Schein oder Sein im Netz?

Realnamen versus Pseudonyme - ein Diskussionsbeitrag

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In meinem Artikel Versteckspiele im Netz habe ich die Kommerzialisierung von sozialen Netzwerken und die Frage nach der persönlichen Note als Zeichen von Glaubwürdigkeit und Offenheit im Netz thematisiert. Mittlerweile ist daraus eine Diskussion um die Bedeutung von Realnamen und Pseudonymen entstanden.

Ich freue mich über diese Diskussion, steht sie doch beispielhaft für unsere Ambivalenz im Umgang mit virtueller und realer Welt. Woraus sich zwei äußerst wichtige, weil grundlegende Fragen für die Zukunft des Internet ergeben: Wollen wir die virtuelle Welt im Stil der realen Welt gestalten? Oder könnte das Web auch ein Spielraum für eine ideale Utopie werden? Einer Utopie von freiem Zugang zum Wissen, von globalem und kulturkreisübergreifendem Austausch, von einer institutionsfreien Basisdemokratie und nicht zuletzt von einer umfassenden, virtuellen Intersozialisierung, die die Menschen weltweit weiter zusammenführen könnte? Und die sicher einen interessanten Gegenentwurf zur durchökonomisierten Globalisierung darstellen könnte.

Oder begreifen wir das Internet einfach nur als technologische Erleichterung im kommunikativen Alltag, als Datenkanal, Informationsfundgrube, als Spielewelt und Unterhaltungsmedium? Ich denke, mehr wäre möglich.

Kehren wir zum ursprünglichen Ausgangspunkt der Diskussion um Realnamen und Pseudonymen zurück: Ich glaube, dass es in einer freien und offenen Mediengesellschaft nicht mehr nur um Aufmerksamkeit = Sichtbarkeit geht, sondern dass die Zukunft einer transparenten Netzwelt in der Schaffung von Erkennbarkeit = Glaubwürdigkeit liegt.

Warum?

Neben dem Wunsch, sich in einem - inhaltlich wie sozial – zuverlässigen Medium zu bewegen, steht vor allem die Möglichkeit im Mittelpunkt, das Netz als Beziehungsforum mit einer neuen Intimität im unbegrenzten Austausch zu gestalten. Die Dichte, die das Internet ohne physische Anwesenheit zu erzeugen vermag, ist einzigartig. Nicht nur aus technologischer Sicht, sondern auch aus sozialer: Das Netz ist eine Plattform postpersönlicher Nähe, da ohne persönliche Vor-Ort-Präsenz eine intime Kommunikation, Beteiligung und Vernetzung möglich sind. Ohne persönliche Präsenz sollte aber nicht gleichbedeutend sein mit: ohne Persönlichkeit. Die Basis für Kommunikation, Beteiligung und Vernetzung ist zu wissen, mit wem man es zu tun hat. Und das Wunderbare an einer offenen und transparenten Welt ist doch, dass wir zeigen können, wer wir sind.

Fehlende Erkennbarkeit = mangelnde Glaubwürdigkeit im Netz führt hingegen in eine Spaltung: Es kommt zu einer weiteren Zunahme von abgeschotteten Communities, die mit Identifikationsreglements Authentizität und Glaubbarkeit sicherstellen wollen. Wenn sich in Zukunft alles nur noch in abgeschotteten Netzwerken abspielt, dann stürbe die Idee eines freien und offenen Forums, die Utopie eines globalen und kulturkreisübergreifenden Austauschs wäre vermurkst, ebenso wie die Vision von einer Basisdemokratie oder der Gedanke an eine weltweite Intersozialisierung. Dann mutierte der Rest des Netzes zu einem undurchsichtigen Beliebigkeitsfeld, das durchaus eines hohen Schutzes bedürfte und aus dem sich vor allem Unternehmen zurückzögen, wäre doch der Aufwand für Webhygiene zur Kontrolle von Markennamen und zur Sicherung des Firmenprestiges einfach viel zu groß.

Freilich, der Schutz persönlicher Daten ist wichtig. Aber in einem Medium mit dem Anspruch auf Selbstorganisation ist die Sicherheit der Beteiligten eigentlich keine rechtliche Aufgabe (die nur von Institutionen verbindlich ausgeübt werden könnte, sofern man Selbstjustiz verhindern will), sondern eine kulturelle Frage. Die Bindungskräfte im Web müssen einfach stärker sein, als Drang und Einfluss des Dubiosen. Erst eine vertrauensvolle Beziehungskultur besitzt die notwendige Selbstreinigungswirkung gegenüber dem Fragwürdigen. Ich glaube deshalb: Nur eine ausgeprägte Web-Loyalität schützt das Netz nachhaltig und macht Selbstorganisation überhaupt erst möglich. Anonymität hingegen ist keine Antwort auf das Zweifelhafte, sondern meist dessen Ursache. Und: Eine Mediendemokratie auf Grundlage von Pseudonymen ist eine Scheindemokratie.

Auch die von mir angesprochene Kommerzialisierung von sozialen Netzwerken, die in der Diskussion bisher zu kurz gekommen ist, kann die Beziehungskultur unterwandern. Ich habe ja darauf hingewiesen, dass, einer Studie zur Folge, Banken in dieses Segment verstärkt einsteigen wollen. Was passiert, wenn Heerscharen von Finanzberatern unter sympathisch klingenden Pseudonymen nach neuen Kunden Ausschau halten?

Was für ein Netz wollen wir?

Wie gesagt, die grundlegende Frage lautet: Was für ein Netz wollen wir? Nicht nur im Blick auf die Utopie einer idealen Welt und der Bildung eines freien, offenen und transparenten Netzkosmos, sondern auch im Angesicht der unüberschaubar gewordenen Informationsflut spielt Glaubwürdigkeit eine wesentliche Rolle. Ohne Glaubwürdigkeit sind weder Kommunikation und Beteiligung noch Orientierung möglich, ganz abgesehen von Vernetzung und der Pflege von Beziehungen.

Daraus ergibt sich die nächste Frage: Wie entsteht Glaubwürdigkeit im Netz?

Blicken wir hierfür zunächst einmal in andere Medien: Nehmen wir Bücher, Zeitungen, Magazine oder das Fernsehen – dort sind Erkennbarkeit und Seriosität dann gegeben, wenn Urheber und Quellenangaben eindeutig und nachprüfbar identifizierbar sind. Autoren, Journalisten, Reporter, Korrespondenten und Kommentatoren bürgen mit ihrem Namen nicht nur für die Authentizität ihrer Berichterstattung, sondern auch für die Qualität ihrer Interpretationen.

Pseudonyme mögen in Spielwelten durchaus ihre Berechtigung haben, auch Künstler bedienen sich ihrer im Zuge eines kalkulierten Imagedesigns, doch bei Meinungsäußerungen und kritischen Anmerkungen gilt die persönliche Transparenz nicht nur für professionell Medienschaffende, sondern der Fairness halber auch für jeden Mediennutzer. Und: Diese persönliche Transparenz sollte sich bei aktiver Beteiligung auf das ganze Netz erstrecken und nicht nur geschlossenen Communities vorbehalten sein.

Freilich, ein Realname ist per se noch kein Zeichen für Glaubwürdigkeit, wie wir es von gebrochenen Ehrenworten großer Namen her wissen. Die Größe des Namens lässt nicht immer auf das Maß persönlicher Integrität schließen. Auch wenn das viele beteuern. Im Gegenteil: Der Wert der Seriosität nimmt mit dem Grad der Eigenwerbung ab.

Wofür steht ein Pseudonym?

Erkennbarkeit generiert sich nicht nur aus Realnamen, dazu gehört auch Charakter, doch sie beginnt mit ihnen. Die Nutzung des Realnamens verrät auch nicht gleich persönliche Neigungen oder politische Ansichten. Wäre dem so, würden viele zu Opfern falscher Einschätzungen. Die Welt bestünde dann aus nichts anderem, als aus Klischees. Erkennbarkeit will genau das verhindern.

Verlieren Realnamen in einer globalen und virtuellen Welt vielleicht an Bedeutung? Doch – warum? Weil sie sich internationaler lesen? Dann müssten sie sich eigentlich aus einem allgemein erkennbaren Esperanto bilden. Tun sie das?

Verdrängen Pseudonyme echte Namen aufgrund eines Trends, dann stellt sich die Frage: Wozu werden dann Pseudonyme zum Schutz von Realnamen eingesetzt? Oder konsequenter gefragt: Wozu brauchen wir echte Namen dann noch? Oder Pseudonyme? Der restlose Ersatz des Realnamens durch ein Pseudonym würde das Pseudonym ja seiner ursprünglichen Funktion berauben.

Sobald wir unsere echten Namen ablegen - was sind wir dann? Phantome? Spielfiguren? Was ist mit unserer Individualität? Werden wir gar zu (Massen-)Produkten, die sich dann der hohen Austauschbarkeit wegen um eine ausgeprägte Markenidentität bemühen müssten?

Ein guter Tausch? Oder können wir etwa mit beidem leben? Realname hier, Pseudonym dort? Wo aber ist die Grenze? Müssten wir das Leben im Netz dann nicht exakt von der realen Existenz trennen? So wie die unterschiedlichen Bezeichnungen? Und: Entspricht die Meinung des Pseudonyms der Überzeugung der realen Person? Ist die Meinung hier ehrlich gemeint und dort eben nicht? Ist das Pseudonym letztlich doch eine verstellte Identität? Oder soll es die Rolle einer Marke spielen?

Wollen wir Marken werden?

Natürlich eignen sich Pseudonyme als Marken, wie ich es bei Künstlern bereits angesprochen habe. Nutzen wir allerdings Pseudonyme als Marken für die persönliche Kommunikation, Beteiligung und Vernetzung, landen wir schnell in der eigentlich veralteten Aufmerksamkeitsökonomie, in der es nicht um Inhalte und Beziehungen, sondern um Profilierungs- und Positionierungseffekte geht.

Freilich, ein bewusst von der Realität abgekoppeltes Fantasie-Netz, das als Märchenwelt fungiert, hätte nicht nur meine Bewunderung, sondern besäße eine neue Grundlage. Und eine andere Funktion: Da wir dort unsere Identität nicht mehr aus unserem realen Sein, sondern aus einem virtuellen Schein bezögen, wären wir also keine User mehr, auch keine Produkte, sondern Fabelwesen. Fabelwesen mit abstrakten Namen. Dieses Netz wäre mit dem heutigen Internet nicht zu vergleichen – wir hätten einen Spielraum für unsere Träume und Visionen zur Verfügung. Ein Paradies für Fantasten. Und für Romantiker, die ja immer die Verschmelzung von Sein und Schein, also die Einswerdung von Realität und Ideal, zum Ziel hatten. Pseudonyme wären allerdings sinnlos, da ohnehin alles Fiktion wäre. Und jeder Nutzer wüsste, dass er sich in einem fiktiven Spiel befände. Ernstzunehmende Informationen hätten dabei keine große Überlebenschance - sie wären ja auch weder notwendig noch erwünscht. Dieses Web würde sich eindeutig von der realen Welt unterscheiden.

Ich glaube allerdings, dass die Verschmelzung zwischen realer und virtueller Welt eine Bereicherung für den Menschen darstellt. Und das nicht nur in Hinsicht auf die unbegrenzte Nähe bei Kommunikation, Beteiligung und Vernetzung. Sondern auch für die Entwicklung einer virtuellen Vorstellungskraft – sie stellte, gekoppelt mit dem Potenzial menschlicher Fantasie, einen wichtigen Schritt in der Evolution der Zivilisation dar: Cyber-Imaginationen von der Schönheit einer intakten Natur beispielsweise könnten Ökobewegungen einen neuen Impuls verleihen. Mehr noch: Das Internet wäre in der Lage, zu einem prophetischen Raum zu werden, in welchem uns prä-reale Simulationen die Konsequenzen unseres Handelns bereits aufzeigen könnten, bevor ihre realen Auswirkungen eintreten würden. Mit dieser Möglichkeit entwickelten wir uns nicht nur zu Propheten unserer eigenen Zukunft, sondern es könnte sich ein virtueller Weitblick einstellen, der mehr Verantwortung in die Absichten des Menschen tragen würde.

Traum und Ernüchterung

Ich wünsche mir ein Web, das offene Verbindungen zum Ziel hat, das weltweiten und kulturkreisübergreifenden Austausch ermöglicht, das kleinste Gemeinschaften ebenso fördert wie eine Intersozialisierung im globalen Ausmaß. Ja, ich wünsche mir die Geburt einer transparenten Hyperwelt, die mit ihren simulativ-prophetischen Möglichkeiten unsere Gegenwart erweitert und uns um eine nachhaltige Zukunft bereichert, wo weder Kommerzialisierung von persönlichen Kontakten noch Dubioses eine Rolle spielen.

Zu idealistisch? Vielleicht. Doch ohne Idealismus wird die Welt – egal, ob in ihrer realen oder virtuellen Version – kein besserer Ort. Den wir uns doch eigentlich alle wünschen.

Vermutlich bildet das Internet aber einfach nur unsere gesellschaftliche Realität ab? Vielleicht ist das Web nichts anderes als eine digitale Großstadt? Was zu bedauern wäre, denn das Web bliebe damit hinter seinen eigenen Möglichkeiten zurück.

Im Web 2.0 entscheidet die Gemeinschaft über die Qualität des Netzes, nicht irgendwelche Institutionen. Diese Form der Basisdemokratie offeriert eine große Freiheit. Doch Freiheit ist kein Zeichen gegen, sondern für Verantwortung. Hier sind wir am Ausgangspunkt: Verantwortung und Mut bilden das Herz der Erkennbarkeit. Persönliche Überzeugungen mit dem eigenen Namen zu kennzeichnen, ist eine Facette davon. Man denke hier nur an die Courage von Regimekritikern, die trotz Bedrohung und der Angst vor Repressalien, persönlich für ihre Meinung einstehen.

Möglicherweise bin ich aber auch schon zu alt für das Medium. Und wahrscheinlich sind meine Ansichten über offene Gemeinschaften und die Erkennbarkeit persönlicher Gesinnung sowie über die des verbindlichen Händedrucks, der Souveränität eines Charakters oder über die Loyalität zwischen Menschen überholt. Ich begrüße mein reales und auch virtuelles Gegenüber gerne mit dessen Namen und glaube schon, dass die Ansprache einen Bestandteil unserer Identifikation mit unserer Umwelt ausmacht. Durch die Begrüßung mit Namen wird ein Fremder nicht gleich zum Freund, aber es ist zumindest ein (freundlicher) Anfang.

Das Internet ist ein evolutionäres Medium, dessen Kultur sich sehr schnell verändert. Irgendwann verschmelzen möglicherweise unsere Realnamen mit Pseudonymen, woraus völlig neue Termini entstehen.

Eines wird aber gleich bleiben: Egal, welches Etikett eine Person auch benutzt, ihre innere Einstellung sollte immer erkennbar sein – in jeder Welt. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, zwischen der virtuellen Welt und der realen Welt eine exakte Grenze zu ziehen. Ich glaube auch nicht, dass wir unsere Identität in der Beteiligung an verschiedenen Welten einfach so aufspalten können. Oder sollten. Mut und Verantwortung werden immer auffallen. Das Herz eines Superhelden schlägt ja auch in seiner bürgerlichen Identität. Alles andere wäre doch irgendwie enttäuschend.

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