Von der Krise in den Krieg

Die Friedensbewegung debattiert den Zusammenhang zwischen der Weltwirtschaftskrise, Rüstung und dem nuklearen Waffenarsenal

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Für die einen ist es eine unzulässige Zuspitzung, für die anderen eine Selbstverständlichkeit: die Frage nach einem Zusammenhang zwischen der aktuellen Weltwirtschaftskrise und einer weltweit wachsenden Gefahr militärischer Auseinandersetzungen. In zunehmendem Maße wird diese Debatte auch in etablierten Friedensorganisationen geführt. So beherrschte die globale Krise auch den diesjährigen Weltkongress der Ärzte- und Friedensorganisation IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung) im schweizerischen Basel. Ende August trafen sich in der dortigen Universität rund 800 Mitglieder und Gäste der 1980 gegründeten Organisation, die inzwischen in 62 Ländern präsent ist. Die These, dass Frieden nur mit Gerechtigkeit in Wirtschaft und Handel zu erreichen ist, wurde dabei vor allem von Referenten aus den Ländern des globalen Südens vertreten. Dabei steht die Debatte erst am Anfang.

Eine atomare Auseinandersetzung sei "die extremste mögliche Form von Waffengewalt", heißt es in einer Erklärung, die zugleich auf die weltweite Zunahme von Kriegen und Konflikten verweist. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben Kriege und andere Arten militärischer Interventionen etwa in Irak, Afghanistan, den Balkan-Staaten, ehemaligen Sowjet-Republiken, dem Nahen Osten, Afrika, Südasien und Lateinamerika Millionen Menschenleben gefordert, vor allem von Zivilisten.

Auch die Weltgesundheitsorganisation habe die verschiedenen Formen von Gewalt, auch militärischer Gewalt, als ein "ernsthaftes und vermeidbares Gesundheitsproblem" angesehen. Die Gründe für bewaffnete Konflikte, so die WHO, müssten besser verstanden werden, um gesundheitliche Folgen zu vermeiden. "Frieden, Sicherheit und Freiheit sind das Recht aller Menschen", heißt es in der IPPNW-Erklärung. Der beste Weg, diese Ziele zu erreichen, sei die Erfüllung der Millenniumsziele der UNO, stellte die Ärzteorganisation nur wenige Wochen vor der UNO-Folgekonferenz fest, in der in dieser Woche quasi das Scheitern dieser Ziele zur Armutsbekämpfung bis 2015 eingestanden wurde.

"Sehr viel gefährlicher als in den 1930er Jahren"

Vor allem Vertreter der Ärzte- und Friedensorganisation aus postkolonialen Staaten warnten in Basel vor einer internationalen kriegerischen Eskalation. "Der Neoliberalismus hat die globale Krise zwar verursacht", sagte der indische Politikwissenschaftler Achin Vanaik von der Dehli-Universität, den Kapitalismus bedrohe er aber nicht. Vanaik verwies auf derzeit 50.000 US-Militärbasen weltweit. Friedensorganisationen müssten den Kampf gegen Atomwaffen und Militarisierung deswegen mit dem Einsatz für Gerechtigkeit verbinden. Das Weltsozialforum sei dabei einer der möglichen Bündnispartner.

Nach Ansicht des ehemaligen Botschafters Nicaraguas in Washington, Antonio Jarquín, gibt es weltweit verschiedene Konfliktherde und Erscheinungsformen der globalen Krise. "Zu der Finanzkrise kommt eine Handelskrise, eine Energiekrise, eine Ernährungskrise, eine Umweltkrise", sagt Jarquín, der rund zwei Dutzend verschiedene Problemlagen anführte. Das mache die aktuelle Lage noch sehr viel gefährlicher als die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre.

Gerade Lateinamerika erlebe derzeit eine massive Militarisierung durch die USA, auch Europa sei vor dieser Entwicklung nicht gefeit. "Ich gehe davon aus, dass die kommenden Konflikte in Asien rasch auf Europa übergreifen können", so Jarquín. Der Kampf gegen die Krise sei "untrennbar vom Kampf gegen die Militarisierung", sagte – wie der Inder Vanaik – auch er. Der kubanische Arzt und Friedensaktivist Carlos Pazos führte eine Einschätzung des belgischen Soziologen und Theologen Francois Houtart an: Der Kapitalismus sei in seine bewaffnete Phase eingetreten. "Nicht jede Wirtschaftskrise hat in der Vergangenheit in einen Krieg geführt", so Pazos gegenüber Telepolis, "aber jeder Krieg hat mit einer Wirtschaftskrise begonnen."

Schweiz fordert atomare Abrüstung

Vor diesem Hintergrund drängen auch Vertreter unabhängiger westlicher Staaten stärker auf einen Abbau der enormen Atomwaffenbestände. Zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges lebe die Welt weiterhin unter dem Damoklesschwert der Nuklearwaffen, sagte in Basel die Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey. "Diese Waffen können binnen weniger Minuten alles zerstören, was wir bewahren wollen: unsere Leben, unsere Umwelt, unsere Kultur, die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder", mahnte die Politikerin. Calmy-Rey erinnerte daran, dass ein Großteil der enormen Atomarsenale – vor allem in den USA und Russland – nach wie vor einsatzbereit sind und binnen weniger Minuten eingesetzt werden können. Einige Staaten modernisierten ihre Bestände sogar.

"Die größte Herausforderung auf lange Sicht aber sind die Sicherheitsdoktrinen der Atomwaffenstaaten", sagte die Außenministerin der Schweiz, deren Regierungen schon während des Kalten Krieges für atomare Abrüstung warben. Während allen Beteiligten die apokalyptische Bedrohung durch Atomwaffen deutlich sei, halten die Atomwaffenstaaten in ihren verteidigungspolitischen Richtlinien auch zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges an der Möglichkeit des Einsatzes dieser illegalen Massenvernichtungswaffen fest. Dies, so Calmy-Rey, sei der Kern des Problems, auch weil Länder, die bislang über keine Atomwaffen verfügen, zur Aufrüstung angespornt werden.

Nicht nur in Calmy-Reys Ausführungen spielte – auch wenn dies nicht explizit erwähnt wurde – der Streit zwischen den USA und Iran eine Rolle. Ein regionaler atomarer Konflikt sei derzeit das "wahrscheinlichste Szenario", sagt die Außenministerin. Doch auch diese mögliche Entwicklung hätte verheerende globale Folgen.

Der Onkologe und Präsident der Schweizer Sektion der IPPNW, Claudio Knüsli, erinnerte indes an einen Appell des ersten Arztes, der als erster ausländischer Arzt das japanische Hiroshima nach dem Einsatz der Atombombe durch die USA besucht hat. "Machen Sie mit der Atomenergie das gleiche wie mit Giftgas: Verbieten Sie ihren Gebrauch in Kriegen."

Russland: Nur gemeinsame Sicherheitspolitik hilft

Spannend war in Basel vor diesem Hintergrund vor allem die Wortmeldung von russischer Seite. Moskau hat mit den Erbe der Sowjetunion schätzungsweise 16.000 atomare Sprengköpfe übernommen und damit mehr Nuklearwaffen als die geschätzten 10.000 alten Atombomben in den US-Arsenalen.

Während der russische Präsident Dmitri Medwedew den Kongressteilnehmern ein Grußwort zukommen ließ, in dem er die nukleare Abrüstung grundsätzlich befürwortete, wurde Russland UN-Botschafter Valery Loshchinin konkreter. "Bei der vollständigen Beseitigung aller Atomwaffen können wir nur dann Fortschritte erzielen, wenn es uns gelingt, ein dafür angemessenes internationales Klima zu schaffen", sagte der Diplomat. Russland sei der festen Überzeugung, "dass jegliche Schritte zur nuklearen Abrüstung in Übereinstimmung mit dem Prinzip einer gleichen und unteilbaren Sicherheit getan wird en müssen". Dabei ging der Diplomat nicht auf sicherheitspolitische Debatten ein, die auch in Russland den Einsatz von Atomwaffen vereinfachen soll.

Die Debatte soll nun in Friedensorganisationen fortgeführt werden. In der Tat treffen – so zeigte sich in Basel – verschiedene gefährliche Komponenten aufeinander. Die enormen Atomwaffenbestände aus der Zeit des Kalten Krieges bestehen fort, während die globalen Auseinandersetzungen um Rohstoffe zunehmen. Schon jetzt ist nicht nur der Einsatz von Nuklearwaffen Teil der militärpolitischen Richtlinien, sondern eben auch das Ziel, den Zugang zu den immer knapper werdenden Ressourcen zu wahren.

Während die nukleare Gefahr – anders als von 1989/90 – aus dem öffentlichen Bewusstsein fast verschwunden ist, ist die Gefährdungslage theoretisch größer als noch während der Blockkonfrontation.