Reaktionäre westlicher Länder vereinigt euch!

Die Bürger haben den Glauben an Fortschritt, Technik und Zukunft verloren. Sie nörgeln und krakeelen, verhöhnen ihre Regierungen, wollen aber am liebsten, dass alles so bleibt, wie es ist

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Kann man die Proteste der Tea-Party-Bewegung in den USA mit denen der Streikenden in Frankreich in Einklang bringen? Und: Kann man das eventuell auch mit den Demonstrationen in Deutschland gegen Stuttgart 21 und die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke tun?

Mark Lilla, New Yorker Professor für politische Ideengeschichte an der Columbia Universität scheint zumindest von ersterem überzeugt. Er hat solche Parallelen zwischen den beiden Bürgerbewegungen jüngst in der New York Review of Books gezogen (Tea Party à la française und French Strikers & the Tea Party: Mark Lilla Responds). Telepolis berichtete (Französische Tea-Party mit etwas Pastis). Andreas Zielcke, vormals Kulturchef der "Süddeutschen Zeitung", mittlerweile nur noch Beiträger des Blattes und streitbarer Befürworter der Bahnhofsgegner (Geistige Kessellage), hat ihm diese Haltung in der SZ richtig übel genommen (Humor à l’americaine).

Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet.

Walter Benjamin

Beobachterproblem

Für den SZ-Autor ist eine solche Gleichsetzung nicht nur "gedankenlos" und "töricht", sondern wird auch noch von "Ressentiments" genährt. Zwar entdeckt auch Zielcke in den Protesten beidseits des Atlantiks Züge eines "entleerten", bisweilen "wild gestikulierenden Trotz-, Ohnmacht- und Machtausdrucks". Zumal es auch auf den Straßen irgendwie als chic gelte, die Regierenden zu verhöhnen und sie an den Pranger zu stellen, während die Demonstrierenden ihrerseits die eigene politische Schwäche mit karnevalesken Umzügen zu drapieren versuchen, mit Klamauk und Trommeln, mit Trillerpfeifen und Kostümierungen.

Doch schieße Lilla in all seiner Franzosen-Schelte weit über das Ziel hinaus. Er verwechsle nicht bloß Form und Inhalt des Protests, er nehme die Botschaft auch "fürs Ganze" und übersehe dabei den alles entscheidenden Unterschied, dass nämlich die Tea-Party-Aktivisten "den Staat entmachten und insbesondere den Sozialstaat liquidieren" möchten, während es den Franzosen ganz im Gegenteil um die Verteidigung desselben gegen seine "politischen Zerstörer" gehe.

Links vs. rechts, gut vs. böse, wahr vs. falsch: mit solch normativen Strickmustern kann man operieren, muss es aber beileibe nicht. Wer dies tut, muss sich im Klaren sein, das er einen gehobeneren Standpunkt als jeder andere Beobachter für sich reklamiert. Da dies wiederum ein Anspruch ist, der seinerseits nur schwer zu begründen ist, hat der Systemkonstruktivismus bereits vor Jahren vorgeschlagen, zu beobachten, wie der Beobachter beobachtet.

Um dem zu genügen, reicht im vorliegenden Fall schon ein kurzer Hinweis auf jene europäische Brille, durch die Zielcke, ohne es zu merken, ganz offenbar den Beobachter Lilla beobachtet. Setzt man sie ab, dann wird einem relativ schnell bewusst, dass Amerikaner auf Europa häufig mit ganz anderen Augen blicken als Europäer das ihrerseits tun, wenn sie a) sich selbst oder b) US-Amerikaner beobachten.

Auf Beschimpfungen wie sie Zielcke für Lilla parat hat: "hochmütig", "dekadenter Ausländer", "Ernst Jünger der politischen Beobachtung" kann man dann getrost verzichten. Zumal sie selbst wenig zur Klärung beitragen, bestenfalls den Zweck haben, eigene Unzulänglichkeiten zu verbergen und Selbstgewissheiten mit Mitteln der Drastik zu befeuern (Die Deutschen nerven mit ihrer Rechthaberei).

Freiheit oder Gleichheit

Für Amerikaner, sogar für jene, die sich dort längst assimiliert haben und auch den Demokraten nahestehen (Europa als Lebensform), ist Europa längst dem sozialdemokratischen Virus verfallen. Danach pflegt ein Großteil der Europäer zu ihrem Staat eine Haltung, wie sie Kinder und Jugendliche häufig gegenüber ihren Eltern einnehmen. Sie betrachten sie als pure Versorger, die sie vor jeglichem Unbill, der da draußen auf sie lauert oder über sie hereinzubrechen droht, schützen und vorsorgend ihre Hände über sie halten.

Gleichzeitig haben sie eine gehörige Blindheit gegenüber allen Lebensformen, Werten und Stilen entwickelt, die sich dieser Art der Regulierung des sozialen Lebens widersetzen. Europäer können meist nur schwer verstehen, dass es Menschen, Gruppen oder Nationen gibt, die kein väterliches Verhältnis zu ihrem Staat haben und sich folglich Einmischungen in ihre persönlichen Belange strikt verbieten. Diese Leute fühlen sich möglicherweise besser, wenn der Einfluss des Staates aufs Nötigste begrenzt wird, weil die persönliche Unabhängigkeit ihnen wichtiger ist als die soziale Rundumversorgung durch ein Gemeinwesen.

Diese Ansicht und Einstellung teilen im Übrigen auch und vor allem Migranten aus Osteuropa oder Asien – weswegen sie auch lieber in die Staaten, nach Kanada oder Neuseeland gehen als in die Wohlfahrtsstaaten Europas; aber auch einkommensschwache oder, wie man hierzulande noch hinzufügen würde, bildungsferne Bürger. Sogar ihnen ist häufig, was in Europa zu verständnislosen Kopfschütteln über das "seltsame" Gebaren der US-Amerikaner führt, ihre persönliche Freiheit wichtiger als Gleichheit oder soziale Absicherung.

So kommt es zu dem Kuriosum, dass US-Bürger alles, was ihre persönlichen Rechte irgendwie verletzt oder gar in sie eingreift, für Vorboten eines irgendwie gearteten Sozialismus halten. Das mag, wie im Falle der Tea-Party, bisweilen makabere und skurrile Formen annehmen und überaus "schräge" Typen (Pornofans, Ex-Hexen und "Papa Schlumpf") in die Öffentlichkeit spülen – eine Erfahrung, die man hierzulande auch auf kommunaler Ebene schon gemacht hat.

National, rückwärtsgewandt, individualistisch

Richtig augenfällig werden Gemeinsamkeiten auch in inhaltlichen Fragen des Protests aber erst, wenn man Luhmanns Mahnung: "Draw a distinction" tatsächlich ernst nimmt. Dann, aber nur dann, kann man den Beobachtungen Lillas durchaus mehr abgewinnen als Andreas Zielcke ihr das formal wie inhaltlich zugestehen will.

Es weitet und öffnet sich nicht nur der Blick für die Verschiedenartigkeit der Traditionen und Kulturen, dem Beobachter schwant plötzlich auch, dass die beiden Protestbewegungen trotz der unterschiedlicher Stoßrichtungen möglicherweise doch mehr gemeinsam haben als engagierten und sozial bewegten Europäern vielleicht lieb oder bewusst ist.

Im Grunde handelt es sich sowohl bei den französischen Streiks gegen die im europäischen Maßstab vergleichsweise maßvolle Anhebung des Renteneintrittsalters um zwei Jahre, als auch bei den Widerständen der Tea-Party gegen die Bailout-Politik der Obama-Administration (Sie sah den Übermenschen als Unternehmer) um nationale Erhebungen, um soziale Bewegungen, die den Blick über den eigenen Tellerrand vermissen lassen.

Auf den Straßen von Paris oder vor der National Mall in Washington macht sich eine Trotzhaltung oder Gegenreaktion breit, die sich, nochmals verstärkt durch die Finanz- und Wirtschaftskrise, gegen die unvermeidlichen Folgen einer flachen Welt mit offenen Grenzen richtet. Weder die Tea-Party-Aktivisten noch die französischen "Generalstände" haben den schleichenden Niedergang ihrer Nation realisiert, geschweige denn verarbeitet, der sich durch den rasanten Aufstieg der neuen, "aufstrebenden Staaten" abzuzeichnen beginnt. Noch immer trauern sie der verlorenen Größe ihrer beiden Nationen nach und verteidigen damit eine alte, im letzten Jahrhundert bereits untergegangene Welt.

Auch sticht in den Blick, dass ihre Protesthaltung ausschließlich rückwärtsgewandt ist. Hüben wie drüben leugnet man hartnäckig die neuen Realitäten einer vernetzten Welt und verklärt die eigene Gegenwart und Vergangenheit nostalgisch. Statt den Blick nach vorne zu richten, das Jammern und Klagen einzustellen, die Ärmel hochzukrempeln und für eine andere und bessere Zukunft zu streiten, hat man beim Gang auf die Straße vor allem eines im Sinn: die Wahrung und Verteidigung des Besitzstandes sowie den Schutz und die Rettung der eigenen Privilegien.

Damit erhält der Protest einen extrem konservativen Charakter, der weder vor dem Erheben unrealistischer Forderungen haltmacht noch vorm Einsatz pseudo-revolutionärer Mittel zurückschreckt (Die neue französische Revolution ist reaktionär).

Kultur des Dagegenseins

Doch nicht genug der Nostalgie: Begleitet wird dieses egoistische, von Partikularinteressen getragene Verhalten auch von der Überzeugung, dass man von den Regierenden, die man für korrupt, unfähig und betrügerisch hält, verraten und verkauft wird, wahlweise an den Sozialismus oder an den Kapitalismus. Obwohl man Obama und Sarkozy vor noch nicht allzu langer Zeit noch mit überwältigenden Mehrheiten in ihre Ämter gehievt hat, fühlt man sich von ihnen unverstanden, ausgegrenzt und beäugt überaus misstrauisch ihr politisches Tun.

Es kommt daher nicht von ungefähr, dass der Protest ebenso radikale wie politromantische Züge trägt. Beidseits des Atlantiks glaubt man offenbar an die "Macht der Straße" (Nicht um die Rente, um die Lust am Aufstand geht es), daran, dass die Politik die Dinge richten und in die gewünschte Richtung lenken könnte, wenn sie denn nur wollte oder dazu vom Volk entsprechend gezwungen werde.

Damit kollidiert dieser "unpolitische" Subjektivismus frontal mit den Formalien der funktional differenzierten Gesellschaft (Zur Evolution der Gesellschaft). Bekanntlich kennt die moderne Gesellschaft weder ein hierarchisches Oben und Unten, noch hat sie eine Adresse, an die sich die Protestierenden wenden oder sich gegebenenfalls auch ausweinen könnten. Genau genommen protestieren die Protestierenden mithin gegen sich selbst (Nur Müdigkeit wird den Protest beenden). Weil dies schlechterdings nicht möglich ist, müssen kurzerhand "die Politiker" dafür herhalten.

Schließlich ist der Widerstand hüben wie drüben gegen jedwelche Veränderung überhaupt gerichtet. Beide befördern statt eines Dafür- eher eine Kultur des Dagegenseins. Man ist gegen Arbeitslosigkeit und finanzielle Opfer, gegen die Arroganz der Mächtigen und die Korruption im Staat. Gewiss möchte man die Dinge ändern, am besten radikal, insgeheim hofft man aber, dass sich möglichst nichts ändert und alles so bleibt, wie man es gewohnt ist. Dass es den Kindern einmal besser gehen sollte, von dieser Losung, die Jahrzehnte lang die aufstiegswilligen Schichten und Klassen zu mehr Einsatz Leistung angespornt hat, ist nichts mehr zu hören.

Unerträglich, aber unvermeidlich

Darum verwundert es auch nicht, dass man echte politische Alternativen vergebens sucht. Gerne würde man als Beobachter erfahren, was die Tea-Party-Anhänger anstelle Obamas gegen die Finanzkrise getan hätten, wenn sie denn das Heft des Handelns in Händen gehalten hätten. Und gern würde man auch von den französischen Gewerkschaften hören, wie sie denn das Rentenproblem einer alternden Gesellschaft in den Griff bekommen wollen. Weil eine politische Lösung derartig komplexer Probleme viel zu schwierig ist, es folglich auch kein Patentrezept dafür gibt, hört man von Seiten dieser Bewegungen allenfalls Sprüche und Floskeln.

Vollkommen unübersichtlich wird die Lage, wenn man die politische Stimmung der "schweigenden Mehrheit" hinzunimmt. Folgt man Umfragen, dann stützen zwar Mehrheiten in beiden Ländern die Forderungen und Ziele der "sozialen Bewegungen". Gleichzeitig hält die Mehrheit aber sowohl die Rentenreform der Regierung Fillon als auch die Bailout-Politik oder die Gesundheitsreform Obamas für ebenso "unerträglich" wie "unvermeidlich".

Lässt man das Erörterte nochmals Revue passieren, dann gibt es gute Gründe, den Protestbewegungen aus beiden Ländern einen reaktionären Charakter zu unterstellen. Statt sich den Herausforderungen der multipolaren Welt zu stellen und sich offensiv mit der Zukunft des Landes und mithin auch der eigenen auseinanderzusetzen, möchte man es am liebsten beim Althergebrachten, Erreichten und Überlieferten belassen.

So gesehen ähneln die sozialen Bewegungen, die antikapitalistische genauso wie die antisozialistische, jenem allseits bekannten "Engel der Geschichte", der laut Walter Benjamin vom Sturm, den wir Fortschritt nennen, zwar unaufhaltsam in die Zukunft getrieben wird, dabei aber den Blick fest und stur der Vergangenheit zugewendet hat, obwohl diese ihm stetig "Trümmer auf Trümmer […] vor die Füße schleudert".

Echt konservativ

Just an dieser Stelle tun sich auch Berührungspunkte zu den innerdeutschen Befindlichkeiten auf. Auch hierzulande fühlen sich Bahnhofs- wie Atomkraftgegner von den Regierenden bzw. den Eliten verraten, belogen und verkauft; auch hier wurden die Regierenden noch vor knapp einem Jahr mit großer Mehrheit in Amt und Würden gebracht; auch hier ist die Enttäuschung über die Politik der bürgerlichen Koalition (Die Protestgesellschaft) riesengroß – und das trotz des unerwarteten wirtschaftlichen Aufschwungs; und auch hier richten sich Wut, Frust und Zorn der Bürger eher diffus "gegen die da oben", wahlweise gegen die Atom-, Pharma-, Gen- und Bahnlobby oder korrupte Machtcliquen in Politik, Wirtschaft und Medien.

Mittlerweile ist auch hier das "Change"-Gerede und "Yes, we can"-Getue Historie (Yes, we can ist Geschichte) und eher zu einer Trauerveranstaltung geworden. Die Stimmung ist im Keller, die Fronten verhärtet und die Republik wieder mal in ideologisch und politisch unversöhnliche Lager gespalten (Atomkoalition spaltet die Republik). Trotz gutmeinender Moderatoren und Schlichtungsverhandlungen hat es nicht den Anschein, als ob die Lage in absehbarer Zeit nur durch Aussitzen oder Ermattung befriedet werden könnte.

"Schnauze voll"

Auch in und um Stuttgart hat sich mittlerweile ein lustig-illustres Völkchen zusammengetan (Grün ist die Empörung), Naturschützer und Gutbetuchte, Maschinenstürmer und Sozialbewegte, die die "Schnauze voll haben" und es denen "da oben" mal richtig zeigen wollen.

Dass der Protest der Bahnhofsgegner nicht gerade von Aufbruchsstimmung und Begeisterung für das gedanklich Neue, wirtschaftlich Mögliche und technisch Machbare getragen wird, muss auch Jürgen Habermas in einem Meinungsbeitrag für die New York Times (Leadership and Leitkultur) konstatieren. "Ihr eigentliches Ziel", so der Diskurspolitiker nüchtern, "ist ein konservatives Anliegen. Man sucht eine familiäre Welt beizubehalten, in der die Politik sich aktiv gegen den vermeintlichen wirtschaftlichen Fortschritt stellt."

Ähnliches gilt, freilich mit Abstrichen, auch für die in Ehren ergrauten und neu hinzugekommenen Atomkraftgegner. Zumal weniger die Kosten des Vorhabens als vielmehr die Risiken und Gefahren einer Technologie im Zentrum der Kritik stehen, die im Krisenfall unterschiedslos alle treffen würde. Darum mag es durchaus auch viele gute und gewichtige Gründe für eine Abschaltung der Atomkraftwerke geben, die Sicherheitsfrage ebenso wie die ungeklärte Frage der Endlagerung. Doch auch die Atomkraftgegner vermögen nicht zu sagen, wie der stetig wachsende Energiebedarf, etwa für all die annoncierten E-Autos, Speicher- und Rechenkapazitäten etc. in den nächsten Jahrzehnten herkommen soll.

Mit regenerativen Energien allein, mit Energieeffizienz, der stetigen Erhöhung des Strompreises und Vakuum verpackter Gebäuden wird er jedenfalls nicht zu decken sein. Zumindest nicht der eines Exportweltmeisters, der die soziale Wohlfahrt nur auf diese Weise gewährleisten kann. So schlau und schöngerechnet sich Prognosen der Solarlobby bis ins Jahr 2050 auch geben und darstellen lassen.

Die Achtziger im Visier

Unwillkürlich und in gewisser Weise fühlt man sich auch in der Politik (und nicht nur im Pop) in die Achtziger und frühen Neunziger des letzten Jahrhunderts zurückversetzt, als Jürgen Habermas das Schlagwort von "der neuen Unübersichtlichkeit" prägte und die Nation vom "rasenden Stillstand" und "apokalyptischen Reitern" beherrscht wurde. Auch seinerzeit wurden die Gemüter der Bürger von Selbstzweifeln, Pessimismus und Fortschrittsfeindlichkeit geplagt, man fürchtete den Tod der Wälder, das Absterben der Flüsse, den Overkill und die Auslöschung des Planeten. Was anschließend zum Erfolg und Aufstieg der Öko-Partei führte und später bei Telepolis zum Nachdenken über erschöpfte Energien zwang (Die große Müdigkeit).

Im Unterschied zu damals haben Skepsis, Unsicherheit und Ängste auch große Teile der bürgerlichen Mittelschichten erfasst. Wer vormals schwarz und danach gelb gewählt hat, macht demnächst wohl sein Kreuzchen bei grün. Die unübersichtliche Lage und das Stimmungshoch, das die Grünen gerade trägt, haben gewiss auch da ihren Ursprung. Sie führt nicht nur zu einem regen Wechselwählertum, sie pulverisiert auch politische Anhängerschaften und stellt alte Vertrautheiten auf den Prüfstand. Eine Koalition aus Grün und Schwarz, vor Jahren noch undenkbar, ist mittlerweile auch auf Bundesebene ebenso möglich wie wahrscheinlich.

Ich nörgle, also bin ich

An den Nörgeleien und Krakeelereien der Bürger wird aber auch ein solches Bündnis genauso wenig ändern wie jede andere denkbare Farbenkonstellation. An den Kongress- und Senatswahlen in den USA, aber auch an den Schmähungen, die Sarkozy, Merkel und Co auf den Straßen widerfahren, zeigt sich, wie rasend schnell die politische Stimmung im Lande kippen kann. Wer gestern noch den Heiligenschein umhatte und als "Hoffnungsträger" galt, der muss schon morgen die "Volkswut" fürchten (Dies irae) oder die Abstrafung bei der nächsten Wahlen.

Für Regierungen, Koalitionen und Präsidenten heißt das, dass ihre politischen Halbwertszeiten dramatisch gesunken sind. Projekte und Entwicklungen, politische Vorhaben oder langfristige Operationen an den Sozialsystemen, der Energieversorgung oder der Konsolidierung der Haushalte sind auf diese Weise kaum noch durchzusetzen. Vor allem dann, wenn jetzt auch noch allerorten die Mitsprache und Teilhabe der Bürger bei der Planung und Expertise von Bauprojekten gefordert wird.

Ob das die lärmenden Bürger auf Dauer zufrieden stellen wird, muss jedoch bezweifelt werden. Er hat als Prosument schon viel zu viel mit den Tücken des technisierten und individualisierten Alltags zu kämpfen. Auch eine noch so erfolgreiche und zielstrebige Politik kann Glück und Wohlbefinden, Arbeitsplätze und Wachstum nicht verordnen (Abrechnung mit Mr. Perfect).

Für den Pursuit of Happiness ist er einerseits selbst verantwortlich, und für das andere braucht es eigenständige Unternehmen, Innovationskraft und Risikobereitschaft, Unternehmergeist und eiserne Disziplin, aber auch Rahmenbedingungen, die deren breite Entfaltung erlauben. Zumindest dies kann Politik im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeit leisten. Wer dies anders sieht oder gar für neoliberal hält, ist auf dem Holzweg.