Zukunft, aber nicht Weiter so

S21, Atomenergie, aber auch Islamophobie und Politikerhass - Das Ende des Kalten Kriegs, das ideologische Vakuum, kommt jetzt erst wirklich an

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Während die schwarz-gelben Politiker beanspruchen, mit der Verlängerung der AKW-Laufzeiten und dem Stuttgart 21-Projekt (aber etwa auch mit dem Umbau des Gesundheitssystems) die Zukunft zu sichern, indem sie alte Techniken und Projekte weiterführen, sind die Menschen offenbar anderer Meinung. Sie scheinen zunehmend anders darüber zu denken, welche Grundlagen heute für die Zukunft gelegt werden sollen, zumal die schwarz-gelbe Regierung seit ihrem Einsatz mit der Absenkung der Mehrwertsteuer für Hoteliers (anstatt einer vernünftigen Mehrsteuerreform) demonstriert hat, dass sie eher bestimmte Interessengruppen schützt oder bevorteilt und kurzfristige Interessen verfolgt, anstatt für alle eine über den Wahltag hinaus orientierte Zukunftspolitik zu machen.

Die pragmatische Politik, die eine Angela Merkel vertritt, hat sich als No-Future-Politik erweisen, das neoliberale Credo, dass die freien Kräfte des Marktes schon alles richten werden, war zwar schon immer eher eine Religion, hat sich aber wieder einmal in der Finanz- und Wirtschaftskrise als Politik offenbar, die Zukunft negiert, auf das Schicksal bzw. den Zufall setzt und Verantwortung außen vor lässt. Die Menschen aber wollen zunehmend, dass verantwortlich gehandelt wird, dass die Zukunft wieder eine Rolle spielt und dass nicht Entscheidungen getroffen werden, die für lange Zeit das Handeln auch der nächsten Generationen lahm legen. Das hat auch etwas mit den Staatsschulden, den Bankenrettungs- und Konjunkturprogrammen und den Versuchen zu tun, die reiche Klasse auf Kosten der Armen und der Mittelschicht zu schonen.

Da die Politik in Demokratien, aber auch in autoritären Regimen, die auch an Machterhalt interessiert sind, stets dahin tendiert, pragmatisch und kurzfristig zu agieren, ergeben sich, wenn die Gestaltung der Zukunft zum Anliegen wird, ganz unterschiedliche und völlig unvereinbare Tendenzen und Bewegungen. Auch die Tea-Party-Bewegung in den USA oder die Islamisten in der muslimischen Welt fordern Zukunft, eine Vision, eine Orientierung. Sie haben die Schnauze voll mit dem Weiter so, den kleinen Veränderungen.

Der Terrorismus bzw. der Kampf gegen den Terrorismus hat das Vakuum verdeckt, das seit dem Ende des Kalten Krieges entstanden ist. Im Kalten Krieg waren die Fronten klar, es gab zwei miteinander konkurrierende Gesellschaftssysteme und politisch-ökonomische Ideologien, die um die Vorherrschaft kämpften. Die kapitalistischen Demokratien blieben übrig, aber der Kapitalismus kann keine andere Zukunft anbieten, als bestenfalls die Hoffnung, dass sich alle bereichern könnten. Fällt das Versprechen des "amerikanischen Traums", dass für jeden alles möglich ist, wenn er es nur will, sinkt der Wohlstand und vergrößert sich die Kluft zwischen den Reichen und den Armen, hat der Kapitalismus nichts anzubieten.

In diese Leere sind wir nun wieder einmal eingetreten, sie macht den Kapitalismus und die Reichen obszön – und jede Politik, die sich daran orientiert. Das alles ist nicht wirklich neu nach dem Kalten Krieg, aber nach dem Wegfall des globalen Terrorismus und dem gescheiterten Interventionismus wurde dies mit der Finanzkrise nur viel klarer. Und weil die linke Ideologie auch noch dem Kalten Krieg angehört, kann das Revival des Marxismus oder Sozialismus nach der langen blutigen und gescheiterten Geschichte auch nicht mehr überzeugen. In Deutschland profitieren die Grünen von diesem Vakuum. Sie scheinen eine Politik zu versprechen, die in die Zukunft weist, die Visionen hat, die verantwortlich ist und sich von den alten ideologischen Links-Rechts-Zementierungen befreit hat. Die Grünen konnten aus den alten Schemata aussteigen, weil sie im Grunde apokalyptisch, auf das Weltende, ausgerichtet waren und sind. Deswegen tragen sie die Ambivalenz in sich, zwar zukunftsorientiert, aber gleichzeitig zutiefst konservativ, erhaltend, rettend zu sein. Das aber trägt nicht, grün muss eine Vision und ein attraktiver Lebensstil sein. Die Bewegungen des Verzichts, die es in der christlichen Geschichte immer wieder gegeben hat, dürften heute nicht mehr wirklich verfangen – und sind auch geschichtlich nicht erfolgreich gewesen.

Aber es gibt auch andere Reaktionen als die grüne. Die unsägliche islamophobe Bewegung etwa will auch die Zukunft schützen, die Zukunft Deutschlands, Europas oder der abendländischen Kultur vor einem befürchteten Untergang durch die islamische Kultur und Zeugungskraft. Aber diese Bewegung sekundiert der herrschenden Politik, sie hat vor allem den Zweck, die Erregungen zu kanalisieren, sie abzulenken und die wirklichen Probleme hinter dem Untergangsszenario zu negieren, ganz abgesehen davon, dass es weitaus mehr Parallelgesellschaften gibt, für die Integration in eine Gesellschaft gar keine Alternative ist, weil sie als globale Migranten einfach dorthin persönlich oder mit ihrem Kapital ausweichen, wo ihnen die meisten Vorteile winken und sie am wenigsten zum Gemeinwohl beitragen müssen.

Mag sein, dass derzeit wieder apokalyptische Politik dominiert, die nicht Zukunft als Weiter so wie die schwarz-gelbe Regierung akzeptiert, sondern einen radikalen Richtungswechsel einfordert. Wenn dieses Wochenende erneut in Stuttgart bis zu 150.000 Menschen – die Polizei geht von mehr als 60.000 aus - gegen das Bahnhofs- und Stadtumbauprojekt und in München 25.000-50.000 gegen die Atompolitik auf die Straße gehen, dann geht es ihnen auch um die Zukunft des Landes. Die wird in den beiden Fällen womöglich durch Entscheidungen festgelegt, die nicht mehr zeitgemäß sind. Die Atomtechnik ist eine Technik des Kalten Kriegs, die zwar selbst CO2 frei sein mag, aber die Monopolisierung und Zentralisierung fördert, hoch gefährlich, bei der Gewinnung des Urans keineswegs sauber und deren Beseitigungsproblem ungelöst sowie bislang ziemlich schmutzig ist. Die Atomenergie steht als Symbol und Symptom für Fakten, die jetzt geschaffen werden, aber viele Generationen belasten. Das ist weniger drastisch, aber auch der Fall bei Großprojekten wie S21 der Fall, die die Zukunft zementieren.

Das Paradoxe ist, dass alle Seiten keine Visionen anzubieten haben. Man setzt auf das Altbewährte wie derzeit die schwarz-gelbe Regierung in Deutschland oder man setzt auf die Skepsis wie die Gegner von Laufzeitverlängerung und S21. Für die einen ist der Fortschritt durch Technik, wenn sie nicht nur Interessenspolitik betreiben, schon Zukunft und Utopie, für die anderen ist irgendwie Erhalt von Natur, aber auch Abwehr von Macht- und Kapitalinteressen Zukunft. Auch hier gibt es Paradoxien, schließlich sind Eisenbahnsysteme auch eine alte Technik, die die Städte massiv verändert haben, und die erneuerbaren Energien in Form von Solar- und Windanlagen oder von industrieller Biomasse- oder Biotreibstoffproduktion nicht eine sonderlich attraktive Lösung.

Wahrscheinlich liegt es auch weniger am Ungenügen an der Politik, sondern am Fehlen einer gerechten, umweltbewussten und vor allem überzeugenden Vision, was die Menschen auf die Straße treibt. Fragt sich nur, wie wir unseren Garten kultivieren sollen, nachdem wir die Wildnis praktisch eliminiert und noch keine Möglichkeiten gefunden haben, von unserem Planeten auszuwandern und zu kosmischen Migranten zu werden.