 2006, verletzte der achtzehnjährige Bastian B. an der Geschwister-Scholl-Realschule im nordrhein-westfälischen Emsdetten fünf Menschen mit Schusswaffen. Anschließend beging er Selbstmord. Obwohl Aufzeichnungen und Aussagen von Mitschülern darauf hindeuten, dass wahrscheinlich Mobbing das Motiv für die Tat wahr, kündigte der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann eine Bundesratsinitiative zum Verbot von "Killerspielen" an, die B. angeblich zur Tat trieben.

Am 12. März 2009 nahm der siebzehnjährige Tim K. im schwäbischen Winnenden 15 Menschen das Leben und verletzte 11. Die Tatwaffe, eine Beretta, hatte K. von seinem Vater, einem passionierten Sportschützen, den er zu Schießübungen in seinem Verein begleitete. Politiker und Medien stürzten sich allerdings weniger darauf, als auf Gerüchte, dass auf K.s Rechner unter anderem die Computerspiele Far Cry 2, Counter-Strike und Tactical Ops installiert waren.

Gegen empirische Kritik immun

Bereits 2002 warnte Jochen Bott in Telepolis vor der "Zeitbombe Schützenvereine": Weil die Vereine zu eng mit den großen Parteien verbunden seien, so Bott, würden Politiker die sich schon damals geradezu aufdrängenden notwendigen Maßnahmen nicht angehen und stattdessen billige Sündenböcke ohne Lobby brandmarken: Computerspiele. Flankiert wurde die Politik dabei besonders vom Bildschirmmedium Fernsehen, das an den Vorfällen in Erfurt beispielsweise regelmäßig Counter-Strike die Schuld gab, obwohl dies der Amokläufer gar nicht spielte. Die Schuldzuweisung klappte auch deshalb so gut, weil solche Spiele Teil des jugendkulturellen Mainstreams und entsprechend weit verbreitet sind. "Tim K.", so dämmerte es der Taz im vorigen Jahr, "wäre ein ziemlich 'auffälliger' junger Mann gewesen, hätte er sich für [...] diese Dinge nicht interessiert."

Die zahlreichen Studien zur Medienwirkungsforschung belegten bisher wenig mehr als ihre eigene Untauglichkeit. Fest steht lediglich, dass die Unterschiede zwischen einem Mausklick und dem Schießen mit einer echten, schweren Waffe ein immenser Unterschied besteht. Bei Sportspielen oder bei Guitar Hero käme niemand auf die Idee, diesen Unterschied ernsthaft zu bestreiten. Bei Shootern dagegen ist dies möglicherweise deshalb leicht möglich, weil ein Großteil der Bevölkerung zwar das Fußball- oder Gitarrespielen aus eigener Übung kennt, nicht jedoch das Abfeuern einer Schusswaffe.

Trotzdem des - vorsichtig formuliert - hochgradig spekulativen Zusammenhangs zwischen Amokläufen und "Killerspielen" wurde das Jugendschutzrecht 2003 und 2008 erheblich verschärft. Seitdem werden Computerspiele für den deutschen Markt noch sehr viel stärker verstümmelt als vorher. Die neuen Rechtslagen wurden jedoch keiner Evaluation unterzogen. Stattdessen argumentiert man ähnlich wie in ausgestorbenen Kulturen, die Klima und Menschenopfer als zusammenhängend ansahen: Wenn es trotz Menschenopfern Ernteausfälle gab, dann glaubten deren religiöse Führer nicht, dass sie ihre Erklärung überdenken sollten, sondern nur, dass zu wenige Menschen geopfert wurden. In beiden Fällen - bei den ausgestorbenen Kulturen wie bei Politikern - sind, wie dies der Soziologe Christoph Deutschmann einmal formulierte, "die Ursache-Wirkungs-Ketten zirkulär inszeniert und damit gegen empirische Kritik immun."1

Trotz der Tatsache, dass Deutschland Gewaltdarstellungen weitaus umfassender zensiert als andere westliche Länder, kommen Amokläufe hierzulande verhältnismäßig häufig vor. Dass viele als Erklärung infrage kommende Ursachen (wie etwa das Schulsystem) von der Politik praktisch ausgeblendet werden, ist eine Nachlässigkeit, die möglicherweise Leben kostete. Ganz unabhängig von den Ursachen für die Amokläufe gesichert ist dagegen die Erkenntnis, dass ein Großteil der Taten durch die Privilegierung von Sportvereinen erst möglich wurde.

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