Wie stehen Freikirchen zu ihrem Verhalten in der NS-Zeit?

Ein Beispiel: Friedrich Heitmüller und die Freie evangelische Gemeinde Hamburg

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Hintergrund: Kirchen im Nationalsozialismus

Die Katholische Kirche schloss in der NS-Zeit ein Konkordat, die Evangelische Kirche war im Kirchenkampf gespalten, Freikirchen aber befürchteten ihre Auflösung. Sie reagierten darauf sehr unterschiedlich und längst nicht alle haben ihre Geschichte aufgearbeitet. Auch nicht der Bund Freier evangelischer Gemeinden.

Friedrich Heitmüller

Friedrich Heitmüller und die Freie evangelische Gemeinde Hamburg

Prediger Friedrich Heitmüller (1888 bis 1965), damals stellvertretender Vorsitzender des Gnadauer Verbandes tritt Karfreitag 1934 aus der Landeskirche aus und macht aus seiner bis dato innerkirchlichen Gemeinde eine offizielle Freikirche. Wahrscheinlich 3000 Menschen aus der Landeskirche folgen ihm. Jahrzehnte ist er Direktor der Diakonie und Leiter seiner Freikirche, außerdem Mitglied im Vorstand der Evangelischen Allianz in Deutschland, einem Zusammenschluss von Evangelikalen und Freikirchen. 1954 wird er Präsident des Internationalen Bundes Freier evangelischer Gemeinden, der heute weltweit 450 000 Mitglieder hat. Er war aber auch einige Jahre lang Nationalsozialist, und Jahrzehnte Antisemit.

Problem: Friedrich Heitmüller und sein heutiges Bild

Heitmüller war mein Großvater. Meine Eltern gehörten zu seiner Freikirche - ich früher auch - und sie erzogen mich in dem Glauben, er sei nach einer kurzen Phase des Irrtums zum Gegner des nationalsozialistischen Regimes geworden. Auch seine Gemeinde behält ihn vor allem als streitbaren Evangelisten und Nazi-Gegner, und die Öffentlichkeit als Verfolgten des Nationalsozialismus und Freund der Juden in Erinnerung: Die London Times bezeichnet ihn in ihrem Nachruf1 als einen der bemerkenswertesten Männer Deutschlands, die Freie evangelische Gemeinde Hamburg erinnert:: nur an die Verfolgung. Darum soll seine Geschichte jetzt erzählt werden.

Heitmüller und der Nationalsozialismus

Zunächst ist Heitmüller ein Gegner das Nationalsozialismus, bis 1932 kritisiert er ihn heftig als eine Ersatzreligion und er kritisiert auch den Antisemitismus.2 Als Hitler jedoch Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie Schutz für das Christentum verspricht, als soziale Hilfen eingeführt und Prostitution, Abtreibung und "entartete Kunst" kriminalisiert werden, da ändert er seine Meinung.3

Nun tritt er öffentlich im Braunhemd auf, besucht den Reichsparteitag in Nürnberg und wird Mitglied der "Deutschen Christen". Wahrscheinlich im April 1933 stellt er einen Aufnahmeantrag für die Partei, er wird politischer Leiter der NSDAP und im Herbst 1933 soll er Gaureferent in Hamburg werden.4

In den Jahren 1933 und 1934 versucht er, Landeskirche und nationalsozialistischen Staat von innen nach seinem Bibelverständnis zu reformieren, vergeblich. Als er im Jahr 1934 samt vielen Anhängern aus der Landeskirche austritt und nun auch formal eine Freikirche gründet, denunziert der damalige Hamburgische Landesbischof Tügel ihn dafür bei der NSDAP. Heitmüllers Karte wird in der Zentralkartei der NSDAP durchgestrichen5, ab 1935 kassiert er mehrere Rede- und Schreibverbote von der Geheimen Staatspolizei, verschiedene Schriften werden beschlagnahmt6, er soll angeblich ins KZ.7 Auf diese Repressalien werden er und seine Gemeinde sich fortan berufen.

Heitmüller und der Antisemitismus

Unabhängig von seiner Einstellung gegenüber Hitler und dem Nationalsozialismus veröffentlicht Heitmüller mindestens von 1927 bis 1952 immer wieder antisemitische Äußerungen.

1933 und 1934: Ein Jude kann ins Himmelreich, nicht jedoch ins Deutsche Reich

Im Herbst 1933 hält er mehrere Vorträge vor christlichen Gemeinschaften und nationalsozialistischen Ortsgruppen. Im Jahr 1934 gibt er sie als Buch heraus: "Sieben Reden eines Christen und Nationalsozialisten".8 Darin schreibt er Juden einen "zersetzenden Einfluss in der Welt" zu; das Judentum sei eine Rasse, nicht minder- sondern anderswertig, man solle sie zwar nicht ausrotten, aber zurückdrängen in die "Fremdlingsschaft unter den Völkern". Das heißt, dass Juden "nicht Inhaber eines öffentlichen Amtes sein können, durch das sie Einfluss auf das deutsche Staats- und Volksleben, auf deutsche Kultur und deutsche Geistesbildung gewinnen und ausüben. ... auch ... wenn ein Jude sich von Herzen zu Gott bekehrt und durch den aufrichtigen Glauben an Jesus Christus ein neuer 'christlicher' Mensch wird. Wohl verstanden: Ein 'christlicher' Mensch, kein 'deutscher' Mensch." - Kurz und knapp: Ein Jude kann ins Himmelreich kommen, nicht jedoch ins Deutsche Reich.

1927, 1933-34, 1947: Ablehnung jüdischer Ärzte

Heitmüller war Direktor des Krankenhaus Elim. Zwar soll er sein Personal angewiesen haben, keine Patienten jüdischen Glaubens abzulehnen und er soll mehrmals Menschen jüdischer Herkunft geholfen haben. Aber im Jahr 19349 wehrt er sich gegen Denunziationen, dass er kein Nationalsozialist sei, indem er such als Antisemit darstellt: Schon 1927 habe er keine jüdischen Ärzte bei sich arbeiten lassen. Nach dem Krieg, als er sich gegen Militärregierung und Entnazifizierungsausschuss verteidigen will, schickt er der britischen Militärregierung einen Brief, in dem er behauptet, dass jüdische Ärzte "in der Hauptsache" und "ohne jede Indikation" Sterilisationen und Abtreibungen vorgenommen hätten, dass er sie deshalb nicht in seinem Krankenhaus habe praktizieren lassen.10 - Heitmüller scheint der Ansicht zu sein, dass die Briten solche Behauptungen als Erklärung für seinen Antisemitismus akzeptieren könnten.

Nach dem Nationalsozialismus: Die Juden als Unheilsstifter

In den 1950ern begründet Heitmüller seinen Antisemitismus nur noch theologisch.11 Jesus habe das Evangelium zunächst dem jüdischen "Volk" verkündigt, aber dies habe das Angebot durch Jesus' Kreuzigung und Stefanus' Steinigung verworfen. Daraufhin habe Gott das Evangelium auch den Nicht-Juden angeboten und sein eigenes Volk mit Blindheit und Verwerfung geschlagen.12 Darum sei es zu einem Unheilsstifter geworden. Dagegen habe der Rest der Welt - vor allem Deutschland - sich wehren müssen. Damit habe Deutschland zwar Schuld auf sich geladen, aber gleichzeitig seine Aufgabe als Gottes Werkzeug erfüllt. Zwar sollten sich die Deutschen zu ihrer Schuld am jüdischen Volk bekennen. Aber vor allem sollten sich die führenden Staatsmänner Israels zur "weltgeschichtlichen Schuld" ihres Volkes als Unheilsstifter bekennen.13

Was für ein Bild hat man heute von Friedrich Heitmüller?

Heitmüller war ein erfolgreicher Prediger. Viele Menschen hatten aufgrund seiner Predigten ein Bekehrungserlebnis und sind noch heute überzeugt, dass sie ihm darum ihren Glauben und damit ihr ewiges Leben verdanken. Dies vor allem bestimmt sein Bild unter Evangelikalen14; politische Verfehlungen sind zweitrangig gegenüber dem Glauben, der zum ewigen Leben führt.

Nach dem Krieg setzt Heitmüller sich - vergeblich - für ein offizielles Schuldbekenntnis der Freien evangelischen Gemeinde Deutschland ein. In einem Atemzug bekennt er sich dabei schuldig und bestreitet doch seine Schuld: "Wir alle sind Mitschuldige. Auch wir, die wir aus religiösen und sittlichen Gründen unser Zeugnis gegen die religiösen Irrtümer des Nationalsozialismus und gegen die zum Himmel schreienden Sünden inmitten unseres Volkes freimütig abgelegt haben und dafür mehr als einmal von der Gestapo bestraft wurden."15 Es gibt wenige kritische Beiträge16 über die FeG zur NS-Zeit, auch Kritiker haben Hochachtung vor Heitmüllers Buße.

Friedrich Heitmüller hat seinen Antisemitismus nicht aufgearbeite, seine Freikirche auch nicht, sondern meist heruntergespielt17 oder bestritten.18 Es kommt vor, dass Dokumente nicht auffindbar sind19 und mehrere Abschlussarbeiten von Absolventen evangelikaler Hochschulen, die sich mit Heitmüller und dem Nationalsozialismus beschäftigen, zitieren kein einziges Dokument aus den für solche Thematik wohl wichtigsten Archiven, dem Bundesarchiv und dem Staatsarchiv Hamburg.20 So wirkt das Erbe des Nationalsozialismus weiter.

Freikirchen sind religiöse Gemeinschaften, die nicht den "etablierten" Kirchen - evangelische, katholische oder reformierte Landeskirchen - angehören. Sie erheben keine Kirchensteuern, sondern basieren auf freiwilliger Mitgliedschaft und finanzieren sich durch Spenden. Die meisten sind protestantisch.

Heitmüller ist mit seiner Freikirche dem "Bund Freier evangelischer Gemeinden" (Bund FeG) beigetreten. Seine Gemeinschaft hieß "Freie evangelische Gemeinde Hamburg" (die Gemeinde, in der er predigte, befand sich in der Straße Holstenwall und ist inzwischen in die Michaelispassage umgezogen, heute "Freie evangelische Gemeinde in Norddeutschland". Der Bund FeG hat in Deutschland gut 38.000 Mitglieder und ist kongregationalistisch organisiert, das heißt, die Einzelgemeinden sind in vielen Fragen selbstständig. So etwa wurde am 18. September dieses Jahres abgestimmt, dass auch Frauen grundsätzlich Pastor werden dürfen, aber ob sie eine Pastorin einstellt, entscheidet die jeweilige Einzelgemeinde.

Der Bund FeG ist Mitglied in mehreren evangelikalen Dachverbänden bzw. Arbeitsgemeinschaften: der Vereinigung Evangelischer Freikirchen, der Evangelischen Allianz sowie der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Freie evangelische Gemeinden nennen sich - wie viele Freikirchen - "evangelikal". Das heißt, ihre Mitglieder legen Wert auf den Glauben an einen persönlichen Gott. Sie streben nach einem Leben streng nach der Bibel, so wie sie diese verstehen, nach Heiligkeit und Frömmigkeit. Nur auf ein persönliches Glaubensbekenntnis hin wird man getauft und darf am Abendmahl teilnehmen. Evangelikale, Fundamentalisten und Pietisten haben sich jedoch nicht nur zu Freikirchen zusammengeschlossen, sondern auch zu einer Gruppierung innerhalb der Landeskirche, nämlich dem Gnadauer Verband. Heitmüller war bis zu seinem Austritt aus der Landeskirche dessen stellvertretender Vorsitzender.

Die Autorin hat zu diesem Thema einen Aufsatz veröffentlicht: Ulrike Heitmüller (2010): Mein Großvater, der Antisemit: Prediger Friedrich Heitmüller. In: Wolfgang Benz (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung Band 19, S. 178 - 196, Berlin.

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