Jugendgewalt: Religionshintergrund nicht bedeutend

Eine EU-Jugend-Studie, durchgeführt in Frankreich, Spanien und Großbritannien, rückt andere Faktoren für die Erklärung von gewalttätigem Verhalten in den Vordergrund

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Der Sachverhalt scheint für viele geklärt: Zwischen Religiösität und Gewaltbereitschaft besteht ein signifikanter Zusammenhang. Und muslimische Einwanderer, so pfiff es die KFN- Studie im Juni in empfangsbereite Ohren, schauen in diesem Zusammenhang besonders schlecht aus (siehe Junge Muslime und Gewaltbereitschaft). Gestern legte die EU-Grundrechte-Agentur ebenfalls eine Studie (deutsche Zusammenfassung, englische Orginalversion) vor, die sich mit der Gewaltausübung und -bereitschaft von muslimischen Einwanderern in europäischen Ländern befasst. Sie stellt andere Zusammenhänge her und kommt prompt zu weniger erregenden Ergebnissen: „Der Religionshintergrund sowie die Religionszugehörigkeit spielen bei der Erklärung von gewalttätigem Verhalten keine Rolle.“

„Und täglich grüßt die KFN-Studie“, so fasste ein medienkritischer Blog das eigenartige Schauspiel zusammen, das sich Mitte Oktober in der deutschen Medienöffentlichkeit zutrug. Die Pfeifferstudie erlebte noch einmal ihr Revival, nachdem kurz zuvor die Sarrazin-Diskussion das gleiche Stimmungsfeld beackert hatte. Diesmal war die Deutschfeindlichkeit der Einwanderer das Thema.

Der Befund, wonach muslimische Einwanderer besonders aggressiv sein sollen, wurde – zumindest in pauschalen Tonlagen – noch einmal vorgebracht und erhärtet. Kritische Einwände zur Pfeiffer-Studie, wonach deren zugrundeliegende Indikatoren für Religiösität Zweifel aufwerfen, konnten sich kaum Gehör verschaffen. Stattdessen blieb die einfachere, laute Formel, nach der jene eingewanderten Muslime, die besonders in ihrem Glauben verankert sind, auch eher zur Gewalt neigen, in den Ohren kleben. Differenzierungen, auch seitens Pfeiffer, sowie relativierende Erkenntnisse der KFN-Studie wurden im Lärm der Freude über die neuentdeckte Freiheit zum „Das darf man doch auch einmal so sagen“ überhört.

Die Studie der EU-Grundrechte-Agentur teilt mit der Pfeifferschen aus Niedersachsen die grundlegende Einsicht, dass nicht die Religionszugehörigkeit, sondern der Umgang mit zur Delinquenz neigenden Bekannten oder Freunden ein primärer Faktor für Gewalttätigkeit ist. Ein anderer ist die Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht. Worauf in der KFN-Studie ebenfalls eingegangen wird - was aber bei der Interpretation der KFN-Ergebnisse aber meist sehr vernachlässigt wurde - dem kommt nun bei der EU-Studie zentrale Bedeutung zu: die Wechselwirkungen zwischen Einwanderern und Mehrheitsgesellschaft. Das klingt schon im Titel der Studie an: „Erfahrungen muslimischer und nichtmuslimischer Jugendlicher mit Diskriminierung, sozialer Ausgrenzung und Gewalt“.

Die EU-Forschungsstudie, durchgeführt 2008 bis 2009 in 3 Ländern, Frankreich, Spanien und Großbritannien (jeweils 1000 Kinder und Jugendliche im Alter von 12- 18 Jahren), nimmt den Einfluss von Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalterfahrung stärker ins Blickfeld. Festgestellt wurde, „dass es einen engen Zusammenhang zwischen Viktimisierung und der Ausübung gewalttätiger Handlungen gibt“.

In allen drei EU-Mitgliedstaaten, in denen die Erhebung durchgeführt wurde, war bei Jugendlichen, die sich sozial ausgegrenzt fühlten, und bei denjenigen, die aufgrund ihres kulturellen oder religiösen Hintergrunds, ihrer Hautfarbe oder Sprache Opfer von Gewalt geworden waren, die Bereitschaft zu emotionaler Gewalt (wie Hänseln oder Drangsalieren) gegenüber anderen höher als bei Jugendlichen, die sich nicht sozial ausgegrenzt fühlten oder die aus den genannten Gründen nicht schikaniert worden waren.

Die Studie legt dabei zum einen entschieden Wert darauf, dass nicht nur muslimische Jugendliche, sondern auch nicht-muslimische Erfahrungen mit Diskriminierung, Ausgrenzung und Schikanen gemacht haben. Jeder vierte Jugendliche berichte in jedem der drei Länder über solche Erfahrungen. In Frankreich und in Spanien zeigte sich, dass muslimische Jugendliche „sehr viel eher“ solche Erfahrungen gemacht haben; in Großbritannien stellte man dagegen keine derartigen Unterschiede fest.

Zum anderen wird deutlich darauf hingewiesen, dass zwischen Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung unterschieden werden muss. Gewaltbereitschaft müsse nicht unbedingt mit tatsächlichen gewalttätigen Verhalten einhergehen. Herausgehoben wird, dass es keinerlei Hinweise darauf gebe, wonach muslimische Jugendliche „häufiger oder seltener Gewalt anwenden“.

Die Wahrscheinlichkeit für Gewaltanwendung liegt den Studienergebnissen zufolge an anderen Faktoren. Sie sei höher, wenn die Jugendlichen Mitglieder „von kriminellen Gruppen“ sind. Die häufige Reaktion von Jugendlichen, die diskriminiert wurden, sei ein Gefühl „sozialer Isolation und Entfremdung von Gleichaltrigen“. In Gewalthandlungen wird das laut Studie mit größerer Wahrscheinlichkeit erst dann umgesetzt, wenn mehr zusammentrifft:

Dagegen werden Mitglieder von kriminellen Jugendgruppen, die diskriminiert wurden, eher Opfer von Gewalt und begehen mit größerer Wahrscheinlichkeit gewalttätige Handlungen.

Berücksichtige man die Geschlechtszugehörigkeit – männlich -, die „Gangzugehörigkeit“, Diskrimierung und soziale Ausgrenzung, dann spiele der Religionshintergrund und die Religionszugehörigkeit bei der Erklärung von gewalttätigem Verhalten „keine Rolle“.

Möglicherweise hält sich die Forschungsstudie der EU-Grundrechte-Agentur bei manchen Ergebnissen so sehr an die vorgebene Trennschärfe zwischen Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit, dass sie dann doch auftretende Besonderheiten damit nivelliert:

Etwa jeder fünfte Jugendliche war der Auffassung, dass Gewalt gerechtfertigt war, wenn seine Religion beleidigt wurde. Im Durchschnitt stimmten muslimische Jugendliche in allen drei EU-Mitgliedstaaten dieser Aussage eher zu als Nichtmuslime. Dieses Ergebnis bedeutet allerdings nicht, dass Jugendliche tatsächlich gewalttätig werden.

Angesichts der augenblicklich hoch im Kurs stehenden Gewichtsverlagerung in der deutschen Diskussion, die beim Thema Integration, die ja ein wechselseitiger Prozess ist, vor allem auf die Bereitschaft dazu seitens der Einwanderer schaut, so überwiegt allerdings das Moment der Blickerweiterung, das man aus der Studie gewinnen kann, gegenüber solchen Stellen, die eine differenziertere Erklärung verdient hätten.