Stuttgarter Schlichtheiten

In der großen baden-württembergischen Kleinstadt tritt das Bürgertum zum Selbstgespräch an

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Der neue Akt in der Tragikomödie um Stuttgart 21 ist bisher von der erwartbaren Hirnrissigkeit geprägt: Je nichtiger die Verhandlungsbasis, desto ernsthafter die Mienen. Die Akteure spielen Diplomaten und möchten das Publikum glauben machen, dass hier die vergrippte, vergaloppierte Demokratie selbst repariert, um nicht zu sagen, geheilt wird. Wie windige Geistheiler und Gesundbeter hat man sich auf einen Spruch verlegt, der mit der größtmöglichen Frequenz dort wiederholt werden muss, wo er gar keinen Sinn macht: Es geht um "Dialog".

Um zu verstehen, wer hier mit wem dieses Kasperletheater aufführt, ist ein genauer Blick auf die Kontrahenten interessant, und es sagt schon einiges über die deutsche Presse, dass das niemand so klar tut wie Georg Seesslen, Catrin Dingler und Ivo Bozic in der Jungle World, der ebenso agilen und zuverlässigen, wie auflagentechnisch irrelevanten linken Wochenzeitung aus Berlin.

Ihre Diagnose ist ebenso klar wie bestechend: In Stuttgart tritt gerade das Bürgertum gegen sich selbst an und zwar in Gestalt eines, so Seesslen, "progressistischen" und eines "wertkonservativen" Flügels. Der progressistische Flügel setzt sich aus Stalinisten des rein technokratisch verstandenen Fortschritts zusammen, denen eine Stuttgarter Grubenbahn schon deswegen Sinn macht, weil sie so viele Haushaltslöcher wie Bauaufträge hervorruft - irgendeinen Sinn wird das ganze Remmidemmi schon haben. Mit gutem Recht könnte man diesen Flügel auch den katholischen nennen, denn Katholiken und Stalinisten glauben gerne an Dinge, weil sie absurd sind - die Entscheidung zum Grubenbahn-Bau wäre dann vergleichbar mit den unerforschlichen Ratschlüssen Gottes oder des Zentralkomitees.

Auf der anderen Seite haben wir den FC K21, ein ideologisch höchst heterogener Verein, der aber einen gemeinsamen Nenner kennt: Obwohl die meisten Mitglieder sich selbst in komfortabler Mittellage befinden, muss denen da noch weiter oben mal gezeigt werden, wer das Volk ist. Analyse und Sachkenntnis sind eher Mangelware (auch wenn sie noch weiter verbreitet scheinen als bei den Befürwortern), und es wird viel gefühlt.

Pathos, Moral und deutsche Naturliebe sind Trumpf, man kettet sich an Bäume und legt Teddybären vor den Überresten ab, wenn es doch zur Fällung kam. Ob die Erlebnisse vom 30.9. vielleicht tatsächlich eine Ahnung davon gebracht haben, dass die bürgerliche Demokratie eine gewalttätige ist, so wie etwa der 2.6.1967 in Berlin, wird sich erst noch zeigen.

Die Machtfrage

Zuerst geht es einmal um "Schlichtung" und "Dialog". Das ist zwar komplett absurd, denn antagonistischer kann man sich einen Konflikt kaum denken, aber der Konsenswahn verlangt nach Hochleistungs-Eiertanz in Pflicht und Kür. Der wirkliche Grund, dass die ehrenwerte mit der wohlanständigen Gesellschaft an einem Tisch sitzt, liegt in der Tatsache, dass erstere auf die Stellung der Machtfrage am 30.9. eine ungünstige Antwort erhalten hat: So nicht, die Kollateralschäden sind zu hoch.

Und die wohlanständige Gesellschaft will die Machtfrage gar nicht stellen, sondern die Demokratie heilen, die ihnen ins Gesicht geschlagen hat. Die etwas Erfahreneren und Entschlosseneren unter den Wohlanständigen jedoch sind verdattert von der politischen Bedeutung, die ihnen zugefallen ist, und wissen nicht, was sie damit anfangen sollen - daher auch die verwirrte Idee, den Landtag per Plebiszit auflösen zu wollen.

Geißler ist für den Job als Eiertanz-Eintänzer der ideale Mann, weil er als prominenter CDU-Politiker und attac-Mitglied Teil der ehrenwerten und der wohlanständigen Gesellschaft zugleich ist, also das lebende Beispiel dafür, dass die schlimme "Spaltung" der Gesellschaft schon in einer Seele durch markige Phrasen ("Alles auf den Tisch, alle an den Tisch") pseudopolitische "Offenheit" (Live-Übertragung des Eiertanzwettbewerbs im Fernsehen) und ähnliche Kunststückchen überwunden werden kann.

Inhaltlich ist der Dialog völlig für die Katz. Wenn die S21-Gegner das S21-Kartell dazu zwingen könnten, die Verträge offenzulegen, auf denen die Stuttgarter Grubenbahn beruht, wäre die Machtfrage beantwortet.

Viel interessanter ist die Frage, was passiert, wenn weitergebaut wird, Schlichtung hin oder her. Die baden-württembergische Polizei, so hört man, freut sich schon darauf, den am 30.9. begonnenen "kritischen Dialog" mit den S21-Gegnern unter Zuhilfenahme von verbessertem, noch durchschlagskräftigerem Equipment fortzuführen (siehe dazu Mit Hochdruck gegen Ungehorsam).

Sollte das am 27.3.2011 in Baden-Württemberg zu den vermuteten Verschiebungen führen, dürfte es einigen Unterhaltungswert haben zu beobachten, wie die Grünen etwaige Koalitionsverhandlungen mit der CDU begründen und ihre gewachsene Wählerbasis wie immer betrügen, die das auch verdient hat, weil sie es gar nicht anders will. Der Unterschied zu den anderen Parteien besteht in dem Ausmaß an heißer Luft und Frechheit, mit dem der Betrug durch die Trittins, Özdemirs, Palmers und wie sie alle heißen, vorbereitet wird. So interessant war Parlamentarismus in Baden-Württemberg schon lange nicht mehr. Im Anschluss folgt das Wetter.