Die RAF und die Geheimdienste

Wolfgang Kraushaar über die Verbindungen von Geheimdiensten und Terrorgruppen, den Prozess gegen Verena Becker und die Positionierung der Medien

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In Ihrem gerade erschienenem Buch "Verena Becker und der Verfassungsschutz" beleuchten Sie die Rolle der Ex-RAF-Frau Becker im Zusammenhang mit möglichen Verstrickungen zu Geheimdiensten. Zunächst mal allgemein gefragt: RAF-Terrorismus und Geheimdienste: Was fällt Ihnen dazu ein?

Wolfgang Kraushaar: Geheimdienste, westliche wie östliche, sind nach wie vor die große Unbekannte in der Entstehung und Entwicklung des Terrorismus, des bundesdeutschen ebenso wie des mit ihm verflochtenen internationalen Terrorismus. Wenn es der Forschung nicht gelingt, die diversen Schnittstellen zwischen Geheimdiensten und terroristischen Organisationen zu erhellen, dann wird die historische Darstellung - etwa die der RAF - höchst unzureichend bleiben. Ich bin allerdings - um das gleich vorweg festzuhalten - nicht der Ansicht, dass sich die RAF, die Bewegung 2. Juni, die Revolutionären Zellen und andere terroristische Gruppen auf als von Geheimdiensten ferngesteuerte Elemente reduzieren lassen. Das halte ich für eine probate Entlastungsstrategie, die nicht greift.

Aber es gibt Beispiele für den Einfluss von Geheimdiensten im Kontext Terrorismus

Wolfgang Kraushaar: Das beste Beispiel für den geheimdienstlichen Einfluss auf die linksradikale Szene ist immer noch die nur zum Teil geklärte Rolle des V-Mannes Peter Urbach, der ja im Übergang von der Studentenbewegung zu den ersten Berliner Untergrundgruppierungen als eine Art agent provocateur aufgetreten ist. Diese Rolle ist spätestens seit 1971 bekannt und inzwischen aufgrund einer Vielzahl von unabhängig voneinander zustande gekommener Zeugenaussagen nicht mehr bestreitbar. Dennoch gibt es dazu immer noch keine Stellungnahme der für ihn zuständigen Behörde, des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz, und der politisch Verantwortlichen beim Berliner Senat. Die Öffentlichkeit wird in dieser Angelegenheit wie in einer Reihe vergleichbarer anderer einfach hängengelassen. Man muss nur die wichtigsten Namen nennen.

Welche Namen gilt es da zu nennen?

Wolfgang Kraushaar: Der für das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) arbeitende Volker Weingraber im Zusammenhang mit der Schmücker-Affäre 1974, der für das hessische LfV tätige V-Mann Siegfried Nonne im Zusammenhang mit dem Herrhausen-Attentat von 1989, der für das rheinland-pfälzische LfV arbeitende V-Mann Klaus Steinmetz im Zusammenhang mit dem GSG-9-Einsatz 1993 in Bad Kleinen, dann die Affäre um das sogenannte Celler Loch, bei der das niedersächsische LfV ein Loch in die Außenmauer der Justizvollzugsanstalt Celle gesprengt hat, um durch die Vorspiegelung einer Befreiungsaktion von Sigurd Debus einen Informanten einzuschleusen.

Der größte und bislang am besten durchleuchtete Skandal ist zweifelsohne der Mordfall Schmücker aus dem Jahre 1974. Die Tatsache, dass es auch in vier Prozessen nicht gelungen ist, ihn zu klären und die Täter ebenso wie die dafür Verantwortlichen zu verurteilen, ist ein Schandfleck - nicht nur der bundesdeutschen Justiz, sondern des Rechtsstaates insgesamt. Die Tatwaffe lag 15 Jahre in einem Tresor des Verfassungsschutzes. Auf ihr befanden sich lediglich die Fingerspuren Weingrabers und seines V-Mann-Führers Grünhagen. Selbst der damalige Leiter des Berliner LfV Zachmann konnte deshalb nicht mit Sicherheit ausschließen, dass der Mord von einem ihrer eigenen V-Männer verübt worden war. Schließlich hatte Weingraber, der die Waffe übergab, für die Tatzeit kein Alibi.

Schmücker-Affäre als Blaupause

Sie sprachen Ulrich Schmücker an. Können Sie uns etwas mehr zu Schmücker sagen?

Wolfgang Kraushaar: Im Grunde ist die Geschichte des linksradikalen Studenten Ulrich Schmücker eine überaus tragische. Als 21-Jähriger setzte er, der usprünglich Theologie studieren und Pfarrer werden wollte, alles daran, Mitglied in einer Untergrundgruppe zu werden. Schließlich wurde er 1972 von der Bewegung 2. Juni kooptiert, in der er sich mit aller Gewalt zu profilieren versuchte.

Meinem Eindruck nach suchte er durch sein konspiratives Treiben vor allem nach sozialer Anerkennung. Zum Verhängnis wurde ihm, als er zusammen mit Inge Viett und zwei anderen nach Bonn fuhr, um dort einen Bombenanschlag auf die türkische Botschaft zu verüben. Zum Anschlag kam es nicht. Stattdessen wurde er zusammen mit seinen Begleitern festgenommen.

In der Untersuchungshaft in Koblenz tauchte mit einem Mann, der sich als "Peter Rühl” ausgab, eben jener Michael Grünhagen auf, der bereits Urbach, Weingraber und andere als V-Leute instruiert hatte. Dieser schaffte es schließlich, Schmücker umzudrehen und für das Berliner LfV zu verpflichten. In dem Moment, als Schmücker über seine Anwerbung durch den Berliner Verfassungsschützer ein Gedächtnisprotokoll anfertigte und es weitergab, hatte er - natürlich ohne es zu ahnen - sein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Er konnte danach tun, was er wollte - er kam aus der Falle zwischen Staat und Terrorismus einfach nicht mehr heraus. Schließlich berief die Bewegung 2. Juni ein "Volksgericht" ein und verurteilte ihn zum Tode.

Sie räumen Ulrich Schmücker eine zentrale Rolle in Ihrem Buch ein. Warum ist Schmückers Rolle für Sie von so großer Bedeutung, wenn es um den aktuellen Becker-Prozess geht?

Wolfgang Kraushaar: Das ist möglicherweise eine Fehlwahrnehmung. Denn mich interessiert die Geschichte des Mordfalls Schmücker, obwohl ich ihr in meinem Buch ziemlich viel Platz eingeräumt habe, eigentlich nur indirekt. Interessant ist sie für mich nur aus zwei Gründen. Erstens, weil Verena Becker in derselben Zelle der Bewegung 2. Juni war wie Schmücker, und zweitens, weil die Einbettung der Schmücker-Geschichte in die Machenschaften des Berliner Verfassungsschutzes in meinen Augen ein Exempel darstellt, das verrät, welch maßgebliche Rolle diese so überaus dubiose Behörde auch im Fall Becker gespielt haben könnte. Nicht ohne Grund habe ich die Schmücker-Affäre als eine Blaupause für die sich vor unserer aller Augen abspielende Becker-Affäre bezeichnet, die aus meiner Sicht mehr und mehr die Züge einer Staatsaffäre angenommen hat.

Hat Verena Becker mit dem Verfassungsschutz zusammen gearbeitet?

Gut, vom Fall Schmücker nun zurück zum Fall Buback/Becker, um den es Ihnen ja eigentlich geht. Wie schätzen Sie die Möglichkeit ein, dass Becker zur Zeit des Buback-Attentats Kontakt zum Verfassungsschutz hatte?

Wolfgang Kraushaar: Wenn Sie mich explizit nach diesem Zeitpunkt, dem April 1977, befragen, dann muss ich sagen - als sehr gering, ich würde es sogar eher ausschließen wollen. Ich gehe ja gerade nicht davon aus, dass ein bundesdeutscher Geheimdienst - weder der Verfassungsschutz noch die Abteilung Terrorismus des BKA oder der Bundesnachrichtendienst - beim Buback-Attentat seine Finger direkt mit im Spiel hatte.

Mir scheint es sehr viel wahrscheinlicher, dass man unmittelbar nach dem Karlsruher Anschlag festgestellt hat, dass eine frühere Informantin des Berliner LfV daran beteiligt war. Und damit hatte man - gelinde gesagt - ein Problem. Insbesondere nachdem Becker nur vier Wochen später (zusammen mit Sonnenberg) mit der Buback-Tatwaffe, jener berüchtigten Maschinenpistole vom Typ Heckler & Koch, in Singen verhaftet worden war. Die Vorstellung, dass nun Becker auch wegen des Buback-Attentats angeklagt und vor Gericht gestellt werden sollte, dürfte in den entsprechenden Kreisen vermutlich Alpträume verursacht haben. Denn wie hätte ein solches Verfahren über die Bühne gehen sollen, ohne von vornherein garantieren zu können, dass Beckers mutmaßliche Kooperation mit dem VS nicht ruchbar geworden wäre.

In dieser Situation hat man sich offenbar dafür entschieden, sie wegen der Singener Schießerei anzuklagen und abzuurteilen. Damit schien man in der so überaus spannungsgeladenen Zeit des Herbstes 1977 die Karlsruher Geschichte mit einer anderen, der von Singen, überlagert - und später die Hoffnung gehegt zu haben, dass durch die Verurteilung dreier anderer RAF-Mitglieder - Mohnhaupt, Klar und Knut Folkerts - Gras über die ganze Angelegenheit wachsen würde. Das ging bekanntlich bis zum Frühjahr 2007 gut. Pech war dann nur, dass ausgerechnet der Sohn des am 7. April 1977 Ermordeten Misstrauen schöpfte und in der Folge zu einer Art Chefankläger in eigener Sache wurde. Mit vielem hatte man rechnen können, damit aber nicht.

Sie erwähnen die Stasi-Notiz, wonach Becker bereits seit 1972 von westdeutschen Abwehrorganen "bearbeitet bzw. unter Kontrolle gehalten wird". Wie schätzen Sie diese Bemerkung in den Stasi-Unterlagen ein?

Wolfgang Kraushaar: Natürlich ist Dokumenten gegenüber, die aus Geheimdienstkreisen stammen, grundsätzlich mit Skepsis, wenn nicht gar mit Misstrauen entgegenzutreten. Die für jeden Historiker selbstverständliche quellenkritische Haltung ist in solchen Fällen besonders angesagt. Andererseits sollte man es sich aber nicht zu leicht machen und derartigen Dokumenten von vornherein jegliche Relevanz absprechen.

Ich habe jedenfalls im Zusammenhang mit einer anderen Buchpublikation - dem 2005 veröffentlichten Band über "Die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus" - die Erfahrung gemacht, dass ich ohne eine Stasi-Information niemals auf die Spur jenes Mannes gekommen wäre, der mir dann auf Umwegen bestätigt hat, dass er es war, der 35 Jahre zuvor die Bombe deponiert hatte. Natürlich sollte man sich auf derartige Quellen allein nicht verlassen. Es ist allerdings angeraten, sie als unter Umständen bedeutsame Hinweise zu betrachten, die es weiter zu verfolgen und deren Informationsgehalt es abzugleichen gilt.

Bei dem von Ihnen erwähnten Stasi-Dokument hat mich insbesondere die Behauptung stutzig gemacht, dass die Verena Becker betreffende Meldung zweimal bestätigt worden sei. Mit anderen Worten, die Stasi muss sich 1978 ziemlich sicher gewesen sein, dass Becker für einen bundesdeutschen Geheimdienst gearbeitet hat.

Bundesnachrichtendienst war im Inland tätig

Sie erwähnen in Ihrem Buch auch, dass Becker und Günter Sonnenberg bei ihrer Verhaftung in Singen möglicherweise von einem Kommando des Bundesnachrichtendienstes (BND) beobachtet wurden. Dass heißt, sowohl die Verhaftung als auch die Schießerei hätten unter Augen des BND stattgefunden. Aber der BND ist doch eigentlich für das Ausland zuständig?

Wolfgang Kraushaar: Das scheint in der Tat ein Widerspruch zu sein. Jedoch lässt sich dieser relativ leicht auflösen. Zunächst einmal wusste ich nur, dass im Zuge der von Beckers Begnadigung 1989 erwirkten Begutachtung ihres Falles neben der Bundesanwaltschaft und dem BfV auch der BND mitbeteiligt war. Das erschien mir merkwürdig. Als ich dann aber erfuhr, dass Sonnenberg und Becker womöglich von einem Observationskommando des BND beschattet wurden, wirkte das wie eine logische Folge.

Wie meinen Sie das?

Wolfgang Kraushaar: Die Frage, warum ein Auslandsgeheimdienst mitunter auch im Inland tätig gewesen ist und damit seine Kompetenzen überschritten haben könnte, lässt sich dahingehend beantworten, dass wir es bei der RAF ja nicht mit einem rein bundesdeutschen quasi nationalen Phänomen zu tun hatten. Ohne ihre internationale Vernetzung und insbesondere ihre enge Kooperation mit den Palästinensern (und zum Teil auch ihre Instrumentalisierung) hätte es die RAF in dieser Form vermutlich gar nicht gegeben.

Becker war 1975 nach ihrer Freipressung im Zuge der Lorenz-Entführung von der Bewegung 2. Juni zur RAF übergewechselt, hatte sich 1976 zusammen mit anderen Mitgliedern der RAF, der Bewegung 2. Juni und der Revolutionären Zellen von der PFLP-Special Command Wadi Haddads im Jemen systematisch ausbilden lassen. Als sie im Herbst 1976 wie andere auch wieder in die Bundesrepublik zurückkehrte, wurde das dem BKA relativ rasch bekannt. Es gab verschiedene Hinweise auf Waffeneinkäufe und anderes mehr. Dabei war offensichtlich, dass neben Becker auch Siegfried Haag oder Rolf Heißler etwa zwischen der Bundesrepublik und Nachbarländern wie den Niederlanden und der Schweiz hin- und herpendelten.

Wenn es damals einer der verfolgenden Behörden gelungen ist, ihre Spuren aufzunehmen, dann konnte man vermutlich nicht immer scharf zwischen den entsprechenden Zuständigkeiten unterscheiden. So erkläre ich mir jedenfalls, dass in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1977 bei der gemeinsamen Zugfahrt von Becker und Sonnenberg von Essen nach Singen ein BND-Kommando vermutlich zum Einsatz gekommen ist.

Bei den Schilderungen in Ihrem Buch fällt auf, dass es eine recht enge Verbindung zwischen Justiz und Geheimdiensten zu geben scheint. In Anbetracht Ihrer Erkenntnisse: Gehen Sie im Fall Buback/Becker von einem ergebnisoffenen und unabhängigen Verfahren aus?

Wolfgang Kraushaar: Nein. Bereits die eingeschränkte Form der Anklageerhebung macht deutlich, dass wir hier nicht mit einem ergebnisoffenen Verfahren rechnen können. Im Gegenteil, es sieht alles danach aus, dass die Grenzen des Becker-Prozesses vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht von vornherein festgelegt worden sind. Wie mir von verschiedenen Prozessbeobachtern berichtet worden ist, grenzt das von der Bundesanwaltschaft in Stuttgart-Stammheim an den Tag gelegte Verhalten fast an Obstruktion. Dort werden Zeugen vorgeladen, die für den Tatvorgang möglicherweise relevante Beobachtungen schildern, von denen zuvor nicht die Rede war, bei denen aber gleichwohl nicht weiter nachgehakt wird. Es verstärkt sich jedenfalls der Eindruck, als wolle man nur das hören, was einem in den Kram passt.

Wie sehen Sie die Rolle der Medien im Zusammenhang mit dem Buback-Mord und den sich anschließenden Entwicklungen?

Wolfgang Kraushaar: Als ambivalent. Vor Beginn des Prozesses lautete ja der Tenor der meisten überregionalen Tageszeitungen, dass man sich von dem Becker-Prozess nichts erwarten dürfe. Wer wolle schon, so hieß es häufig, nach 33 Jahren Zeugenaussagen trauen wollen. Man schien sich fast darauf geeinigt zu haben, dass man alle im Laufe der letzten drei Jahre zusammengetragenen Widersprüche und Ungereimtheiten unter der Überschrift "Schlamperei" abhaken könnte.

In meinen Augen kam darin nicht nur - um es höflich zu formulieren - ein mangelndes Problembewusstsein zum Vorschein, sondern auch die pure Missachtung der Tatsache, dass der Justiz und dem Rechtsstaat insgesamt in dieser ganzen Angelegenheit eine neuerliche Chance geboten worden war.

Den Vogel schoss im Vorfeld allerdings der "Spiegel" ab. In einer Meldung hieß es zunächst, dass man inzwischen beim BfV ein Dokument entdeckt habe, aus dem hervorgehe, dass sich Becker und Mohnhaupt zur Zeit des Karlsruher Attentates gar nicht in Deutschland, sondern im Irak aufgehalten hätten. Wenn man sich dann mit einem der Journalisten in Verbindung setzte, wurde einem eher kleinlaut erklärt, dass es sich dabei offenbar um eine Schutzbehauptung Beckers handeln müsse, die sie seinerzeit dem VS gegenüber abgegeben habe. Und kurze Zeit später wurde dann in Spiegel-Online die Meldung verbreitet, neben Boock (der das ja bereits im April 2007 erklärt hatte) behaupte nun auch Silke Maier-Witt, dass Stefan Wisniewski der Schütze auf dem Soziussitz der Suzuki gewesen sei. Das Dementi folgte peinlicherweise nur wenige Stunden später auf dem Fuße. Maier-Witt erklärte in der "Welt", dass dies unzutreffend sei. Angesichts dieser alarmistisch anmutenden "Nachrichten" haben sich nicht wenige gefragt, was für eine Publikationstrategie der "Spiegel" eigentlich verfolgt.

Die Defizite in der Historisierung der RAF sind nach wie vor erheblich

Sie erinnern sich bestimmt an den Kinofilm "Der Baader Meinhof Komplex". Darin sieht man eine Szene, bei der ein Schauspieler, der Horst Mahler spielt, in Italien in einem Straßencafe sitzt, mit zwei Terroristen redet und sinngemäß sagt, "sie", also die Terroristen, seien viele, und man habe Waffen. Dann wird quasi ausgeblendet. Woher die vielen Terroristen im Detail kommen, woher die Waffen kommen, das erfährt man nicht.

Diese Szene ist nur ein Beispiel für ein immer wieder festzustellendes Phänomen, wenn man sich mit der Geschichte der RAF auseinandersetzt. Man hat auf der einen Seite ein großes Detailwissen zu bestimmten Sachverhalten und zu bestimmten Personen, auf der anderen Seite gibt es große dunkle Flecken, die sicherlich auch mit dem Schweigen der RAF-Leute zusammenhängen, aber nicht nur. Ein anderes Beispiel: Sie beschreiben in Ihrem Buch wie die RAF unter dem Druckmittel des entführten Peter Lorenz Gefangene frei presst, eine Lufthansamaschine zur Verfügung gestellt bekommt, dann in den Jemen fliegt, sich dort ausbilden lässt und wieder zurückkehrt. Man kann sich kaum vorstellen, dass so eine Aktion ohne die Aufmerksamkeit der Geheimdienste abläuft. Der Punkt ist: Kann es sein, dass der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten eine komplexitätsreduzierte Wirklichkeitskonstruktion in Bezug auf die Geschichte der RAF aufgezeigt wird?

Wolfgang Kraushaar: Das ist jedenfalls seit langem meine Ansicht. Die Defizite in der Historisierung der RAF sind ja nach wie vor erheblich. Ich habe dem durch die 2006 von mir herausgegebenen Bände "Die RAF und der linke Terrorismus" entgegenzusteuern versucht. In Kooperation mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen wurde dort im Wesentlichen der Versuch unternommen, drei Revisionen am Bild der RAF und des bundesdeutschen Terrorismus insgesamt vorzunehmen.

Zunächst einmal sind wir von der Notwendigkeit ausgegangen, den geopolitischen Bezugsrahmen erheblich auszuweiten. Bei der unter dem Kürzel RAF firmierenden Form des Terrorismus handelt es sich schließlich um ein Phänomen, das im Spannungszusammenhang des Kalten Krieges zu betrachten ist. Wer die Polarität des Ost-West-Konflikts außer Acht lässt, läuft Gefahr, die Voraussetzungen terroristischen Handelns misszuverstehen. Die Etablierung und die ungewöhnlich lange Fortexistenz der RAF wären kaum denkbar ohne internationale Kooperation und entsprechende Unterstützung gewesen.

Das zweite Ziel bestand darin, sich nicht länger mehr auf eine Rekonstruktion der RAF im Sinne einer aus der Binnenperspektive wiederzugebenden Gruppengeschichte zu konzentrieren. Es war nötig, sich vom Organisationsfetischismus verabschieden, dem sich die gängigen Darstellungen zumeist unterworfen haben, und die RAF im Gegensatz dazu als ein eher exemplarisches Phänomen begreifen, das einerseits andere bundesdeutsche Gruppierungen einbindet und andererseits ohne die Vernetzung mit internationalen Gruppierungen nicht zu verstehen wäre.

Und der dritte Anspruch bestand darin, die Entstehung und Entwicklung dieser Gruppierungen nicht einfach mehr als Addition weniger Einzelbiografien zu begreifen. Die mit dem Kürzel RAF assoziierte Geschichte lässt sich einfach nicht in einer Kombination einzelner Lebensläufe rekonstruieren. Wichtiger als diese Fixierung auf einige wenige Akteure ist es, diese Personen zunächst als Ausdruck von Strömungen zu verstehen, die sich erst unter bestimmten Bedingungen zu Schlüsselfiguren einzelner Organisationen kristallisiert haben. Insofern ist es zwingend, nach deren Konstitutionsfaktoren zu fragen. Und dabei spielen ganz andere Faktoren eine nicht unerhebliche Rolle, insbesondere die von staatlicher Seite bereits vorab - siehe Urbach - ins Spiel gebrachten Geheimdienste.

Strategie der Spannung im Fall der RAF?

1990 hat der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti die Existenz einer geheimen NATO-Untergrundarmee bekannt gegeben. Ihr Name: Gladio bzw. Stay Behind. Seit dieser Zeit wurde in diversen Publikationen aufgezeigt, dass möglicherweise Teile diese Geheimarmeen in Terroranschlägen gegen die eigene Bevölkerung verwickelt waren.

Im Rahmen der so genannten "Strategie der Spannung" sollen linke Terrorgruppen unterwandert worden sein, um im Sinne einer Tiefenpolitik die Bevölkerungen Europas gegen den ideologischen Feind Kommunismus und Sozialismus zu manipulieren. Anders formuliert: Indem man das zweifelsfrei vorhandene gewalttätige Potential linker Kreise durch Agent Provocateurs um die ein oder andere Stufe nach oben schraubte, sollte die breite Bevölkerung Europas durch den brutalen und grausame Terror der Linken zur Abkehr von linken Ideologien bewogen werden.

In einer BBC-Doku, die sich mit Gladio auseinandersetzt, sagt der Gründer der Roten Brigaden, Alberto Franceschini, im Kontext der Ermordung Aldo Moros: "Ich möchte wissen, warum muss ich 17 Jahre im Gefängnis verbringen? Ich möchte wissen, wer oder was hat mich benutzt? Wenn ich dachte, ich gehe jetzt in diese Richtung, hat mich irgendjemand in eine ganz andere Richtung geführt? Ich möchte das wissen."

Und zum 25. Jahrestag der Ermordung Moros sagte dessen Tochter gegenüber einer italienischen Zeitung: "Wer lügt über meinen Vater? Alle." Sie bezieht sich dabei auf die zahlreichen Umgereimtheiten bei der Ermordung ihres Vaters. Die Ähnlichkeit zum Fall Buback sind bemerkenswert.

Wie bewerten Sie den Einfluss von Stay-Behind-Strukturen, die es auch in Deutschland gab, im Kontext des bundesdeutschen Terrors? Sollte die Geschichte der RAF auch unter dem Aspekt Stay Behind betrachtet werden?

Wolfgang Kraushaar: Mir sind die Versuche, die in dieser Richtung seit Jahren unternommen werden, allesamt bekannt. Im Unterschied zum Fall der Roten Brigaden und deren geheimdienstlicher Vernetzung und Teil-Instrumentalisierung bin ich im Falle des vermeintlichen bundesdeutschen Pendants RAF wegen des Mangels an empirisch überprüfbaren Fakten einigermaßen skeptisch.

Wenn man sich beispielsweise die bislang fundierteste historische Studie zu Gladio-Operationen vor Augen führt, die von dem Schweizer Forscher Daniele Ganser 2005 vorgelegte Monographie "NATO's Secret Armies", in der ja alle Mitgliedsstaaten des Militärbündnisses auf den Prüfstand gestellt worden sind, dann wird einem deutlich, wie wenig er im bundesdeutschen Falle für seine Hypothesen ausfindig machen kann. Ich kann andererseits die Möglichkeit, dass sich der 70er- und 80er-Jahre-Terrorismus im Kontext einer paramilitärischen Geheimorganisation wie Gladio und den entsprechenden Stay-Behind-Strukturen besser erklären lässt, nicht ganz ausschließen.

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