Ausweitung des Machtkampfs zwischen Regierung und Gewerkschaften

Streiks: Frankreich tickt anders

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Da mag die deutsche Kanzlerin auf France 2 noch so sehr an die praktische Einsicht und Vernunft appellieren - "Und wenn wir eine vernünftige Rente garantieren wollen, dann muss die Tatsache, dass wir länger leben, auch dazu führen, dass die Lebensarbeitszeit länger wird." - Frankreich tickt anders als Deutschland, wenn es um Staatsräson geht, und ganz besonders beim Streik, wie sich erneut zeigt (siehe auch Typisch französisch? Typisch deutsch?). Und man amüsiert sich dabei vielleicht auch „mehr oder weniger“ über die Reaktionen aus dem Ausland, die beunruhigt vom „Chaos“ im Land künden, von einem „hammerharten Präsidenten“ und von einer „Radikalisierung der Bewegung“.

Bestreikter Bahnhof in Hendaye. Bild: Ralf Streck

Die Franzosen, so scheint es, nehmen den Streik (noch?) gelassen. Zwar werden Züge bestreikt, Flughäfen, die Post- und Telekommunikationsunternehmen, die Energieversorgung, Atomkraftwerke, Häfen, Raffinerien; der Zugang zu Raffinerien,Tankstellen und Depots wird blockiert, das Benzin knapp, der Verkehr und Gütertransport auf den Straßen verlangsamt und auch immer mehr Schüler und Studenten gehen auf die Straße. Aber 71 Prozent der Franzosen äußern laut einer Umfrage „Sympathie“ für den heutigen Streiktag, an dem erneut zum Protest gegen die Rentenreform aufgerufen wurde (siehe Sozialer Aufruhr in Frankreich).

480. 000 sollen heute für die Demonstrationen mobilisiert worden sein, meldete Le Monde heute Mittag, etwas weniger als das Rekordergebnis vom vergangenen Dienstag, so der Kommentar dazu. Wie immer unterscheiden sich die Angaben der Polizei von denen der Gewerkschaften. So zählte die Polizei am Dienstag vergangener Woche gut eine Million Demonstranten und Gewerkschaften 3, 5 Millionen. Die Polizei würde den Streik einfach weglügen, heißt es von Unterstützerseite. Doch kommt es auf die üblichen Zahlenspiele eigentlich gar nicht so sehr an.

Schon eher, dass die Versorgungswege und -zentren vom Streik erheblich getroffen sind. 4000 von 12. 500 Tankstellen warten nach Angaben von Energieminister Borloo auf Nachschub. Vier bis fünf Tage würde es dauern, bis der Normalzustand wiederhergestellt sei, wird Premierminister Fillon zitiert, der mit seinem Krisenstab über Pläne nachdachte, wie dies zu bewerkstelligen ist. Immerhin ein Drittel der Departements sei von der Benzinknappheit betroffen. Offen bleibt, ob der Plan auch funktioniert. Wie überhaupt noch schwer abzusehen ist, wie der Machtkampf zwischen Regierung und Gewerkschaften ausgehen wird.

Dass Sarkozy, wie der Nouvel Observateur heute Nachmittag berichtete nun härtere Maßnahmen gegen die Blockierer ergreifen will und generell mehr und mehr von „Ordnung“ spricht, die er garantieren will, kann auch als Zeichen wachsender Nervosität begriffen werden. Nicht untypisch für Sarkozy ist, dass er bei seinem Ordnungsappell heute morgen insbesondere die Randalierer erwähnte, die doch bislang bei den Streiks nur eine Nebenrolle spielten, auch wenn solche Auseinandersetzungen natürlich immer das Spektakuläre auf ihrer Seite haben. Der Versuch von großen Themen auf „Casseurs“ (Randalierer) abzulenken, ist Sarkozys bewährte innenpolitische Methode.

Es gebe immer mehr Blockaden von Universitäten wurde am Nachmittag berichtet. Zwischen sechs und elf der landesweit 83 Universitäten würden aus Protest gegen die Gesetze zur Rentenreform blockiert, heißt es, 379 Gymnasien hätten keinen ordentlichen Schulbetrieb. Dass sich Schüler und Studenten anschließen, verleiht den Streiks einen erheblichen Schub. Den etwa die seit längerem streikenden Hafenarbeiter gut brauchen können, da sie während des Streiks, anders als in Deutschland, kein Geld bekommen.

Aus der Perspektive der Regierung sieht das freilich anders aus. Die Teilnahme der jüngeren Franzosen bringt auch eine andere Eigendynamik in die Proteste, die längst nicht mehr nur die Rentenreform zum Thema haben. Was den konkreten Anlass der Proteste anbelangt, so hält die Regierung an ihrem Vorhaben fest: die Gesetze zur Rentenreform sollen wie geplant demnächst im Parlament verabschiedet werden. Schon möglich, dass dieser Plan aufgeht. Aber die Auseinandersetzung ist damit nicht beendet.