Die Protestgesellschaft

Die deutsche Wirtschaft brummt, die Unternehmen produzieren, aber die Bürger demonstrieren, gegen Bahnhöfe, Moscheen, AKWs... Geht es uns nur zu gut oder sind wir alle nicht mehr ganz bei Trost?

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Deutschland steht so gut da, wie lange nicht mehr – trotz der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und trotz der Rekordverschuldung seiner Haushalte, der Milliarden-Bürgschaften für Banken und Not leidende EU-Staaten sowie der galoppierenden Vergreisung der Republik.

Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann.

Marx, Kapital Band 3, MEW 25, S. 828

Wirtschaftswunder 2.0

Das Auslandsgeschäft boomt, das Wirtschaftswachstum steigt auf 3,5 Prozent in diesem Jahr und auch die Arbeitslosigkeit wird im nächsten Jahr unter die Dreimillionengrenze sinken. Mittlerweile hat sich das einstige Sorgenkind zum Musterknaben Europas entwickelt. Schon werden kräftige Lohnsteigerungen im nächsten Jahr erwartet. Nicht nur der Wirtschaftsminister, auch die Bundeskanzlerin fordert dies – ungeachtet des Protests der Wirtschaftsverbände.

Auch das Ausland beneidet uns um diese Zahlen. Beileibe nicht nur die PIGS-Staaten. Allein das Haushaltsloch, mit dem die Briten derzeit konfrontiert sind, ist doppelt so hoch wie das deutsche. Darum hat die neue konservativ-liberale Regierung auch gerade ein Sparpaket von schlappen 95 Milliarden Euro beschlossen, das vor allem Kürzungen im Sozialetat vorsieht und etwa eine halbe Million Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst fordern wird.

Während die Briten diese Streichorgie bislang ohne größeres Murren hinnehmen – Massenproteste wie in Frankreich, Griechenland oder Spanien sucht man auf der Insel vergebens –, dürfen hierzulande Bund, Städte und Gemeinden sogar auf Steuermehreinnahmen von ca. 30 Milliarden Euro hoffen.

Höchst unzufrieden

Gleichwohl sind die Bürger des Landes höchst unzufrieden, mit der Politik und der Regierung, mit den Eliten und den Medien, mit ihrem Einkommen und, so darf man vermuten, wohl auch mit sich selbst. Dies ist keine Erfindung übellauniger Kolumnisten, vielmehr signalisieren dies alle Umfragen, Tageszeitungen und Sendungen im Fernsehen.

Kaum eine Talkshow, ein Tagesthema oder ein Bericht, wo nicht klagend und vorwurfsvoll mit dem Finger auf die düstere Lage des Landes gezeigt wird, auf die schwierige Lage am Arbeitsmarkt, auf die Nöte von Hartzern und Geringverdienern, auf die Bonizahlungen an unfähige Banker und Manager, auf die Integrationsunwilligkeit von Migranten, auf den Lärm und Zank der Politiker, auf die Steuerunehrlichkeit der Mittelstandsbürger etc. Tag für Tag hat es bei Frau Will, bei Herrn Plasberg, bei Frau Illner und bald wohl auch noch bei Herrn Jauch den Anschein, als ob das Land geradewegs am Abgrund stünde und alles den Bach runterginge.

Wie kommt es zu diesen zuwiderlaufenden, sich gegenseitig widersprechenden Zahlen, Meinungen und Perspektiven? Warum klaffen die Wirklichkeit des Landes und die öffentliche Wahrnehmung so weit auseinander? Sind die Medien, die das alles transportieren, die Politiker, die das kommunizieren, oder wir, die Bürger dieses Landes, die das alles rezipieren, noch ganz bei Trost? Haben wir nicht Wichtigeres zu tun, als uns wegen mittelmäßiger Themen die Köpfe heiß zu reden und darüber Grundsatzdebatten zu führen? Sind wir gar dabei, den Blick für die wirklichen Herausforderungen der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu verlieren, für die Demografie, die Sozialsysteme, die Digitalisierung, die Staatsverschuldung, den Aufstieg der BRIC-Staaten?

Das Volk protestiert

Gewiss gab es immer schon Proteste und Großdemonstrationen in diesem Land. Genau genommen haben sie die Bundesrepublik von Anfang an begleitet. Man denke nur an den Widerstand gegen Wiederbewaffnung und Notstandsgesetzgebung, an die Revolte der Studenten gegen die vermuffte Republik und einen autoritären Staat, an die Großkundgebung im Bonner Hofgarten und die Sitzblockaden vor Mutlangen gegen die atomare Nachrüstung. Und man erinnere sich auch an die langjährigen "Schlachten", die vor Brokdorf, in Gorleben und Wackersdorf und gegen die Startbahn West mit Wasserwerfern, Knüppeln und Zwillengeschosse ausgetragen wurden.

Völlig neu und unbekannt sind derartige Konflikte und Massenproteste hierzulande also nicht. Sie belegen, dass die Deutschen, entgegen vieler anders lautender Berichte, immer schon ein demonstrationsfreudiges Volk waren, das gern und häufig auf die Straße ging und gegen Entscheidungen, die im Parlament, in den Hinterzimmern oder am Kabinettstisch getroffen werden, aktiv aufbegehren konnte.

Vor mehr als zwanzig Jahren haben sie es allein durch ihre Beharrlichkeit und Penetranz geschafft, ein sozialistisches "Unrechtssystem" friedlich und ohne Blutvergießen zu Fall zu bringen und die Nomenklatura, die sich diesen Staat zur Beute gemacht hatte, zum Teufel zu jagen. Ohne die allmontägliche Gänge auf die Straßen, ohne die Kundgebungen auf dem Alexanderplatz und ohne die Besetzung der Stasi-Zentrale, wäre das neue Großdeutschland anno 2010 gar nicht denkbar und möglich geworden.

Jetzt auch der Bürger

Trotzdem scheint in letzter Zeit etwas schief zu laufen im Land. Existenznöte sind es bekanntlich nicht, die die Bürger umtreiben. Dafür sorgt schon ein paternalistisch sich sorgender Staat, der sich liebevoll darum kümmert, dass niemand aus dem sozialen Netz fällt.

Gewiss gibt es Verunsicherung, soziale Abstiegs- und Zukunftsängste. Gar mancher sorgt sich wegen seiner prekären Arbeitsverhältnisse. Und viele Eltern zweifeln, ob es ihren Kindern später auch mal wirklich besser gehen wird. Doch solche Sorgen und Nöte gab es zu allen Zeiten. Nicht nur in Zeiten des Umbruchs. Und verglichen mit den Lasten und Notlagen, die unsere Großväter und Großmütter hatten, mit ihrem täglichen Kampf um Wohnung, Kleidung und Ernährung, muss man das als Luxusprobleme einer allzu satt und träge gewordenen Gesellschaft verbuchen, die über die Jahrzehnte Speck angesetzt hat und sich gegen jede leichte Korrektur ihrer Leibesfülle zur Wehr setzt.

Gern würde man ja mal erfahren, welchen Aufschrei es im Land gäbe, wenn eine Regierung den Deutschen eine ähnliche Abmagerungskur verschreiben würde, wie es derzeit den Griechen, Iren und Briten zugemutet wird. Die Schlagzeilen, die Proteste und Empörung an den medialen Stammtischen des öffentlich-rechtlichen Staatsfernsehens wären kaum auszumalen.

Im Unterschied zu früher richten sich Zorn, Wut und Groll der Bürger nicht mehr nur gegen ein einzelnes Großprojekt, eine einzige Partei oder eine einzige Regierung. Vielmehr artikulieren sie sich auf vielen und diversen Politfeldern und nehmen dabei die gesamte politische Klasse in Haft. Mal geht es gegen Atomkraft und Lobbyistenverbände, mal gegen Großprojekte und Opernschließungen, mal gegen Moscheebauten und die Planung von Umgehungsstraßen, mal gegen Untertunnelungen und Gemeinschaftsschulen oder für Rauchverbote.

Gegen die da oben

Und auch auf den Straßen tummeln sich längst nicht mehr nur jene bekannten Berufsprotestierer, die man von den Bildschirmen her kennt, die mal gegen Dies, mal gegen Jenes demonstrieren und die meist nur auf die Gelegenheit warten, ihre Plakate, Fahnen und Kostüme, die sie in ihren Schränken sorgfältig verwahren, wieder auf die Straße zu tragen: Gewerkschaftler, kirchliche und linke Gruppierungen, Friedensbewegte und Müslijünger (Produktivkraft Wut).

Mittlerweile probt auch der scheinbar brave und unbescholtene Mittelstandsbürger den Aufstand gegen "die da oben". Um Dampf abzulassen und es denen da in München, Stuttgart oder Berlin mal richtig zu zeigen, scheinen selbst ihnen Wechselwählertum, Denkzettelabstimmung und/oder Stimmzettelverweigerung vor und an der Urne nicht mehr zu genügen (Im Schatten der Stimmzettelverweigerer).

Auch sie schließen sich zu Interessengruppen zusammen, gründen Zirkel und Netzwerke im Internet und initiieren Volksentscheide. Oder sie gehen gleich selbst auf die Straße, pusten kräftig in Trillerpfeifen, werfen mit Kastanien, Steinen oder gar Flaschen, recken ihre Kinder als lebende Schutzschilde gegen anstürmende Polizeihorden in die Höhe und schreiben denselben Krankheitsbescheinigungen für die Schule aus (Bundesinnenminister genervt von Bürgerprotesten und "begüterten Eltern").

Potemkinsches Dorf Deutschland

Schon wundert man sich in der bürgerlichen Presse, warum die Bürger in Hamburg bislang so verzagt auf das Spardiktat des Kultursenators reagieren und nicht längst aktiver gegen die Kürzungen im Kulturetat vorgehen (Noch ist der Protest bemerkenswert dezent. Und man wundert sich auch, warum sie wegen der Flugrouten und Einflugschneisen des neuen Großflughafens in Berlin-Schönefeld, die über ihre Wohngebiete führen, nicht ebenso einen "Baustopp" verlangen wie in Stuttgart (Schönefeld soll kein Stuttgart werden).

Wenig scheint von dem geschönten Bild, das der Bundeskanzler in spe, Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, in seiner Rede am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit im Konrad Adenauer Haus vor der Jungen Union über das ebenso bunte wie erfolgreiche Deutschland gemalt hat, realisiert (Alle Gewalt geht vom Worte aus). Eher hat es den Anschein, als setzten die Bürger allmählich das um, wozu der Historiker Arnulf Baring sie vor acht Jahren in der F.A.Z. schon mal aufgefordert hat, nämlich "auf die Barrikaden" zu gehen.

Feindbild Politiker

Im Allgemeinen werden für den wachsenden Unmut, die miese Stimmung und den hohen Vertrauensverlust, der die Bürger erfasst hat, "die Politiker" verantwortlich gemacht. Sie wüssten nichts mehr von den Alltagsproblemen des Normalbürgers, sie lebten längst in einer "Parallelwelt" (Norbert Bolz) oder kreisten im "Raumschiff Berlin" abgehoben über der Republik, wo sie ihre täglichen Scharmützel mit Ihresgleichen führten.

Zudem seien sie oftmals wankelmütig und mutlos, ausschließlich an ihren Pfründen und am Machterhalt interessiert und verhielten sich beizeiten offen opportunistisch und populistisch. Zum Beispiel werden unbequeme Entscheidungen, die sie vor Jahren mal aus Überzeugung und mit Realitätssinn für die Belange des Landes getroffen haben, wie etwa die Rente mit 67, zu Hartz IV oder zur Agenda 2010, wenn es dem parteitaktischen Kalkül dient, verwässert oder nach und nach wieder zurückgenommen.

Schafft es ein durchsetzungsfähiger Politiker tatsächlich mal, sich auf dem Weg durch die Parteigremien ein unverwechselhaftes Profil mit Ecken und Kanten zu erhalten, werden die spätestens in der Mühle des Berliner Politikbetriebs so weit wieder abgeschliffen, dass er am Ende nur noch jene Leerformeln, Floskeln und Allgemeinplätze "ausspuckt", die man auch von Profifußballern und Trainern vor und nach dem Spiel her kennt und die Medien und ihr Publikum hören wollen.

Verachtet, verlacht, verhöhnt

Heribert Prantl, stellvertretender SZ-Chefredakteur und dort zuständig für die moralische Bewertung von Politik (Die Helden der Nation), zitiert, um die Verachtung, den Hohn und den Spott zu illustrieren, die den Politikern gegenwärtig im Lande entgegengebracht werden, den Schriftsteller Thomas Mann. In den "Betrachtungen eines Unpolitischen", die er am Ende von WK I angestellt hatte, charakterisierte er den Politiker als ein "niedriges und korruptes Wesen, das in geistiger Sphäre eine Rolle zu spielen keineswegs geschaffen ist".

Im deutschen Bürgertum gebe es laut Prantl spätestens seit dieser Zeit "eine lange Tradition der Politikverachtung", die sich über die Jahrzehnte nicht nur gehalten, sondern sich in den letzten Jahren nochmals verstärkt hat. Sprach man in der Weimarer Republik vom Parlament noch abschätzig von der "Schwatzbude", hat man für das, was sich derzeit in und um Berlin abspielt, den Begriff des "Demokratie-Theaters" gefunden.

Erst wenn die Politiker das Zeitliche gesegnet oder sich aufs Altenteil zurückgezogen hätten, bekämen sie jenen Kredit zurück, der ihnen während ihrer aktiven Zeit verwehrt oder abgesprochen worden ist.

Nicht bloß der Politiker …

Zumindest an letzterem ist durchaus etwas dran. Nur so erklärt sich nämlich Achtung und Popularität, die einem Helmut Schmidt, einem Hans-Dietrich Genscher oder gar einem Helmut Kohl oder einem Heiner Geißler entgegen gebracht werden. Dem ehemaligen CDU-Generalsekretär wird sogar, was angesichts seiner vormaligen "Wadlbeißerrolle" an der Seite Helmut Kohls und seiner kafkaesk anmutenden Verwandlung zum bekennenden attac-Mitglied schon sehr verwundert, zugetraut, den Konflikt um Stuttgart 21 zu entschärfen.

Gleichwohl zitiert Prantl im selben Artikel aber auch den Münchner Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger, der vor Jahren dargelegt hat, warum er sich seit einiger Zeit "mit Grausen" von der Politik abwende. Ihn befalle nämlich immer eine gewisse "Art von Peinlichkeit", wenn er gezwungen werde, von oder über sie zu sprechen. Schließlich habe auch er jene Leute gewählt, die ihn danach so jämmerlich regieren würden.

Vor allem der Bürger…

Damit sind wir mitten im Kern des Problems, nämlich beim Bürger selbst. Es sind ja nicht nur "die Politiker", die Schuld an der Misere haben, an Vertrauenskrise und wachsender Politik- und Demokratieverdrossenheit. Bekanntlich arbeiten sie ja rund um die Uhr. Vielleicht nicht immer oder ausschließlich für die Belange des Bürgers. Aber Faulheit oder gar Desinteresse an der Lösung von Problemlagen kann man ihnen jedenfalls nicht attestieren. In aller Regel ringen sie hart und zäh um die besten aller möglichen Lösungen.

Vielmehr sind es die Bürger selbst, die häufig mit überzogenen Erwartungen und Ansprüchen die Politik und ihre Repräsentanten überfrachten. Die meisten dieser Forderungen können von ihr gar nicht gelöst werden, weil sie gar nicht ihrem Machtbereich unterliegen oder andernorts bereits entschieden werden oder wurden.

Andererseits sind die Bürger aber selbst auch nicht bereit, Realitäten, die aus Bündnissen, Verträgen oder Absprachen resultieren, Zumutungen, die die Politik ihnen auferlegt, oder notwendige Konsequenzen, die sich aus Mehrheiten, Kompromissen oder "Zwängen", wie man früher gern gesagt hat, ergeben, zu akzeptieren.

Weil das so ist, Politiker und Parteien, die unbequeme Wahrheiten verkünden oder unliebsame Entscheidungen treffen, um ihre Wiederwahl fürchten müssen oder am Wahltag von den Bürgern abgestraft werden, bekommt der Bürger von den Politikern stets das, was er verdient: wohlfeile Sprüche, geschönte Wahrheiten, nichtssagende Floskeln, weichgespülte Statements.

…ist das Problem

Diese Widersprüchlichkeiten, die den Bürger durchziehen und die er in modernen westlichen Gesellschaften auch aktiv lebt, sind mitnichten eine Frage des ideologischen Standpunkts, der parteipolitischen Affinität oder eine von arm oder reich, links oder rechts, oben oder unten, vielmehr findet man sie in allen Milieus, Schichten und Lebensformen. Einige Beispiele mögen das illustrieren:

  1. man lamentiert zwar öffentlich über Hungerlöhne und tritt für Mindestlöhne ein, kauft aber dann beim Billigdiscounter ein, wo die Milch dreißig Cent kostet, oder lässt sich von einem Feierabendfriseur die Haare schneiden
  2. man macht am Wochenende am besten zwar mal rasch einen Abstecher nach Rom, London, Berlin oder Paris, zum Shoppen, Raven oder Sightseeing, tiefer in die Tasche greifen will man dafür aber nicht
  3. man ereifert sich zwar über den hohen CO2-Ausstoß und den Klimawandel, fährt die Kinder aber dann im SUV zum Klavierunterricht, zum Nachhilfelehrer oder zum Kindergeburtstag
  4. man referiert zwar in bunten Bildern und mit klugen Worten über die Vielfalt der Kulturen, zieht dann aber, wenn die Kinder eingeschult werden, rasch in andere Stadtteile oder schickt sie gleich auf Privatschulen
  5. man demonstriert zwar gegen längere Laufzeiten von AKWs und für erneuerbare Energien, führen die dafür benötigen Hochspannungsanlagen aber durchs eigene Wohnumfeld, geht man auf die Barrikaden
  6. man schimpft zwar über höhere Energiepreise, nimmt Subventionen, die der Staat für die Errichtung von Sonnenmodulen auf den Hausdächern garantiert, aber gern entgegen
  7. man fordert zwar die Verlegung des Verkehrs auf die Schienen, werden die dafür nötigen Infrastrukturmaßnahmen, Gleise, Bahnhöfe, Untertunnelungen getroffen, sieht man darin aber eine Zerstörung von Naturlandschaften und macht sich für den Erhalt des Juchtenkäfers oder der Krötenwanderwege stark
  8. man möchte zwar eine kostenlose Rundumversorgung durch den Wohlfahrtsstaat, müssen die Steuern dafür aber erhöht werden, ist man nicht bereit, den entsprechenden Obulus zu entrichten
  9. man weiß zwar, dass man wegen fehlender Kindergeburten und der immer älter werdenden Bevölkerung im Prinzip länger arbeiten muss, möchte selbst aber bereits und am liebsten mit sechzig in Rente gehen
  10. man ist sich zwar bewusst, dass die Verschuldung des Staates künftige Generationen belastet, gleichwohl fordert man vom Staat aber seine krude Subventionspolitik beizubehalten und weitere Wohltätigkeiten (Elterngeld, Kitas, Ganztagesschulen, Bildungschips und Schulspeisungen …) flächendeckend über das Land zu verteilen

Bleiben wie es ist

Schon diese, eher willkürlich und zufällig zusammengestellte Liste einiger Ungereimtheiten, Widersprüchlichkeiten und Lebenslügen, die das Leben vieler Bürger kennzeichnen, zeigt, dass längst er selbst sich zum Problem- und Krisenfall Nummer eins entwickelt hat.

Für die Politik und ihre Repräsentanten erweist vor allem er sich als ein höchst "unsicherer Kantonist", der vorwiegend eigene Nutzenkalküle verfolgt, egoistisch seine Zeile anstrebt, von einem paternalistisch ihn umsorgenden Staat die Lösung all seiner Probleme erwartet und es in seinem näheren Umfeld möglichst behaglich haben will.

Es mag ein schwacher Trost sein, dass auch andere westlichen Nationen mit den neuen Realitäten nicht klarkommen. In Frankreich etwa hat der Widerstand gegen die Rente mit 62 geradezu grotesk anmutende gewalttätig-hysterische Züge angenommen. Sie errichten Barrikaden, blockieren Treibstofflager und liefern sich Schlachten mit der Polizei. Auch dort glauben offensichtlich die Bürger, auf einer "Insel der Seligen" zu leben, auf der alles so bleiben soll, wie sie es seit Jahren gewohnt sind (Tea Party á la francaise).

Zukunftsunwillig

Die Frage ist nur, ob man mit solchen Anti-Haltungen die Zukunft gewinnen kann. Denn wenn die "flach" gewordene "Welt" (Thomas L. Friedman) uns eines gelehrt hat: Nur wer wendig ist, sich für Neues öffnet, sich der Zukunft zuwendet und weiter in der Champions League mitspielen kann, wird auch in der Lage sein, den einmal erreichten Wohlstand zu verteidigen, die Sozialausgaben zu leisten und die hohen Investitionen in Forschung und Entwicklung, die dafür aufzubringen sind, auch zu schultern. Ohne die Innovationskraft der mittelständischen Wirtschaft, ohne die Lohnzurückhaltung der Mitarbeiter und ohne die hohe Qualität der produzierten Güter, stünde Deutschland nicht da, wo es derzeit noch steht.

Dabei wissen längst auch die Bürger, dass sich das Land in einem scharfen Wettbewerb befindet. Mit Billiglohnländern ebenso wie mit aufstrebenden Staaten. Diesen hat die Bundesrepublik bislang, wie die Zahlen belegen, überraschend gut bestanden. Auch dank der rot-grünen Regierung und der von ihr in Gang gesetzten Sparmaßnahmen. Doch weil die Bürger sich der Nachkommenschaftbildung verweigern, fehlen den Unternehmen inzwischen einige der dringend dafür benötigten Fachkräfte. Darum guckt sich die deutsche Politik wieder mal verstärkt in fernöstlichen Ländern um.

Doch die sind bekanntlich äußerst rar gesät. Auch mit verstärkten Bildungs- und Qualifizierungsoffensiven sind Ingenieure, Mathematiker, Systemanalytiker und Software-Entwickler nicht aus dem Hut zu zaubern. Und mit der Senkung von Bildungsstandards, wie sie seit Jahren zu beobachten ist, um mehr Abiturienten zu rekrutieren, erst recht nicht. Darum tobt auch um sie ein weltweiter Wettbewerb.

Nur wie will man diese "technische Intelligenz" ins Land holen, wenn man, wie die jüngste Integrationsdebatte zeigt, widersprüchliche Signale ans Ausland sendet, mehr Zumutungen als Versprechen für die Neuankömmlinge bereithält (Willkommen in Deutschland!), sich latent fortschritts- und technikfeindlich präsentiert und es sich obendrein leistet, Zukunftsprojekte und Leuchttürme deutscher Technik, wie seinerzeit den Transrapid, ans Ausland zu verscherbeln, weil die Kosten hoch und der politische Wille zum Bau zumindest einer Strecke fehlt.

Keine Gier nach Neuem

Fernöstliche Tigerstaaten oder die arabischen Emirate machen sich diese für sie "glücklichen" Umstände zunutze. Fareed Zakaria (The Rise of the Rest) hat diese kontinentale Drift unlängst moniert und mit drastischen Zahlen belegt. Standen früher die höchsten Gebäude, die spektakulärsten Bauwerke, die kühnsten Projekte oder die größten Spielkasinos und Einkaufszentren in den USA, muss man heute, um sie zu bewundern, nach Taiwan, Dubai oder Shanghai aufbrechen.

In diesen Staaten herrschen nicht nur Aufbruchstimmung, Optimismus und Zukunftswillen, dort hat die sportliche Lust am Höher, Schneller und Weiter, das zähe und beharrliche Wirken am wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg längst einen neuen Ankerplatz gefunden.

In vielerlei Hinsicht erinnert die Lage und Haltung des Wohlstandsbürgers hierzulande an Nietzsches "letzten Menschen". Nach dessen Lesart (Die Eule der Minerva) hat er es sich in seiner posthistorischen Wohlfühlwelt behaglich eingerichtet, der Leistungsträger ebenso wie der Leistungsempfänger. Die Gier nach Neuem und der "Wille zur Macht", all diese Tugenden, die er mal gehabt hat und die seinen Aufstieg einst begleitet haben, sind ihm über die Jahre fremd geworden.

Satt und träge

Durch den allumsorgenden Wohlfühlstaat ist der Bürger satt und träge geworden (Die große Müdigkeit). Er hat nicht nur das Kämpfen verlernt, den Willen zum "sozialen Aufstieg", was die sozialdemokratische Wählerklientel vor Zeiten mal ausgezeichnet hat, er will auch, dass sich möglichst wenig ändert. Das Leben soll eine Art Sonntagsspaziergang sein. Abrissbirnen, Bagger und Kräne sind ihm ein Gräuel, weil sie diese Betulichkeit stören.

Gleichwohl zeigen die Reaktionen der Bürger, was an der Debatte an Sarrazin wiederum deutlich wurde, bisweilen auch eine recht ungewohnte und überraschende Sensibilität, wenn sie a) das Gefühl haben, von oben bevormundet werden, oder b) merken, dass ihnen medial mitgeteilt wird, was und wie sie zu denken haben.

Vielleicht lässt sich der phänomenale Erfolg und die pure Begeisterung, die Sarrazins Buch vor allem bei Wohlstandsbürgern ausgelöst und gewaltige Differenzen zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung sichtbar gemacht hat, auch damit erklären.

Nicht hilfreich

Im Grunde handelt es sich bei "Deutschland schafft sich ab", sieht man mal vom Kapital acht ab, wo der ehemalige Bundesbanker sich mit einigen riskanten Thesen zur Intelligenzentwicklung vergaloppiert, um eine ebenso nüchterne wie erschütternde Bestandsaufnahme, die ein "aufrechter Sozialdemokrat" (Klaus von Dohnanyi) und "Patriot" (Alexander Kluge) über das Land verfasst hat, und der damit, wie ein sozialdemokratischer Grande zu wissen glaubt, voll "ins Schwarze getroffen" (Hans-Ulrich Wehler) hat (Parteiausschluss undenkbar).

Darin beklagt Sarrazin nicht nur den mangelnden Aufstiegswillen breiter Bevölkerungsschichten, er weist auch auf diverse Versäumnisse, Ungereimtheiten und Lebenslügen hin, die das Land auf den Feldern der Bildung, der Integration und der Sozialgesetzgebung seit vielen Jahren hegt und pflegt und zudem auch noch gezielt fördert und unterstützt.

Hätte die Politik, in Gestalt der Bundeskanzlerin, des SPD-Vorsitzenden und anderer, nicht so schroff und ablehnend reagiert, ohne überhaupt Kenntnis vom Inhalt zu haben; und hätten die Medien nicht genüsslich einige der schludrig dahingesagten Halbsätze oder Reizwörter des Autors seziert, das Buch hätte gewiss nicht diese Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Und es hätte auch sicherlich nicht die Gemüter der Bürger so in Wallung gebracht (Sarrazin proletarisiert sein Publikum), dass darüber gar "gutgekleidete Grauköpfe ins Geifern" geraten sind (Therapeut und Brandstifter).

Opposition wird belohnt

Politiker und Parteien, die Antihaltungen der Bürger wahltaktisch nutzen wollen, sollten sich daher vorsehen und sich vor opportunistischer Ausschlachtung derselben hüten. Opposition wird vom Wähler stets honoriert. Sie kann fordern und muss nichts beweisen. Wer hingegen regiert und unpopuläre Maßnahmen treffen muss, oder gar das Gegenteil tut von dem, was er vor der Wahl versprochen hat, der zieht meist den berechtigten Wut und Zorn der Bürger auf sich. Waren es im letzten Jahr die Liberalen, die vom Unmut, der Unzufriedenheit und dem Wechselwillen der Bürger profitierten, so sind es jetzt die Grünen, die vom Groll der Bürger beflügelt und begünstigt werden.

Es gehört folglich wenig Fantasie dazu, und man muss dazu auch nicht die "Politische Soziologie" von Niklas Luhmann zu Rate ziehen, um den Grünen, sollten sie bei den nächsten Regionalwahlen im Herbst nicht nur die Mehrheit der Stimmen, sondern auch noch den Ministerpräsidenten stellen, einen ebenso raschen Absturz in der Wählergunst vorauszusagen, wie ihn die FDP und die CDU aktuell erleben. Auch sie werden nach der Wahl nicht tun, was sie jetzt noch großspurig verkünden. Zu weit fortgeschritten sind dafür bereits die Planungen.

Darum wird bei den Schlichtungsverhandlungen auch nicht viel herauskommen (Großbaustelle für Generationen). Zu unversöhnlich sind die unterschiedlichen Positionen. Hinzu kommt, dass das Projekt europäische Belange tangiert und in europäische Vereinbarungen eingebunden ist. Schließlich handelt es sich auch um eine Magistrale, die West- und Osteuropa mal verbinden soll. Weder die Bundes- noch eine neue Landesregierung werden da einfach aussteigen können.

Teilhabe ermöglichen

Um solche Wert- und Interessenskonflikte künftig besser zu managen, haben Andreas Zielcke in der SZ (Geistige Kessellage) und Patrick Bahners in der F.A.Z. (Was heißt Legitimation durch Verfahren?) mit Blick auf Niklas Luhmann daran erinnert, dass auch "Verfahrensrationalitäten", wie sie die repräsentative Demokratie vorsieht, die Teilhabe der Bürger an Entscheidungsprozessen nicht von vornherein ausschließen.

Wer Groß- oder Zukunftsprojekte wie Stuttgart 21 plane, müsse bereits im Vorfeld und nicht erst bei Baubeginn Sorge dafür tragen, dass die Bürger gehört und mitgenommen werden. Nur wenn eine solche "deliberative Prüfung" mit "messbaren Alternativen" und "offenem Ausgang" sichergestellt ist, würden die Unterlegenen später das Resultat auch friedlich akzeptieren.

Kontrafaktisch zwar möglich

Mal abgesehen davon, dass der Bürger trotz aller Geheimoperationen der Macher und Planer Einspruchsmöglichkeiten zuhauf hatte, solche Interventionen im Grunde immer schon möglich sind und waren, ist diese Mahnung der Kollegen an die Entscheidungsträger natürlich streng "kontrafaktisch" gedacht, am "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" entlang.

Nur wann hat das schon jemals die Herzen der Bürger bewegt oder eine Entscheidung begründet? Nicht mal im universitären Oberseminar ist es jemals zum Tragen gekommen. Das sollten eigentlich auch die Habermasianer wissen, die das Gerücht in Umlauf gebracht haben.

Nicht nur deswegen werden Bürger und Publikum schnell das Interesse an solchen Schauveranstaltungen, wie sie im Stuttgarter Rathaus gerade stattfinden, verlieren, sollten sie sich tatsächlich häufen. Es sind ja keine Tatort-Krimis, die dort stattfinden. Und Kants Zauberspruch von der "Unmündigkeit", die umgekehrt werden soll, taugt für die mediale Auf- und Verarbeitung erst recht nicht.

Politisch eher unmöglich

Richtig ist, um den Einwand gleich selbstredend aufzugreifen, dass es im Falle des Gotthard-Tunnels bekanntlich hervorragend funktioniert hat. Auch da gingen dem Projekt jahrelange Debatten und Diskussionen voraus. Dementsprechend stolz präsentierte und feierte man den Durchbruch letzte Woche in der Schweiz.

Zu bedenken gilt aber, dass die Schweiz ein kleines Land ist, das jahrzehntelange Erfahrung in Sachen direkter Demokratie besitzt. Dort akzeptieren die Unterlegenen sogar, wie man erfahren hat, das Verbot von Minaretten. Hierzulande wäre allein schon eine solche Fragestellung undenkbar.

Doch die Schweiz ist nicht Deutschland und auch nicht Frankreich. Es ist mehr als fraglich, ob solche Verfahren nach Niederlagen wirklich immer so friedfertig und reibungslos ablaufen. Wem dazu sofort Gorleben einfällt, wer an Castor-Transporte und AKWs denkt, die alle Welt derzeit hochzieht, in Japan und China ebenso wie im Iran oder in Schweden, liegt sicher nicht nur nicht verkehrt, dem werden auch berechtigte Zweifel kommen, ob der Schlichtungswilligkeit der Unterlegenen.

Es hieße, das Politische zu romantisieren und es völlig misszuverstehen, wenn man es auf Kompromisse und Gespräche, auf Debatten und Verständigung, auf Diskussionen und Schlichtung zurückführte. Am Grund dieses Genres geht es immer noch um Macht, darum, den Gegner zu stellen und seine Interessen gegen andere durchzusetzen. Das mag man beklagen, ändern wird man es mit klugen Worten allerdings nicht.