Vom Rassismus und Sexismus zum Klassismus

Der Soziologe Andreas Kemper über Klassismus und die Alltäglichkeit von Diskriminierung und Exklusion

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In Zeiten, in denen die Feministin Judith Butler den "Zivilcouragepreis" des Christopher Street Days zurückweist, da sie bei den sich gegen Homophobie zur Wehr setzenden Organisatoren klare Rassismen identifiziert, von denen diese sich nicht einmal distanzieren wollen, während fast zeitgleich ein SPD-Mitglied Armen attestiert, sie seien arm, da sie an "angeborenem Schwachsinn" litten, in Zeiten also, in denen Diskriminierte selbst mehr und mehr diskriminieren und die so genannte "gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit" neue Formen sowie bisher ungeahnte Ausmaße annimmt, wächst die Notwendigkeit, eine gesellschaftliche Debatte über die Mehrdimensionalität von Diskriminierungen auf der einen, sowie die Stigmatisierung insbesondere von Armen, deren Elend zunehmend als selbstverantwortet erklärt wird, auf der anderen Seite zu führen. Einer, der beides versucht, ist der Autor und Soziologe Andreas Kemper, mit dem Telepolis über sein Konzept des Klassismus sprach.

Du bist einer der Autoren des Buches "Klassismus" und betreibst seit einiger Zeit nun auch einen Blog zum Thema. Was muss man sich unter Klassismus vorstellen?

Andreas Kemper: Anfang der 1970er Jahre machte in New York eine Lesbengruppe darauf aufmerksam, dass es nicht nur Rassismus und Sexismus gäbe, sondern dass sie als Arbeitertöchter ebenfalls spezifische Benachteiligungen erführen. Sie nannten diese Benachteiligung und Abwertung “Klassismus” - genau wie beim ebenfalls in dieser Zeit entstandenen Begriff "Sexismus" handelt es sich um eine Parallelbildung zum Begriff Rassismus.

Von Anfang an wurde Klassismus dabei in Bezug gesetzt zu den anderen Diskriminierungsformen und nahm seinen Ausgangspunkt in persönlichen Alltagserfahrungen. So beschrieb beispielsweise Coletta Reid vom Lesbenkollektiv "The Furies" in einer sehr beeindruckenden Anekdote im Buch "Class and Feminism", dass ihre Familie in einem Schuhgeschäft schlicht nicht bedient wurde: Als arme Landbewohner wurden sie einfach ignoriert. Obwohl der Laden leer war, unterbrachen die Verkäufer einfach nicht ihren Smalltalk miteinander. Nach einer Weile verließ die Familie schließlich schweigend und gedemütigt den Laden. Diese neudeutsch unterschichtspezifisch genannten Erfahrungen erinnern an die alltagsrassistischen Erfahrungen, die Schwarze immer wieder machen müssen.

Meint Klassismus also soziale Ausgrenzung?

Andreas Kemper: Klassismus ist Unterdrückung. Und Ausgrenzung ist dabei nur ein Punkt der Unterdrückung. Iris Marion Young beschreibt fünf Dimensionen von Klassismus: Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, Kulturimperialismus und Gewalt.

Genau wie Schwarze unter Rassismus und Frauen unter Sexismus leiden, werden auch Menschen der sogenannten "unteren" Klassen auf spezifische Art und Weise ausgebeutet, marginalisiert, entmachtet, ihre Kultur wird verachtet und sie erfahren Gewalt. Dieser Gesamtskomplex ist sozusagen Klassismus.

Kannst Du diese 5 Dimensionen bitte etwas ausführen? Was meinen Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, Kulturimperialismus und Gewalt exemplarisch – und wen muss ich mir hier als "Opfer" von Klassismus vorstellen?

Andreas Kemper: Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit und Gewalt erklärt sich wahrscheinlich von selbst. Unter „Kulturimperialismus“ können verschiedene Dinge verstanden werden. So werden die unteren Schichten üblicherweise als kulturlos, ja sogar als „unterbürgerlich“, was nicht weit von „untermenschlich“ entfernt ist, stilisiert, gleichzeitig wird aber die Kultur aus den unteren Schichten assimiliert. In der Musik beispielsweise der HipHop oder Musik von Arbeiterkindern wie Elvis Presley, George Harrison, John Lennon, Inga Rumpf, Udo Lindenberg.

Der Kulturaspekt geht aber darüber hinaus: Das gesamte Bildungssystem basiert auf bürgerlichen Idealen und Werten. Es wird noch immer nicht vermittelt, dass Arbeiter und Sklaven das "siebentorige Theben" (Brecht) bauten, und sogenannte "Torwächter" achten darauf, dass vorwiegend Abkömmlinge aus gutsituierten Elternhäusern Karriere machen. Beispielsweise hat sich dadurch, dass nicht mehr Lehrer Empfehlungen aussprachen, sondern Studierende selber an Tests teilnehmen konnten, der Anteil der entsprechenden Stipendiatinnen und Stipendiaten bei der Stiftung des deutschen Volkes von 5 auf 25 Prozent erhöht.

Oder Zuschreibungen. Arme seien faul und bekämen zu viele Kinder, heißt es. Das stimmt schlicht nicht. Von Hartz IV zu leben, gilt sogar laut Wolfgang Clement als Parasitismus, Steuertricksereien hingegen als Zeichen von Wachheit und Intelligenz. In einigen Berliner Knästen sitzt die Hälfte der Leute deshalb ein, weil sie ohne Fahrschein gefahren sind, ich habe aber noch nie gehört, dass irgendeiner der aufgeflogenen Millionenhinterzieher der letzten Steueraffären eingeknastet worden wäre.

Blinder Fleck

Okay, das heißt also, dass Klassismus neben Rassismus und Sexismus sozusagen eine weitere und überdies eine alltägliche "Diskriminierungsform" ist? Warum hat man von diesem Begriff noch nichts gehört?

Andreas Kemper: Das ist Thema der Doktorarbeit, an der ich gerade schreibe. Sicher ist es aber nicht vermessen festzustellen, dass eben insbesondere die Stigmatisierung von Armen im Kapitalismus als sozusagen systemimmanentes Problem eine Art blinder Fleck der gesellschaftlichen Wahrnehmung und öffentlichen Diskussion ist.

Unter anderem wird "von oben" verhindert, dass Klassendiskriminierung als solche anerkannt wird. In den Europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien fehlen beispielsweise, und in diesem Punkt fallen sie hinter einst progressivere Gesetze zurück, ganz bewusst Kategorien wie “Soziale Herkunft”, “Vermögen” oder “Arbeitslosigkeit”. „Soziale Herkunft“ stand ursprünglich im Katalog der zu verbietenden Diskriminierungsformen und wurde als einziger Punkt entfernt. Solcherlei Diskriminierung wird also nicht bzw. nicht mehr definiert und in Folge auch nicht mehr wahrgenommen.

Diskriminiert wird jenseits der Wahrnehmung dann eben beispielsweise durch eine Anpassung des Bildungssystems an die Erfordernisse der Privilegierten, indem zu deren Gunsten als definiert gilt, was Bildung und Intelligenz sind bzw. sein sollen, welche Verhaltenskodes gelten, aber auch, für wen eigentlich geforscht wird. Die innere Struktur und Beschaffenheit von Schule und Hochschule unterfordern sozusagen die einen und übervorteilen die anderen. Darüber hinaus wird natürlich durch das mehrgliedrige Schulsystem, welches die Vorurteilsstrukturen der „Torwächter“ abruft, die dann dafür sorgen, dass Akademikerkinder auch dann bevorteilt werden, wenn sie den kapitalistischen Leistungskriterien und damit dem eigenen bürgerlichen Begabungsprinzip nicht entsprechen, strukturell diskriminiert. Und selbst diese Diskriminierung ist mit Alltagsbeobachtungen schwer zu fassen, besonders in einer Gesellschaft, in der den hunderten soziologischen Studien, die diese Benachteiligung immer wieder klar benannt haben, bis heute mehrheitlich entweder ihre Seriosität abgesprochen wird oder diese schlicht ignoriert werden.

Das verstehe ich nicht. Bestreitest Du, dass der Klassenbeste mehr geleistet hat und deshalb sozusagen gerechterweise später mehr Einkommen erzielt? Oder dass, um mal Sarrazin und seine Phrasen zu streifen, die gesellschaftlichen Leistungsträger auch belastbarer, fleißiger, ja, intelligenter sind?

Andreas Kemper: Das bestreite ich nicht nur, sondern das ist eine Binsenweisheit der Bildungssoziologie, belegt durch verschiedene empirische Forschungen. Eltern aus unteren Schichten orientieren sich an Lehrerempfehlungen bei Fragen des Schulübergangs nach der Grundschule. Lehrer urteilen aber weitgehend nicht nach Leistung, sondern nach sozialer Herkunft. Und Eltern aus oberen Schichten schicken ihre Kinder immer aufs Gymnasium, völlig unabhängig von Leistung und Lehrerempfehlung.

Das Denken in Kategorien von „Wir hier oben haben uns unseren Wohlstand verdient, die da unten hingegen waren einfach nur zu faul“, dieses Denken bezeichnet der französische Soziologe Pierre Bourdieu zurecht als "Klassenrassismus", der es den Herrschenden seit Jahrhunderten ermöglicht, sich selbst bar jeder Grundlage als Wesen höherer Art und Wertigkeit zu begreifen und die von ihnen Beherrschten als »dummes Pack« anzusehen. Selbstverständlich sind sie dies nicht. Wenn überhaupt, aber auch das würde ich bestreiten, werden die Armen jedoch mittels Ausschlüssen und Stigmata, die weder von Gott noch der Natur vorgegeben sind, überhaupt erst „dumm“ gemacht.

Syndrom der Menschenfeindlichkeit

Wenn man die Prämisse akzeptiert, dass sich das gesellschaftliche Oben und Unten im Kapitalismus weder durch Leistung noch Begabung rechtfertigt, wodruch alle Theorien, die dies versuchen, in Deinem Sinne wohl „klassistisch“ sind, weil sie eine willkürliche Ordnung als natürliche zu begründen versuchen, dann erklärt das aber immer noch nicht die Frage, warum diese Perspektive, diese immanent kritische Perspektive eigentlich nirgends zu hören ist.

Andreas Kemper: Nun, zum Teil liegt das sicherlich auch daran, dass eben ebenso wie zuvor genannte Mechanismen auch die emanzipatorischen Kräfte im Land bis heute weitgehend die Wahrnehmung von Klassendiskriminierung verhindern.

Die so genannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ thematisieren zwar Alltagsdiskriminierung, blenden aber aus, dass es soziale Klassen und klassenspezifische Ausbeutung gibt. Marxisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter wiederum thematisieren zwar ökonomische Fragen, verbleiben aber allzu oft im ökomistischen Denken und übersehen, dass vor allem auch das Persönliche politisch ist.

Im Rahmen der Arbeiterbewegung gab es aber immer auch eine Thematisierung dieses Problems. In der Soziologie beispielsweise hat der bereits erwähnte Bourdieu mit seinem Habitus-Konzept Großes geleistet. Und auch Teile der feministischen Forschung haben auf Klassismus aufmerksam gemacht. Zu nennen sind hier exemplarisch Anja Meulenbelt sowie, gerade aktuell, Nina Degele und Gabriele Winker mit ihrem sehr lesenswerten Buch „Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten“.

Das Problem ist in diesem Sinne eben, dass bspw. die Queer- oder Anti-Rassismusbewegung allzu oft vornehmlich die Probleme „der Schwulen“ oder „der Schwarzen“ zu thematisieren versucht, dabei aber übersieht, dass es „den Schwulen“ oder „den Schwarzen“ gar nicht gibt. Abhängig unter anderem von der sozialen Stellung unterscheiden sich die Diskriminierungserlebnisse maßgeblich. Ökonomistische Kritik wiederum übersieht eben auch allzu oft das Persönliche, Subtile, die Alltagsdiskriminierungen, weil dies sich eben nicht aus der Adlerperspektive wahrnehmen und verändern lässt.

Die Unzulänglichkeit rein ökonomistischer Gesellschaftskritik leuchtet mir ein. Dass aber „die Frauen“, „die Schwulen“ oder „die Schwarzen“ nicht als Gesamtheit sozusagen Kollektivinteressen und -probleme hätten, das verstehe ich nicht.

Andreas Kemper: Okay, ein paar Beispiele dafür, wo überall Bewegungen mit anti-diskriminierendem Anspruch ihrerseits selber andere Gruppen diskriminieren: Louis Farrakhans Million Men March - eine Demonstration von 400.000 Schwarzen, an denen keine Frauen teilnehmen durften; andersrum die ganzen Zuschreibungen von Sexismus an Schwarze oder an die Unterschicht, "Prolo", "rumprollen" gilt in einigen Kreisen als synonym mit sexistischem Mackerverhalten; oder ganz aktuell die unangemessene Reaktion auf Judith Butlers antirassistische Kritik an der deutschen Schwulen- und Lesbenbewegung; Guido Westerwelles "Dekadenz-Vorwurf" gegen ein egalitäres Schulsystem, welches gar nicht selektieren könne – hier gab es ja zurecht die Kritik aus der Schwulenbewegung, dass Westerwelles offenes Bekenntnis zu seiner Homosexualität doch nur möglich gewesen sei auf der Grundlage der vielen Kämpfe der Schwulen und Lesben, unter anderem auch vor hundert Jahren als Bewegung der "Décadence".

Inzwischen wird der Vorwurf der Dekadenz nun nicht mehr gegen Schwule, sondern gegen Arbeitslose oder gegen Einheitsschulen gewandt, die Diskriminierungsstrukturen sind sich ähnlich. In der Forschung wird von einem „Syndrom der Menschenfeindlichkeit“ gesprochen: Rassisten sind oft auch homophob und sexistisch und nennen das dann stolz „political incorrect“. Man kann die Diskriminierungen nur gemeinsam bekämpfen, wobei es durchaus sinnvoll ist, wenn die Betroffenen strategisch von ihrer Betroffenheit ausgehen.

Man kann Sexismus nur verstehen, wenn man Rassismus und Klassismus versteht und andersherum

Gibt es denn da sozusagen „Wertigkeiten“, was Mehrdimensionalität verschiedener Diskriminierungsformen angeht? Verstehe ich Dich recht, dass zu Zeiten, in denen Alice Schwarzer dazu aufruft, Angela Merkel zu wählen und Bücher darüber schreibt, warum das Kopftuch ein Unterdrückungssymbol ist, argumentieren kann oder sollte, dass die Aufklärung inzwischen Probleme des Sexismus weitestgehend hinfortgespült hat, dass Rassismus aktuell vor allem ein solcher antimuslimischer Prägung ist und dass mit und neben diesem aktuell vor allem die Stigmatisierung von Armen immer mehr forciert wird?

Andreas Kemper: Nein, so war das, zumindest was den Sexismus angeht, keinesfalls gemeint, auch wenn Du mit Alice Schwarzer zurecht das Problem des Mittelschichtsfeminismus, der zunehmend als Problem auch und insbesondere für Frauen anzusehen ist, ansprichst.

Ich meine: Sexismus, Rassismus und Klassismus dürfen nicht auf Kosten der jeweils anderen Diskriminierungsformen bekämpft werden. Dies wäre nicht nur eine Kräfteverschwendung der emanzipatorischen Kräfte und würde dem Prinzip der Solidarität zuwiderlaufen, sondern es würde auch den jeweiligen Unterdrückungsformen in ihrer ganzen Breite nicht gerecht: Man kann Sexismus nur verstehen, wenn man Rassismus und Klassismus versteht und andersherum.

Ein aktuelles Beispiel: Die antifeministischen Männerrechtler beklagen momentan zunehmend die Benachteiligung von Jungen im Schulsystem. Würden sie Rassismus und Klassismus dabei nicht ausblenden, könnten sie nicht so einfach bei ihrer These einer Unterdrückung von vor allem Jungen stehen bleiben. Denn aus der sogenannten „Oberschicht“ gehen alle Kinder aufs Gymnasium. Da wird nicht unterschieden zwischen Jungen und Mädchen. Oder anders gesagt: In den Vorurteilsstrukturen der Lehrer und Lehrerinnen finden sich nicht einfach Bilder von Jungen und Mädchen, sondern Bilder von Jungen aus der Unterschicht, Bilder von Mädchen mit Kopftüchern, Bilder von Jungen und Mädchen aus gutsituierten Elternhäusern usw. Und diese Geschlechterkonstruktionen der Kinder finden eben auch entsprechend der „Klassengeschlechter“ statt, Männlichkeit wird klassenspezifisch und ethnisch unterschiedlich konstruiert.

Mittelschichtsfeministinnen wie Schwarzer, aber auch Männerforscher wie Walter Holstein und andere sehen den Sexismus prinzipiell gerne bei den anderen, beispielsweise bei den Islamisten, wo er sicherlich vorhanden ist, und in der Unterschicht, aber nur ungern bei den „eigenen Männern“ – oder gar Frauen. Sie hinterfragen nicht ihre eigenen Vorurteilsstrukturen und kommen damit zu falschen oder zumindest zu falsch bilanzierten, schrägen Antworten.

Begründet wird die An- und Abwesenheit von Privilegien dann ja in der Regel mittels einer vor allem biologistischen Sichtweise. Männer seien vom Mars und Frauen von der Venus. So ein Quatsch. Das wird dann schnell anschlussfähig mit dem antiislamischen Rassismus Sarrazins. Beide Varianten, die biologistische Sicht auf die Geschlechter, als auch jene des Herrn Sarrazin, der eben arm und reich so platt biologistisch erklärt, dass der Klassenrassismus offensichtlich wird, beide „Sichtweisen“ auf Welt dienen dabei vor allem einem: Der Legitimation von Privilegien und Ungleichheit – im einem Falle jener der Männer, denn Frauen stehen eben „von Natur aus“ gern am Herd oder können nicht einparken, geschweige denn, Karriere machen. Im zweiten Falle dem der ökonomisch Bevorteilten, denn, dass ist der Umkehrschluss aus der Methode Sarazzin: Da die Armen ja eben biologisch festgelegt faul und dumm sind, kann man, um den Vermögenden zu deren Existenzsicherung nichts wegnehmen zu müssen, eben ersteren Geld streichen und diese für ihr Elend selbst verantwortlich machen. Arm? Arbeitslos? Dumm. Und zwar erbbiologisch. Da lohnt die Hilfe dann nicht mehr.

Heute kehrt der Klassenrassismus nach dem Klassismus zurück

Wo Du gerade Sarrazin sagst: Was hältst Du von dem Herrn, warum stimmen ihm so viele zu – und: Tun sie das überhaupt?

Andreas Kemper: Sarrazin steht für die reaktionäre, typisch deutsche Lösung, mit Widersprüchen des Kapitalismus im eben bereits angedeuteten Sinne zu verfahren.

Sein Kollege Gunnar Heinsohn forderte denn auch jüngst eine Verfassungsänderung für die Abschaffung des Sozialstaats. Ich würde hier nicht sagen, dass es darum geht, Kapitalinteressen 1:1 umzusetzen, langfristig gesehen nützt der Sozialstaat der Profitmaximierung. Sehr wohl aber geht es um Ressourcenverteilung. Die privilegierten Klassen brauchen in Deutschland die Biologisierung, damit sie sich nicht der freien Konkurrenz mit den beherrschten Klassen stellen und diesen gegenüber einmal wirklich für ihre Stellung rechtfertigen müssen.

Der Hamburger Schulkampf zeigt dabei exemplarisch, dass sich die privilegierten Klassen gegen die ökonomisch begründeten Forderungen der OECD und der Handwerkskammern richten, indem sie biologisierend ihre Rechte aus der „besseren Herkunft“ geltend machen. Westerwelle sprach ja davon, dass sich die „Dekadenz“ des Bildungssystems darin zeige, dass Leistungstests statt Elternwille über den Bildungsweg der Kinder entscheiden sollten. Die Gesellschaft wird für ihn eben „dekadent“ und das Abendland strebt dem Untergang entgegen, wenn es keine klaren Grenzen mehr zwischen den Nachkommen der sozialen Klassen geben sollte.

Seit einem Jahr wird von bestimmten Leuten nun nicht mehr nur klassistisch argumentiert, sondern in diesem Sinne klassenrassistisch. Die Leute sollen sich nicht mehr nur, wie einst, „die Haare schneiden und rasieren“, wie Kurt Beck einst einem Hartz-IV-Empfänger als Tipp für die Arbeitssuche mit auf den Weg gab, nein, sie sind inzwischen selbst das Problem, dass sich „auswachsen“ soll, wie Sarrazin und Heinsohn es nennen.

Was meint?

Andreas Kemper: Das meint, es geht um Eugenik. Der hegemoniale Integrationsdiskurs richtet sich nicht nur gegen ausländische Unangepasstheit an teutonische Sitten und Bräuche. Er ist auf die soziale Disziplinierung der Gesamtgesellschaft gerichtet. Der soziale Inhalt der Integrationsdebatte erschließt sich nicht zuletzt aus der von Sarrazin vorgenommenen Identifizierung von muslimischen Migranten und Unterschichten. Dass mangelnder Anpassungswille mit dem Verlust sozialer Rechte bestraft werden kann und soll, dass diese Forderung bereits, man muss sagen: wieder, kursiert, ist eine Gefahr, die nicht nur integrationsunwilligen Ausländern, sondern perspektivisch uns allen droht.

Okay. Rassismus, Klassismus, Sexismus. Drei verschiedene Arten von Benachteiligung. Kann man deren Wechselwirkungen denn irgendwie analytisch fassen?

Andreas Kemper: Ja, das setzt einen so genannten intersektionellen Ansatz voraus. “Intersektionalität” heißt, dass sich Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen überschneiden und verstärken.

Beispiel: Sexismus und Kopftuchtragen. Eine Bekannte von mir hat sich neulich vom “Kopftuchtragen” befreit – symbolisch, es ging um die Aufkündigung der islamistischen Geschlechterzuschreibungen. Dies setzte den Bruch mit ihrer Familie voraus. Sie ist als türkischstämmige Frau und Arbeitertochter gleich drei Diskriminierungsformen ausgesetzt, die sich multiplizieren. Aber sie ist der kapitalistischen Ausbeutung als Arbeitertochter nun stärker ausgeliefert, denn ohne den vorher vorhandenen Schutz ihrer Familie trifft sie der Kapitalismus sehr viel härter.

Antidiskriminierungsdiskurse werden verlogen, wenn sie die soziale Frage ausblenden. Und das hat System. Bei einem Artikel von mir zum Thema Klassimus in einem Antidiskriminierungs-Reader wurden sämtliche Bezüge zu Ausbeutung und Marx gestrichen, es sei ein Entgegenkommen gewesen, dass überhaupt Klassismus thematisiert werden dürfe.

Diese Diskriminierungshierarchie führt dann zu so absurden Ergebnissen, dass jetzt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu “Diskriminierung an Hochschulen” forschen lässt, die Frage der sozialen Herkunft aber erst einmal nicht berücksichtigt, weil diese nicht im AGG enthalten ist. Wir - also das “Arbeiterkinder-Referat” des AStA der Universität Münster - haben Kontakt aufgenommen und es sieht nun so aus, dass doch auch zu klassistischer Diskriminierung an Hochschulen geforscht werden könnte.

Und dieser intersektionelle Ansatz konsequent als Alltags- und Forschungsperspektive angewandt bedeutete was? Was empfiehlst Du, um zumindest zu versuchen, nicht selbst täglich zu diskriminieren?

Andreas Kemper: Eine Sensibilisierung wäre hier wichtig. Die Anti-pc-Fraktion fährt ja genau das gegenteilige Programm, indem sie höhnisch in Goebellscher Manier vom "Gutmenschentum" spricht. Es geht letztlich um einen gegenseitige Befreiungsprozess, darum, sich von diskriminierenden Verhaltensmustern zu befreien.

Ob man das richtig macht, merkt man spätestens dann, wenn man mit dem Kapitalismus in Konflikt gerät. Denn schließlich ist der Kapitalismus auf diese ganzen Trennungen zwischen Männern und Frauen, Schwarzen und Weißen, Menschen mit der „richtigen“ Sexualität und mit der „falschen“ Sexualität, mit der „richtigen“ Herkunft und der „falschen“ Herkunft, mit den „richtigen“ Körpern und den „falschen“ Körpern usw. angewiesen.

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