"It's alive!" und doch vergriffen: Frankenstein, Dracula und die Tücken des Urheberrechts

Gothic

Zu Halloween werden sie wieder hervorgeholt: Frankenstein, sein Monster und Graf Dracula

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Alle Drei haben sie ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert - aber nicht nur im Schauerroman, sondern auch im Urheberrecht, das unsere kulturellen Mythen stärker bestimmt, als man das manchmal glauben möchte.

Es beginnt, der beliebtesten Version nach und so, wie es sich gehört, in einer stürmischen Gewitternacht im Juni 1816. In dieser Nacht in der Villa Diodati am Genfer See wurden die beiden berühmtesten Ungeheuer der Literatur- und Filmgeschichte geboren: Frankensteins Monster und der adelige Blutsauger, auch wenn der Vampir damals noch nicht Graf Dracula hieß. Mary Shelley berichtet in ihrem - nicht ganz zuverlässigen - Vorwort zu Frankenstein davon, und mehrere Filme haben später das Ihre dazu beigetragen, dass wir uns die illustre Selbsterfahrungsgruppe vorstellen können: Zwei Poeten, der eine (Percy Shelley) überspannt und aus dem Gleichgewicht, der andere (Lord Byron) dämonisch-dominant mit Klumpfuß; eine Blondine, Typ Spielverderberin, grübelnd und noch zu schockieren (Mary Godwin, spätere Shelley); ein kindlich-dümmliches Sexobjekt (Claire Clairmont) und ein verfettetes Nichts (Dr. Polidori), als Staffage im Hintergrund.

Sehende Brüste und Vampire

Byron, der sich im Prolog zu James Whales Bride of Frankenstein als "Englands größten Sünder" bezeichnet, war auf Betreiben seiner Gattin auf seinen Geisteszustand untersucht worden, nachdem diese gehört hatte, dass er mit seiner Halbschwester und/oder anderen Männern schlief. Auf der Flucht vor Gläubigern und Skandalgeschichten war er in die Schweiz gekommen. Mary Godwin lebte "in Sünde" mit Percy Shelley zusammen, der noch mit einer anderen verheiratet war, von alternativen Lebensformen träumte (am liebsten in einer Mischung aus Harem und Hippiekommune) und sich für ihren Geschmack viel zu gut mit ihrer Stiefschwester Claire verstand. Claire war von Lord Byron schwanger, der das Interesse an ihr verloren hatte. Polidori glaubte, dass Percy sowohl mit Mary wie mit Claire schlief und war eifersüchtig auf alle drei, weil er Lord Byron für sich allein haben wollte.

Zur Beruhigung der Gemüter verabreichte der Doktor Drogen: Äther oder Laudanum für Percy, Black Drop (eine Opiumverbindung) für Byron. Viel geholfen hat das scheinbar nicht. Am bekanntesten wurde ein Vorfall, der sich laut Polidoris Tagebuch am 18. Juni zutrug, um Mitternacht. Während Lord Byron aus "Christabel" rezitierte (ein Spukgedicht von Samuel Taylor Coleridge), lief Percy plötzlich laut schreiend aus dem Zimmer. Als er sich beruhigt hatte, erzählte er, dass er beim Anblick Marys die Vision von einer Frau mit Augen an Stelle der Brustspitzen gehabt habe. (Ken Russell hat in Gothic die sehenden Brüste auf den Körper von Claire Clairmont verpflanzt.)

Die Idee, dass sich alle an einer eigenen Geistergeschichte versuchen sollten, gab es da schon. In Stimmung gebracht hatte man sich durch das Vorlesen der Texte in einem Werk mit dem Titel Fantasmagoriana, einer französischen Übersetzung der beiden ersten Bände von Johann August Apels und Friedrich Launs Gespensterbuch. Percy schrieb offenbar den Anfang einer Erzählung nieder, der so wenig erhalten ist wie das, was sich Claire ausdachte. Byron rang sich wenigstens ein paar Seiten über den mysteriösen Augustus Darvell ab, der die Ruinen von Ephesos besucht und mit Hilfe eines Reisegefährten seinen unmittelbar bevorstehenden Tod verheimlichen will. Polidori inspirierte dieses Fragment zu einer Geschichte, in der aus Darvell ein Lord Ruthven wird, der als todbringender Liebhaber durch Europa reist und am Ende die Schwester des Erzählers aussaugt. Mit dem Vampir Lord Ruthven konnte nur einer gemeint sein. Im Mai 1816 war der Schlüsselroman Glenarvon von Lady Caroline Lamb auf den Markt gekommen. In besseren Tagen hatte Byrons Ex-Geliebte dem Lord Schamhaare und genaue Beschreibungen geschickt, wie sie diese abgeschnitten hatte. Inzwischen glaubte sie, noch eine Rechnung offen zu haben. Im Roman ließ sie Byron als den dämonischen Clarence de Ruthven, Lord Glenarvon auftreten.

Gothic

Mit Polidori ist die Nachwelt nicht sehr freundlich umgegangen. Meistens wird er so beschrieben, wie ihn Timothy Spall in Gothic verkörpert: als dicklicher Hanswurst. Am gemeinsten ist der spanische Film Remando al viento ("Rudern mit dem Wind", 1988), bei dessen Besetzung alles schiefging, was schiefgehen konnte. Hugh Grant spielt einen Lord Byron mit Föhnfrisur, der in seinem dämonischsten Moment zu einer damals noch recht pummeligen Elizabeth Hurley (als Claire Clairmont) sagt, dass sie sich ausziehen soll. Polidori ist ein zerknitterter Masochist Mitte 40, der wie ein Hund an Mary Shelleys Tür kratzt und sich aufhängt, als er nicht in ihr Bett darf. Der echte Polidori war ein gutaussehender junger Mann (19 Jahre alt), und es kam vor, dass man ihn mit Lord Byron verwechselte. In die Literaturgeschichte ging er als "poor Polly" ein - als Byrons aufbrausender Leibarzt, dem nie etwas geglückt ist. Das ist höchst ungerecht.

Remando al viento

Polidori gelang mit seiner Geschichte etwas grundlegend Neues. Vampire kannte man im England der Romantik vorwiegend aus einem Buch des Dom Augustin Calmet von 1746. Die Wiedergänger (mehr als 500 dokumentierte Fälle), über die der französische Bibelgelehrte berichtete, hatten etwas Unappetitliches. Sie waren aufgedunsen und übelriechend, machten sich über Nachbarn, Verwandte und zur Not auch deren Kühe her und wurden bekämpft, indem man sie aus ihren Gräbern holte, sich mit ihrem Blut beschmierte, ihnen die Zähne ausbrach, an ihrem Zahnfleisch saugte, sie pfählte und ihnen den Kopf abschnitt. Wenig erbaulich für ein gebildetes Lesepublikum war auch der Umstand, dass sich Calmets sehr heimatverbundene Vampire in entlegenen Dörfern Osteuropas herumtrieben und ausnahmslos bäuerlicher Herkunft waren.

Remando al viento

Polidori beschrieb seinen Vampir so, wie sich die Öffentlichkeit Lord Byron vorstellte: als aristokratischen Verführer, ebenso attraktiv wie furchteinflößend, rastlos und ohne örtliche Fixierung. Er ersetzte Stall und Misthaufen durch die Salons der High Society, schickte Ruthven auf die Kavalierstour durch Europa und verlieh ihm einen Adelstitel, wodurch er die Geschichte mit dem Lieblingskonflikt aller gothic novels ausstattete: den Ressentiments des Bürgertums gegenüber der Aristokratie. Der "arme Polidori" kann damit für sich in Anspruch nehmen, den Urvater einer Vampirfamilie erschaffen zu haben, deren Genealogie über J. M. Rymers Varney the Vampire (1847), Joseph Sheridan Le Fanus Carmilla (1872) und Bram Stokers Dracula (1897) bis zu Bela Lugosi und Christopher Lee reicht. Nicht schlecht für einen, der immer nur gescheitert ist.

Frankenstein in drei Bänden

Mary Godwin verfiel beim Erzählwettbewerb auf die Idee, ihren Helden einen künstlichen Menschen herstellen zu lassen. Mitte Juni begann sie mit der Arbeit an einer Geschichte in Novellenlänge. Im Herbst 1816 entschloss sie sich, die Novelle zum Roman auszubauen. Entgegen anders lautenden Gerüchten ist das Buch ihre Schöpfung, auch wenn Percy Shelley, der besonders im 19. Jahrhundert oft für den wirklichen Autor gehalten wurde, einen wichtigen Beitrag leistete. Er übernahm das Lektorat. Mary akzeptierte die meisten (aber nicht alle) seiner Korrekturen, und in der Regel waren es tatsächlich Verbesserungen (stilistisch, orthographisch, präzisere Beschreibungen). Über Percys Einfluss muss man nicht zu sehr spekulieren, weil neun Zehntel von Marys handschriftlichem Originalmanuskript, mit den Korrekturen, erhalten sind (aufbewahrt in der Bodleian Library in Oxford). Einige der Änderungen gingen auf Kosten der Lesbarkeit. Mary schrieb umgangssprachlicher als Percy, der zu pompöser Prosa neigte.

Mary Shelley, 1840

Mary Shelleys Tagebuch zufolge (sie hieß inzwischen nicht mehr Godwin, weil sie Percy nach dem Selbstmord von dessen erster Frau geheiratet hatte) wurde sie am 13. Mai 1817 mit der Reinschrift des überarbeiteten Manuskripts fertig. Zunächst wollte Frankenstein keiner haben. Die Ablehnungen hatten vermutlich weniger mit der literarischen Qualität des Romans zu tun als mit kommerziellen Überlegungen. Die Leser, die über Erfolg und Misserfolg angesehener Verlage entschieden, waren mehrheitlich konservativ bis reaktionär; Frankenstein war heikel, politisch wie religiös. Weniger angesehen war das Londoner Verlagshaus Lackington, Hughes, Harding, Mavor & Jones, wo der Roman schließlich (im August 1817) zur Veröffentlichung angenommen wurde. Lackington war auf Sachbücher zum Okkultismus, auf Sensationsromane und auf das Verramschen von Restauflagen anderer Verlage spezialisiert. Vielleicht schrieb Percy deshalb in seiner (anonymen) Einleitung zur Erstausgabe, der Roman sei "frei von den Schwächen einer bloßen Gespenster- oder Zaubergeschichte". Als Honorar handelte er einen Anteil am Reingewinn aus (ein Drittel). Das war ein richtiger Autorenvertrag. Trotz des etwas anrüchigen Verlages, bei dem ihr Buch herauskommen würde, hatte Mary allen Grund, stolz zu sein.

Das Buch erschien im Januar 1818 - anonym, was damals durchaus üblich war (das bot einen gewissen Schutz vor Strafverfolgung und Verleumdungsklagen), und in einer Auflage von 500 Stück. Mary hatte ursprünglich einen Roman in zwei Bänden geschrieben, und das aus gutem Grund: für drei Bände ist er zu kurz. Veröffentlicht wurde er trotzdem als dreibändige Ausgabe, mit nun 23 Kapiteln statt der 33 des Manuskripts. Das geschah wohl auf Drängen des Verlags. Mary und Percy nahmen die erforderlichen Änderungen eher lustlos vor, erledigten sie wie eine lästige Pflichtaufgabe. Weniger Kapitel ergeben einen anderen Leserhythmus. Das Manuskript liest sich schneller. Die Kapitelanfänge und Kapitelenden im Manuskript werden stärker dazu genutzt, die Geschichte dramatischer zu machen und thematische Schwerpunkte zu betonen.

Band II fängt damit an, dass das Monster seine Geschichte erzählt; in der Buchausgabe beginnt diese Erzählung mit dem dritten Kapitel von Band II und verliert damit die herausgehobene Stellung. Manchmal machten die Shelleys aus zwei Kapiteln eines, andere teilten sie in der Mitte. Das wirkt willkürlich. Kapitel 13, Band II des Manuskripts endet mit der Drohung des Monsters, Victor in seiner Hochzeitsnacht aufzusuchen: "I shall be with you on your marriage night." Das ist einer der entscheidenden Momente im Roman, und im Manuskript ein echter Cliffhanger. Im Buch kommt der Satz irgendwo im dritten Kapitel von Band III. Um den Roman auf drei Bände zu strecken, gab es sehr wenig Text pro Seite, und wenige Seiten pro Band.

Das englische Volume (Band) ist ganz wörtlich zu nehmen. Der triple-decker, also der Roman in drei Bänden, war das Standardformat der Romantik. Die einzelnen Bände von Frankenstein wurden, wie 1818 üblich, mit einer provisorischen Faden- oder Klebebindung ausgeliefert, mit einem schmucklosen, dem heutigen Bastelpapier vergleichbaren Schutzumschlag in Blau oder Grau (bei Frankenstein war er grau). Mit einem Verkaufspreis von 16 ½ Schilling für die drei Bände war der Roman nicht gerade billig. Wer sich ein Buch kaufte, nahm es meistens nicht gleich mit nach Hause, sondern ließ es erst ordentlich binden. Je nach Qualität und Ausführung (Ganz- oder Halbleder, Schafs-, Kalbs- oder Saffianleder, Verzierungen, ein eingeprägtes Familienwappen etc.) kostete das 1818 pro Band zwischen einem und 55 Schilling. Beim Binden wurden die Etiketten mit dem aufgedruckten Preis, die Reklame für andere Titel des Verlags und alle weiteren Hinweise auf den Warencharakter des Buchs entfernt. So hielt man die Fiktion aufrecht, dass Bücher von Leuten gelesen wurden, die sich über Geld keine Gedanken zu machen brauchten. Auch in Rezensionen wurde nur selten der Preis angegeben.

Solche Preise auf heutige Verhältnisse zu übertragen, ist schwierig. Man kann aber sagen, dass ein großer Teil der Bevölkerung vom Buchkauf ausgeschlossen war, weil es verlässliche Zahlen zum Verdienst verschiedener Berufsgruppen gibt. Ein gut, aber nicht sehr gut situierter Herr der oberen Mittelschicht durfte mit einem wöchentlichen Einkommen von etwa fünf Pfund (100 Schilling) rechnen. Durchschnittlich verdienende Priester, Ärzte, Kaufleute und Journalisten kamen auf 50 bis 100 Schilling die Woche. Der Drucker, der Frankenstein hergestellt hatte, erhielt zwischen 35 und 40 Schilling die Woche. Er musste schon fast die Hälfte dieses Wochenlohns für das Buch hinlegen. Völlig unerschwinglich war der Roman für die Angestellten der Buchhandlungen, in denen er verkauft wurde.

Öffentlich zugängliche, gebührenfreie Bibliotheken gab es praktisch nicht. Wer Bücher lesen, sich aber keine kaufen konnte oder wollte, war auf Buchclubs und Ausleihbüchereien angewiesen. Die Verlagsbuchhandlung Hookham, die Frankenstein 1817 abgelehnt hatte und in der Londoner Bond Street eine Leihbücherei für die besseren Kreise betrieb, bot eine Flatrate an wie heutige Videotheken: Gegen einen Mitgliedsbeitrag von 42 Schilling pro Jahr konnte man jeweils ein Buch entleihen, bei Rückgabe erhielt man das nächste.

Am anderen Ende des Spektrums ließen sich auch Leihbüchereien mit einer Jahresgebühr von 14 Schilling und weniger finden. Für die meisten Briten war das noch immer viel zu teuer. Wer Bücher auslieh, weitergab und dabei erwischt wurde, musste nicht ins Gefängnis wie der Videopirat in den Einschüchterungsspots der Filmindustrie, aber doch mit Strafzahlungen von 10 Schilling und mehr rechnen. Etwa die Hälfte einer durchschnittlichen Buchauflage ging an die Leihbüchereien. Damit waren sie ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Und die Büchereien mochten die Triple-Decker, weil jeder Band einzeln verliehen werden, man also mehr Kunden gleichzeitig zufriedenstellen konnte, ohne dafür mehr Exemplare eines Romans erwerben zu müssen. So wurde die Drohung des Monsters vom Cliffhanger zum in der Kapitelmitte vergrabenen Satz.

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