Stuttgart21: Was den Bürgerprotest mit der Finanzkrise verbindet

Die seltsame Wiedergeburt der sparsamen schwäbischen Hausfrau

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Bei Stuttgart21 geht es längst um mehr als um ein lokales Bauprojekt. Wenn die Kosten aus dem Ruder laufen und der Nutzen umstritten ist, tritt der mündige Finanzbürger auf den Plan und greift unerwartet ins große Räderwerk der Politikmaschine ein. Ist es der Beginn von mehr direkter und "liquider" Finanzdemokratie"?

Nun hat die von Angela Merkel bereits während der Finanzkrise so plakativ beschworene tugendhafte und sparsame schwäbische Hausfrau den Zeigefinger erhoben. Weil sie um ihr Erspartes für sich und für künftige Generationen fürchtet. Zuvor sollte man jedoch das Kleingedruckte im damaligen Interview der Kanzlerin mit der FAZ genauer lesen:

Wenn die schwäbische Hausfrau eine kranke Familie hat, dann wird sie, um Medikamente kaufen zu können, notfalls auch Schulden aufnehmen. Denn das Wichtigste ist, dass ihre Familie wieder zu Kräften kommt. Dann erst wird sie die alten Tugenden wieder beherzigen können.

Angela Merkel

Die Argumentation der Befürworter von Stuttgart21 gleicht genau diesem argumentativen Strickmuster. Motto: Wir müssen jetzt mit Hilfe des neuen Kopfbahnhofes mehr und immer mehr Geld in unsere eigene Zukunft investieren, um später für unsere Kinder lebenswerte Verhältnisse vorzufinden. Es ist das Gebot der Globalisierung und der Wettbewerbsfähigkeit, dessen unausweichliche Schicksalhaftigkeit uns jedoch durch die Finanzkrise längst ad absurdum geführt worden war.

Und jetzt auch das noch: Von der Auflösung des Stuttgarter Landtages ist mittlerweile sogar die Rede - und von anderen Ungereimtheiten bei der Auftragsvergabe und dem rechtskonformen Prozedere. Vor allem aber hat die an den Rändern ziemlich ausgefranste Kostenkalkulation, symbolhaft ausgedrückt, die schwäbische Hausfrau auf die Barrikaden getrieben.

Wer so schlecht rechnet, dem muss man doch viel sorgfältiger als bislang auf den Taschenrechner schauen, dachten die Bürger und stellten das Projekt plötzlich in Frage. Die Massen kamen und hatten das Gefühl, dass sich ohne ihr Engagement ein kleiner Virus zum Krebsgeschwür auswachsen würde, das keiner mehr los wird.

Gerade im Netz bilden sich neue Formen der Einflussnahme in Gelddingen mit Blick auf die Politikkaste heraus, analog zum Vertrauensverlust bei anderen Institutionen, wie den Kirchen oder den Banken. Bröckelt da etwa die Vertrauensbasis der Eliten, die sich letztlich bis zur nächsten Wahl auf die Passivität der Menschen verlassen konnte?

Die Debatte um Stuttgart 21, den neuen, ein "paar" Milliarden Euro teuren Stuttgarter Hauptbahnhof, sie tobt nicht nur vor Ort, sondern auch im Internet oder hier. Es eine Live-Webcam, es wird getwittert, die "Protestler" verabreden sich über SMS, Twitter, Facebook und andere mobile Kanäle.

Einige Politiker wachten irgendwann befremdet auf. Sie befürchteten sogar, dass die Kritiker im Netz massiv in der Überzahl seien. Eine bis dato politisch unverdächtige Generation probte neue Spielregeln der Bürgerbeteiligung. Und ein ganzes Land verstand nur noch Bahnhof.

Dies musste irgendwann zu ernsthaften Reaktionen und Konsequenzen führen. Denn während die Gegner sich auf unzähligen Plattformen austauschten und verbanden, dauerte es, bis auch bei den Befürwortern ganze PR-Stäbe aktiv wurden, um die öffentliche Meinung für das Megaprojekt auf ihre Seite zu ziehen.

Einen Überblick über die Aktivitäten findet sich etwa auf dem Weblog Metronaut, der die Frage aufwirft: Mit PR-Agenturen gegen Demonstranten? Was die von dem Projekt immer noch euphorisierten Macher jenseits der formaljuristischen Argumente bislang übersahen: Die Bewegung aus der Mitte der Gesellschaft ist vor allem der Ausdruck von wachsendem Frust.

Ein nicht geringer Teil der Bürger stellt sich die Frage, ob der Staat vernünftig mit dem Geld seiner bislang so braven Gefolgschaft umgeht. In welche sinnvollen oder unsinnigen Projekte investiert er die Steuermittel? Wer kontrolliert die Black Box der staatlichen Finanzbehörden?

Die Vermutung der Bürger: Durch Stuttgart21 wird der angeblich wirtschaftlich kränkelnde Patient nie wieder gesund. Irgendetwas mag an der sozialen Umverteilung schief laufen. Es ist zweifellos der Beginn von etwas Neuem, was viele bislang nur vage und theoretisch mit dem Begriff "direkte" bzw. "liquide" Demokratie verbanden. Auf dem virtuellen Fahrplan versammelten sich ad-hoc gebildete neue Communities, wie auf Facebook Kein Stuttgart21.

Da kam zunächst die geballte Informationskraft der offiziellen Twitter-Seite Stuttgart21, in der einige außerfahrplanmäßige Verspätungen im Bauplan gemeldet wurden, nur wie ein laues Lüftchen daher. Die zeitgemäße Abfahrt in das virtuelle Zeitalter der Bürgerbeteiligung 2.0 verpasst, rief so mancher den planerisch tätigen S21-Zugschaffnern zu.

Unter den Protestlern ist auch der Schauspieler Walter Sittler, den der Berliner Tagesspiegel portraitiert. Die Süddeutsche Zeitung zitiert ihn mit den Worten "Weitermachen ist Sturheit" – und der Stern titelt in einem Interview mit dem Schauspieler "Kalte Wut nach innen".

Welche Lektionen "Wohlstandsbürger" erteilen

Werfen wir zwischendurch einen Blick ins Ausland. In Großbritannien, wo die Bürgerbeteiligung ebenfalls zarte Pflanzen austreibt, scheint eine zentrale Verwaltungsnummer 115 nicht mehr auszureichen. Kein Anschluss unter dieser Nummer.

Der Erfinder des WWW, Tim Berners-Lee, beleuchtet in einem Interview mit den VDI-Nachrichten die Potenziale der virtuellen Bürgerbeteiligung 2.0, auch mit Blick auf die öffentliche Verwaltung und das Ausgabenmanagement. Ein Auszug:

VDI nachrichten: Wie lässt sich das auf die Managebarkeit von Wirtschaft, Ökologie oder Politik übertragen. Lässt sich mit dem semantischen Web das Vakuum füllen, das entsteht, wenn den Verantwortlichen Kompetenzen und Fakten fehlen?

Schon die existierenden Werkzeuge für das semantische Web sind nützlich genug, um in Nachhaltigkeit einzusteigen. Beispielsweise im Bereich Politik: Vor etwa einem Jahr hat mich der damalige Premierminister Gordon Brown gefragt, was Großbritannien im Web tun soll und ich habe ihm vor allem eins geraten: Stellen Sie Ihre Daten ins Netz. Er hat zugestimmt und seitdem können Bürger nicht nur die Seiten der Regierung im Netz besuchen, sondern haben auch Zugriff beispielsweise auf Haushaltsdaten. Heute kann jeder Interessierte in Großbritannien sehen, wie ein Ministerialbeamter seine Projekte finanziert und in welchen Gremien er sitzt.

Nach den jüngsten Wahlen hat die neue Regierung diesen Kurs fortgeführt und sie stellte die so genannten Coins-Daten ins Netz, eine Datenbank der Ausgaben des Finanzministeriums. Nun sind solche Daten für fiskalische Laien nur schwer zu verstehen. Genau hier kommt das semantische Web ins Spiel. Die Londoner Tageszeitung "The Guardian" nahm die Daten, verknüpfte sie mit einer Auswertungs- und Darstellungssoftware und stellte das Ganze als einfachen Service auf ihre Webseite. So entstehen neue nützliche Anwendungen, weil die Daten vom Werkzeug getrennt sind. Die Regierung musste den Bürgerservice nicht selbst bauen, sondern es kam ein Dritter, hier "The Guardian", sah in dem Service eine gute Ergänzung seines Geschäftsmodells, und veredelte die Daten. Und natürlich sind diese Werkzeuge universal anwendbar. Sie warten nur darauf, mit weiteren Daten gefüttert zu werden.

VDI-Nachrichten

Nun wollen wir diesen britischen Ansatz natürlich nicht unisono in den Himmel loben. Zudem dürfte manches, was der Erfinder des WWW in den Raum stellt, nur schwer praktikabel sein. Aber die Richtung dürfte stimmen. Kehren wir also zurück in heimische Gefilde am Beispiel von Stuttgart21. Wenn der Staat seine Bürger nicht produktiv in den Geldkreislauf einbindet, dann manifestieren sich im Netz alternative Protestformen. Das aber wäre nun zum gelegentlich wenig kreativen Mitteleinsatz in der öffentlichen Verwaltung eine ausgesprochen gute Nachricht.

Die durch Stuttgart21 ausgedrückte emotionale Stimmungslage gibt die Befindlichkeit einer ideologisch unverdächtigen, gebildeten und nicht nur jungen Mittelschicht wider, die gängige Spielregeln vor allem mit Blick auf die Generationengerechtigkeit bzw. die Verteilung von staatlichen Investitionen in Schlüsselbereiche unserer Gesellschaft infrage stellt. Ein gradueller Übergang zu einer real bedeutsamen Partizipation dürfte indes nur gelingen, wenn parallel zu äußerem Druck sich das System von innen heraus kreativ wandelt.

Neue Spielformen von direkter Mitbestimmung

Jede Form einer stärker von unten nach oben gestalteten "direkten Finanzdemokratie" bedeutet indes für alle Beteiligten eine kontinuierliche Anstrengung. Sie erfordert den mündigen Bürger, der sein eigenes Finanzverhalten produktiv steuert, der sich also nicht selbst bereitwillig zum willenlosen Opfer deklariert, sondern sich mühselig engagiert. Erste Ansätze wie die Open-Government-Bewegung sind bereits erkennbar.

Der Beitrag lässt sich auf den kurzen Nenner bringen, dass durch eine offene Diskussion mit Hilfe des Internets sich die Eskalation bei Stuttgart 21 zumindest hätte vermeiden lassen. Es wird nach Meinung der Protagonisten höchste Eisenbahn für mehr Finanzdemokratie. Am Credo, gewählte Volksvertreter selbst über das Wohl und Wehe von Großprojekten entscheiden zu lassen, dürfte sich indes kaum rütteln lassen.

Es wird trotzdem bald mehr derartige Beispiele geben. Die Stadt Essen rief Anfang des Jahres ihre Bürger dazu auf, sich an der Beratung zum Doppelhaushalt 2010/2011 zu beteiligen. Ein kreativer Wettbewerb um gute Ideen soll so in Gang kommen, wenn sich professionelles Fachwissen und der externe Bürgerblick sinnvoll ergänzen. Wo also liegen die Grenzen für eine durch das Internet zwar einerseits durchlässigere, aber gleichsam auch flüchtige Finanzdemokratie?

Nehmen wir den vom polnischen Soziologen Zygmunt Bauman geprägten Begriff der "flüchtigen oder verflüssigten Moderne" auf, der den Begriff der liquiden Demokratie beeinflusst. Man kann ihn aber genauso gut als Ausflucht aus der direkten gesellschaftlichen Verantwortungsübernahme interpretieren. Dieser Trend kontrastiert jedoch gleichzeitig mit dem Bemühen einer zunehmend flügge gewordenen Bürgerschicht, sich produktiv in die Finanzkreisläufe einzuklinken.

Die heutigen Machtverhältnisse in der Postmoderne vergleicht Bauman jedoch mit der Geschwindigkeit elektronischer Signale, die nur schwer greifbar seien, da sie exterritorial und physisch unabhängig voneinander senden und empfangen. Die elektronische Welt besitze somit das Potenzial, jenseits von nationalen Grenzen durch Raum und Zeit zu navigieren, die einst in der Moderne durch Kriege, Grenzkontrollen und Machtblöcke streng verteidigt worden seien.

Das klingt diffus. Eine schlüssige Theorie für vieles, was sich derzeit im virtuellen Raum der liquiden Demokratieentwürfe ereignet, gibt es noch nicht. Fest steht aber: Eine über soziale Netzwerke sich organisierende Bürgerbewegung wird die Wirtschaft und Politik nachhaltig beeinflussen. Blickt man auf die alte Parteienlandschaft in der Bundesrepublik, so herrscht analog zur Bankenlandschaft ein großes Misstrauen gegen die etablierten Standesvertreter.

Dies begünstigt das Wachstum einer neuen, direkt über das Internet sozial vernetzten Bürgerbewegung, die kaum mehr eine Gemeinsamkeit mit den historischen Wurzeln früherer Bewegungen wie den "68ern" aufweist. Die im Netz sich tummelnden Menschen betrachten soziale Netzwerke als einen integralen Bestandteil ihres Lebens – und keineswegs als rein technisches Werkzeug. Folgerichtig überträgt sich diese Tendenz auch auf den Umgang mit Geld, jenseits von einer nebensächlichen Stil- und Kulturtechnik.

Gelingt es den etablierten Staats- und Wirtschaftslenkern nicht, die Bedeutung des Internets als eigenständigen und schützenswerten Lebensraum anzuerkennen und zu stärken, dann erscheint es unausweichlich und sogar wünschenswert, dass sich autonome Bestrebungen deutlich stärker ins Netz verlagern. Es birgt einerseits eine große Aura der Unberechenbarkeit in sich, um zu prognostizieren, wie der Bürger im Netz zwischen den Polen von mehr staatlicher Überwachung, Werbemüll und mehr Nutzerautonomie hin und her pendelt.

Versagen staatliche Institutionen und Akteure in der Wirtschaft in den nächsten Jahren gleichermaßen bei der Bewältigung von zentralen Zukunftsaufgaben und schwindet das Vertrauen der Menschen in das demokratisch von oben regierte System weiter, dann wird sich eine neue soziale Bewegung über Netzelemente von Bürgerbeteiligung und Selbstverwaltung weiter dynamisieren und verselbstständigen.

Die ohnmächtigen Steuerzahler könnten als Akteure somit direkt in die Geldkreisläufe von Wirtschaft und Politik eingreifen. Wenn die Eliten und Leistungsträger überwiegend zum Schuldenmachen und nicht sorgfältig durchdachten Umgang mit Ressourcen und Steuermitteln tendieren, statt zum produktiven Gärtnern, dann dürfte das Internet zweifellos das globale Amphitheater ohne Dach sein, in dem soziale Verteilungskämpfe künftig anberaumt werden.

Dies betrifft insbesondere die kreativ und Anspruchs orientierten mittleren sozialen Schichten mit einem Drang zur Verantwortungsübernahme, die sich verstärkt finanziellen sozialen Netzwerken zuwenden könnten, um darin neue Chancen wahrzunehmen, die ihnen erstarrte Strukturen nicht mehr offerieren. Positiv betrachtet bietet dies viele neue Chancen. Alternative Lebensentwürfe jenseits überholter Dogmen im Umgang mit dem Geld könnten sich neuen Raum schaffen.

Lothar Lochmaier arbeitet als Freier Fach- und Wirtschaftsjournalist in Berlin. Zu seinen Schwerpunkten gehören Umwelttechnik, Informationstechnologie und Managementthemen. Mit Kommunikationsabläufen und neuen Organisationsformen in der Bankenszene hat sich der Autor in zahlreichen Aufsätzen beschäftigt. Im Mai 2010 erschien von Lothar Lochmaier das Telepolis-Buch: Die Bank sind wir - Chancen und Zukunftsperspektiven von Social Banking. Er betreibt außerdem das Weblog Social Banking 2.0.