Jemen könnte zum nächsten Afghanistan werden

Al-Qaida breitet sich in dem arabischen Land trotz der Interventionen der USA aus, im neuen Al-Qaida-Magazin werden junge Menschen für Terroranschläge gesucht

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im Irak und Afghanistan spielt al-Qaida kaum mehr eine Rolle. Ihre neuen Standorte sind Somalia und vor allen Dingen der Jemen ("Wir kommen, um euch hinzuschlachten"). In der Republik auf der arabischen Halbinsel hat der nächste Anti-Terror-Krieg der USA begonnen: Die Militärhilfe für Jemen wird signifikant aufstockt. CIA-Geheimagenten sind Vorort und jagen Al-Qaida (Mit US-Drohnen soll islamistischer Prediger im Jemen getötet werden). Aber auch US-Staatsbürger, die Attentate in den USA verüben könnten, wie sie die neue Ausgabe des Al-Qaida-Online-Magazin "Inspire" vorschlägt.

Titelseite des Al-Qaida-Magazins Inspire. Alle Bilder aus Inspire

Am 26. Januar dieses Jahres wollte der US-Amerikaner Sharif Mobley in Sana'a, der Hauptstadt Jemens, nur kurz einkaufen und einen Tee trinken. Als er aber im Cafe sitzt, versuchen ihn acht maskierte Männer in einen Kleintransporter zu zerren. Mobley kann sich im ersten Moment noch befreien, wird dann jedoch ins Bein geschossen und von seinen Kidnappern abtransportiert.

Was wie ein Überfall einer kriminellen Bande klingt, ist in Wirklichkeit eine Verhaftung von jemenitischen Sicherheitsbeamten - und das im Auftrag der US-Regierung, wie eine Reihe offizieller Dokumente später zeigen sollen. Aktueller Hintergrund war der gescheiterte Bombenanschlag auf ein Flugzeug der Northwest Airline in Detroit, wenige Wochen zuvor, am Weihnachtstag des 25. Dezembers. Der 23-jährige nigerianische Attentäter, Umar Farouk Abdulmutallab, hatte im Jemen den Plastiksprengstoff inklusive einer Kurzschulung erhalten.

Die Abteilung Homeland Security in Washington war ganz offensichtlich besorgt, denn der Vorfall in Detroit war bereits der zweite innerhalb kurzer Zeit, der mit dem Jemen in Verbindung stand. Am 13. November 2009 hatte Nidal Malik Hassan in Fort Hood, Texas, 13 Menschen erschossen und 30 Menschen verletzt. Der Major der US-Armee war per Email von Anwar al-Awlaki, dem religiösen Mentor von Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) dazu inspiriert und ermuntert. Wie sich Monate später herausstellen sollte, beeinflusste der Geistliche von al-Qaida auch den Attentäter vom Times Square in New York.

Um weitere Anschläge zu verhindern, war den US-Sicherheitsbehörden anscheinend jedes Mittel Recht. Viele Anhaltspunkte hatten sie nicht. Mit den bisherigen Täterprofilen von Islamisten, die entweder in radikalen Organisationen aktiv sind, aus dem Ausland, bevorzugt aus Afghanistan, Pakistan oder aus arabischen Ländern einreisen, vielleicht noch Bart und Dschilaba tragen, eventuell auch eine militärische Ausbildung bei al-Qaida erhalten haben, konnte man nichts mehr anfangen. Jeder US-Bürger, Muslim oder Konvertit konnte verdächtig sein, nachdem schon nicht einmal mehr eigene Soldaten, wie Major Malik Hassan, vertrauenswürdig sind und Kollegen erschießen.

Bin Laden ist weiterhin Mentor, die Anschläge vom 11.9. sind zentrale "Werbung" für al-Qaida

Jagd auf vermeintliche Terroristen

Für Homeland Security blieb als Anlaufstelle nur der Jemen übrig. "Nicht weniger als 36 ehemalige Strafgefangene fuhren letztes Jahr in den Jemen, angeblich um Arabisch zu lernen", heißt es im Bericht des US-Senats vom Januar 2010 über die Rolle al-Qaidas im internationalen Terrorismus: "Einige dieser Amerikaner sind verschwunden und man vermutet, dass sie in al-Qaida-Ausbildungslager in die von der Regierung unkontrollierten Teile des verarmten Landes gegangen sind." Eine ähnliche Besorgnis, so schreibt John Kerry, der ehemalige US-Präsidentschaftskandidat und Vorsitzende der Untersuchungskommission weiter, gäbe es bezüglich einer "kleineren Gruppe von etwa ein Dutzend Amerikanern, die in den Jemen umgezogen sind, dort eine radikale Form des Islams angenommen und einheimische Frauen geheiratet haben".

Sharif Mobley, der im US-Auftrag entführt wird, gehört nicht zu der kleineren Gruppe, die umgezogen ist, sondern lernte, wie viele andere seiner amerikanischen Landsleute auch, Arabisch an einer der zahlreichen Sprachenschulen in Sana'a.

Nach dem gescheiterten Attentat an Weihnachten in Detroit beschließen Mobley und seine Frau, aufgrund der sich im Jemen verschlechternden Sicherheitslage, wieder in ihr Heimatland, die USA, zurückzufahren. Da sie einen neugeborenen Sohn haben, versuchen sie auf der US-Botschaft die für die Rückreise nötigen Papiere zu bekommen. Wochenlang verzögern die US-Beamten den Prozess und verhören Mobley immer wieder. In einem dieser Befragungen gibt er zu, den Al-Qaida-Geistlichen Anwar al-Awlaki getroffen zu haben. Ein furchtbarer Fehler. Von diesem Zeitpunkt an wird Mobley beschattet und schließlich verhaftet. Am Tag, als ihn seine Frau auf der US-Botschaft vermisst meldet, wird ihre Wohnung von 15 Männern gestürmt und durchsucht. Denjenigen, der die Hausdurchsuchung leitete, erkennt sie wenig später in der US-Vertretung wieder. Der Mann trägt einen Botschaftsausweis.

Sharif Mobley wird in Gewahrsam mehrfach von "Matt and Khan" verhört, die sich als Mitarbeiter der US-Regierung bezeichnen. Sie versichern ihm, er werde seine Familie nie wieder sehen und im jemenitischen Gefängnis vergewaltigt werden. Mobley sitzt heute immer noch in Haft und ist des Mordes angeklagt. Während seines Krankenhausaufenthalts soll er eine Flucht geplant und dabei einen Wärter erschossen haben. Im Jemen droht ihm dafür die Todesstrafe.

"Es gibt Vorfälle, bei denen es auf höchster Ebene eine Kooperation gibt", erklärt Abdul Ghani al-Aryani, ein bekannter politischer Analyst in Jemen. "Falls die Regierung von Jemen in diesem Fall kooperiert hat, ist es eine risikofreie Gelegenheit, Pluspunkte bei den Amerikanern zu sammeln, gerade weil es sich bei der betreffenden Person um einen Amerikaner handelt."

Die Anwälte von Sahrif Mobley baten die US-Behörden um Aufklärung, aber bisher gab es keinerlei Reaktionen. Seine Anwältin Cori Crider glaubt zwar, da es um das Leben ihres Klienten geht, dass die beiden Geheimagenten, "Matt und Khan" vor Gericht aussagen und die ganzen Verwicklungen sich zeigen würden. Aber das steht zu bezweifeln. In diesem Fall geht es mehr als nur um einen, vielleicht tatsächlich unschuldigen Angeklagten – es geht um nationale Sicherheitsinteressen und da verstehen die USA keinen Spaß.

Islamische US-Bürger werden geworben

Al-Qaida sucht radikalisierte Einzeltäter

Vor einer Woche ist die zweite Ausgabe des Al-Qaida-Online-Magazins "Inspire" erschienen. Wie schon die erste Nummer soll sie von AQAP im Jemen produziert worden sein und ist ein professionell gemachtes Magazin, das nach westlichen Medienmustern Inhalte und Unterhaltung gut zu verbinden weiß. Terrorismus "apart" gemacht und zu einer Art fiktiven Abenteuertour wie bei Computerspielen mit dem Joystick in der Hand.

Das Zielpublikum ist klar: junge, unzufriedene westliche Muslime, Konvertiten oder einfach junge Leute, die glauben, etwas verändern zu müssen. Ihnen wird nahegelegt, doch Attentate an willkürlich gewählten öffentlichen Orten in ihrem Heimatland zu begehen und dabei "möglichst alleine oder in kleinen Zellen vorzugehen", um so von den Polizeibehörden unentdeckt zu bleiben.

Prototypisches Beispiel ist die "Ultimative Mähmaschine", die aus einem Splattermovie stammen könnte: Ein Geländepickupwagen soll mit langen Messern, am besten vom Metzger, bestückt werden, um dann mit ihm in eine Fußgängerzone zu fahren. "Ihr solltet die Örtlichkeiten vorher auskundschaften", heißt es in "Inspire", "um sicher zu gehen, dass es nicht zu viele Eingänge gibt, in denen sich Passanten zum Schutz flüchten können". Wäre das nur eine Computerspiel, würden viele sofort sagen: Geile Idee, geiles Spiel! Aber es kann leicht sein, dass es ein Publikum gibt, Muslim hin oder her, das das Attentat mit dem Pickup "ganz super" finden. Dazu muss braucht es keine Paranoia: Man muss nur an die Mordschützen oder Amokläufer in Deutschland oder den USA denken, die in Schulen ihre Lehrer und Mitschüler wie Freiwild abknallten.

Die Macher von "Inspire", darunter Samir Khan, ein in den Jemen untergetauchter US-Student, der in New York einen Blog mit Namen "Inshallahshaheed" (Märtyrer so Gott will) hatte, wollen möglichst Menschen ansprechen, die vorher noch nie aufgefallen sind. Für Fahnder sind derartige Einzeltäter kaum zu stoppen, wie ja der Amoklauf von Major Malik Hassan in Fort Hood Texas zeigte. "Die Gruppe (al-Qaida) hat ihre Rekrutierungsbemühungen ausgeweitet", heißt es im Untersuchungsbericht des US-Senats", um nichtherkömmliche Anhänger anzuwerben". Zielrichtung seien "selbstradikalisierte Individuen, denen Beziehungen zum großen Netzwerk al-Qaidas fehlen, die aber die theologischen Argumente und strategischen Ideale teilen".

Bei dieser neuen Form von Rekrutierung habe sich al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) "besonders ambitioniert" erwiesen. Die Organisation würde die "Schwäche des Jemen ausnützen" und dort immer stärker werden. Die USA befürchten, der Jemen könne sich zu einem festen Al-Qaida-Standort entwickeln, wie einst Afghanistan unter den Taliban.

Unter "Open Source Jihad" sollen Do-it-Yourself-Anleitungen für den Kampf gegeben werden, ohne deswegen zu den Terrorcamps reisen zu müssen

Al-Qaida findet im Jemen gute Bedingungen

Die Voraussetzungen dafür sind tatsächlich gegeben: Die Regierung von Präsident Ali Abdullah Saleh hat keine Kontrolle über weite Teile des Landes. Im Norden kämpft der al-Huthi-Stamm für Unabhängigkeit, im Süden eine Sezessionsbewegung für einen eigenen Staat (Der Krieg in Jemen eskaliert). Über der Hälfte der jemenitischen Bevölkerung lebt von weniger als 2 Dollar pro Tag. Die Analphabetenrate beträgt mehr als 50 Prozent, die Inflationsrate liegt bei 27 Prozent, etwa 40 Prozent sind arbeitslos.

Ideale Bedingungen für Al-Qaida, erklärte Nadia A. Al-Sakkaf, die Chefredakteurin der englischsprachigen Yemen Times, gegenüber Telepolis. "Stellen sie doch einen Ort vor, in dem es keine Infrastruktur gibt, keine Rechtsstaatlichkeit, aber Korruption in einem Ausmaß, dass man sich innerhalb eines Tags aus dem Gefängnis freikaufen kann. Hinzu kommt Armut und fehlende Bildung. Wer im Diesseits kein anständiges Leben hat, dem scheint der Kauf einer Fahrkarte in den Himmel ein gutes Geschäft zu sein." ("Wir sind bewaffnet, Analphabeten, hungrig und zornig")

Das Hauptquartier von al-Qaida liegt in der entlegenen und gebirgigen Provinz Shabwa, aus der ihr religiöse Mentor Anwar al-Awlaki stammt. Ende September begannen dort jemenitische Spezialeinheiten eine Offensive gegen die Terrororganisation. Aber die etwa 100 Al-Qaida-Kämpfer, die um Dorf Huta von der Armee umstellt wurden, konnten während der Nacht fliehen. Sie hinterließen, laut lokaler Presseberichte, einen Pickup-Geländewagen, voll beladen mit Sprengstoff. Naheliegend ist, dass die Terroristen Hilfe von jemenitischen Sicherheitsdiensten bekamen. Die Verbindungen von al-Qaida im Jemen reichen bis in oberste administrative Ebene. "Ali Mushin Al-Ahmar ist der Halbbruder des Präsidenten und Militärkommandeur von Nordwestjemen", erläuterte Nadia A. Al-Sakkaf von der Yemen Times die Zusammenhänge. "Er ist bekannt für seine extremen religiösen Ansichten und Beziehungen zu Al Qaida. Al-Ahmar war angeblich für das Training von Dschihadisten im Jemen verantwortlich, bevor sie nach Afghanistan und in den Irak geschickt wurden."

Al-Qaida stellt sich als zeitgemäße, moderner Technik und Ästhetik aufgeschlossene Terrorgruppe dar

In der Provinz Abyan im Südjemen scheint sich al-Qaida mit Teilen der militanten Sezessionsbewegung verbunden zu haben. Vor wenigen Tagen war die Gründung einer vorher unbekannten "Aden-Abyan-Armee" verkündet, die den Jemen von den "Kreuzfahrern" befreien will. Diese neue "Befreiungsarmee" hat in der letzten Woche gleich mehrere Male Militärkonvois der jemenitischen Armee angegriffen und dabei mindestens vier Soldaten getötet. Als Vergeltungsmaßnahme bombardierte die Luftwaffe Positionen von al-Qaida in der Region.

Bisher ist die Armee Jemens im Kampf gegen al-Qaida nicht weit gekommen - trotz US-Luftaufklärung und detaillierter Satellitenbilder. Geht es nach Washington soll und muss sich das bald ändern. Im laufenden Jahr zahlte das US-Außenministerium der Regierung Jemens 63 Millionen Dollar für Anti-Terror-Arbeit. 2008 waren es gerade einmal 20 Millionen. Nun steht ein Antrag zur Entscheidung, der arabischen Republik über die kommenden sechs Jahre eine Militärhilfe im Gesamtwert von 1,2 Milliarden Dollar zu geben. Sollte es soweit kommen, werden mehr US-Truppen in Jemen am Anti-Terror-Kampf teilnehmen. Der Einsatz wird nicht mehr begrenzt sein, wie US-Militärs im Zusammenhang der Offensive der jemenitischen Armee gegen al-Qaida erklärten. Vorerst sind nur CIA-Agenten und kleinere Eliteeinheiten vor Ort.