"Die Welt der Armen ist brutal"

Wie sich der Segen der Mikrokredite in einen Fluch verwandeln kann

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Mikrokredite beseitigen die Armut in der Welt. Manchen gelten sie als Wundermittel. Nicht ohne Grund wurde dem aus Bangladesch stammenden Ökonom Muhammad Yunus und der von ihm gegründeten Grameen Bank 2006 der Friedensnobelpreis zuerkannt. War er es doch, der durch die Entwicklung eines Kreditwesens für die Ärmsten der Welt Hoffnung in Dörfer und Städte in den unterentwickelten Regionen brachte. Gleichwohl hat sich in den vergangenen Jahren eine ganze Finanzindustrie in diesem Bereich entwickelt - die Auswirkungen auf die Bevölkerung zeigen immer mehr die Grenzen dieses Modells auf.

Die Geschichte der Mikrokredite begann in den 1980er Jahren in Bangladesch und ist schnell erzählt. Muhammad Yunus reiste mit einer Gruppe von Studenten in ein Dorf. Dort berichtete ihm eine Frau davon, wie sie als Korb- und Stuhlflechterin in der Abhängigkeit ihres Kunden stünde. Dieser würde ihr das nötige Geld zum Kauf der Materialien leihen, um dann die Körbe und Stühle für einen lächerlich geringen Preis abzukaufen. Sie selbst hatte keine andere Möglichkeit an die entsprechenden Rohstoffe heranzukommen. Ihr fehlte schlicht das nötige Kapital.

Yunus lieh ihr das Geld. Sie besorgte sich davon, was sie brauchte, und anschließend konnte sie ihre Waren selbst auf dem Markt verkaufen, erzielte dadurch einen deutlich besseren Gewinn und war in der Lage, den Kredit schnell zurück zu bezahlen. Anschließend lief ihr Geschäft von alleine. Durch den Verkauf ihrer Waren konnte sie den Neukauf der Rohmaterialien finanzieren. Der erste Mikrokredit sorgte so dafür, dass eine bis dahin völlig verarmte Person nun auf eigenen Beinen stand.

Der Erfolg Yunus' hat sich in den folgenden Jahren weit herumgesprochen. Dabei entdeckten nicht nur Hilfsorganisationen dieses Prinzip, auch private Investitionsunternehmen erkannten sehr schnell, dass hier einiges an Geld zu verdienen war. „Wir haben Mikrokredite geschaffen, um Kredithaie zu bekämpfen“, sagte Yunus unlängst, „Wir haben sie nicht geschaffen, um neue heranzuzüchten“.

„Mikrofinanz ist keine heile Welt“

Denn für viele derer, für die die Mikrokredite als Möglichkeit zur Flucht aus der Armut geschaffen wurden, hat sich der Segen der Mikrokredite in der Zwischenzeit in einen Fluch. Dr. Peter Wolf, Abteilungsleiter „Weltwirtschaft und Entwicklungsfinanzierung beim Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) sagte gegenüber Telepolis: „Mikrofinanz ist keine heile Welt“.

Seit den 1990 Jahren sind Mikrofinanzinstitute wie Pilze aus dem Boden geschossen. In dem Markt für Mikrokredite ist ein beträchtliches Wachstum vorhanden. Allein in Indien wächst diese Industrie jährlich um 80 bis 100 Prozent pro Jahr. Da viele der Mikrokreditinstitute jedoch keine Spareinlagen verwalten dürfen, fehlt ihnen die Kapitalausstattung. Private Investoren aus Europa oder den USA, wie die Citigroup oder die Allianz sind in diese Bresche gesprungen.

In Mexiko werden derzeit Kredite angeboten mit einem Zinssatz von bis zu 100 Prozent. Zinssätze bis zu 70 Prozent werden üblicher. Solche Zinsen führen immer wieder dazu, dass sich einzelne Kreditnehmer überschulden.

Der Zwang der Bürgen

Das Hauptproblem, welches dann entsteht liegt jedoch nicht in der Armut selbst, die zurückkehrt. Vielmehr ist es das System der Kreditvergabe, welches die Leute vor unlösbare Schwierigkeiten stellt. Denn Mikrokredite werden zur Absicherung immer nur an Gruppen vergeben. Diese Gruppen bürgen für einander. Sollte ein Gruppenmitglied nicht mehr in der Lage sein, seinen Kredit samt der Zinsen zurückzuzahlen, müssen die anderen der Gruppe dafür geradestehen.

Anfänglich wurde dieses System implementiert, damit sich die Kreditnehmer bei Problemen gegenseitig unterstützen. Aber eben auch, um sie dazu zu bewegen, immer pünktlich zu zahlen. Dabei kommt es jedoch immer wieder zu dramatischen Fällen. Denn wenn ein Kreditnehmer in eben diese Situation kommt, wird der Druck durch die Gruppe immens. Entweder müssen diese Menschen dann aus ihren Dörfern fliehen oder sie begehen Selbstmord, wenn auch dieser Ausweg versperrt ist. Ein Großteil der Investoren geht davon aus, dass die vergebenen Kredite immer pünktlich zurück gezahlt werden, da die Kreditnehmer ansonsten Ärger mit ihren Bürgen bekommen.

Subprime und riskant

„Die Welt der Armen ist brutal“, erklärt Wolf das System innerhalb der Dörfer. Kredite seien in der Dritten Welt ebenso ein Finanzinstrument, wie in Europa oder den USA auch. „Kredit ist kein Allheilmittel, der eine kann ihn gut verwenden, der andere nicht“, so Wolf. Mikrokredite haben zwar das Ziel durch eine Investition zusätzliche Einnahmen zu generieren, dies sei jedoch nur ein Effekt.

Der Haupteinsatz von Mikrokrediten läge im Ausgleich von Armutsschwankungen. Fällt in einem Jahr die Ernte schlecht aus, kann mit einem Mikrokredit die Familie über den Winter gebracht werden. Ist im Folgejahr die Ernte wieder besser, kann mit den dann erwirtschafteten Gewinnen der Kredit zurückbezahlt werden.

Wolf sieht die Entwicklungschancen mittels Mikrokrediten dabei durchaus positiv. Denn auch ein Einkommensausgleich in schwierigen Situationen lindere die Armut. Wer jedoch in diesem Bereich investieren wolle, dürfe sich nicht von den Hochglanzprospekten der Finanzunternehmen blenden lassen. Die lächelnden Frauen in Saris seien immer auch eine Werbeplattform. „Man muss genau hinschauen, welche Standards das Unternehmen setzt und wie seine Bilanz aussieht.“

Ebenso müsse sich ein Investor immer vor Augen halten, dass solche Kredite subprime seien und entsprechend riskant. Gleichwohl stellen sie, auch bei aller angebrachten Kritik, ein durchaus sinnvolles Mittel zur Armutslinderung dar. Sie dürfen nur nicht als Allheilmittel betrachtet werden, das nur in ausreichender Menge angewendet werden muss und anschließend ist das Problem gelöst.