"Verlorene Mädchen": In der Nähe von Atomanlagen ist das Geschlechterverhältnis verändert

Nach einer Studie kommen im 35km-Radius um deutsche und schweizerische AKWs vor allem weniger Mädchen als im Landesdurchschnitt auf die Welt

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Auch in der Schweiz ist die Diskussion über Atomkraftwerke entbrannt. 2013 soll über den Bau neuer Atomkraftwerke entschieden werden – immerhin in einer Volksabstimmung. Dabei haben bereits Städte wie Basel oder Zürich beschlossen, aus dem Atomstrom auszusteigen. Erwartet wird eine teure Kampagnenschlacht. Schon jetzt soll das Nuklearforum, das von den Energiekonzernen finanziert werden, jährlich 3 Millionen Franken Werbemaßnahmen ausgeben, berichtet die NZZ. Dazu kommen noch die Kampagnen der Konzerne selbst und der Pro-Atom-Verbände: "Die Schweiz erlebt zurzeit also nicht nur den längsten, sondern wohl auch den teuersten Abstimmungskampf ihrer Geschichte."

Kein Wunder, dass auch hier die Risiken thematisiert werden, die mit der Atomtechnik einhergehen können. Die Schweizer Wochenzeitung hat ein Gespräch mit dem Onkologen Claudio Knüsli veröffentlicht, der auch Präsident der schweizerischen Sektion der ÄrztInnen gegen Atomkrieg ist und eine Studie von deutschen Wissenschaftlern erläutert, die es in der Tat in sich haben könnte. Auch die deutsche Sektion der IPPNW hat die Studie nun aufgegriffen, nach der im Umkreis von AKWs weniger Mädchen, als man erwarten würde, geboren werden

Ralf Kusmierz von der Universität Bremen und Kristina Voigt sowie Hagen Scherb vom Institut für Biomathematik und Biometrie der Helmholtz-Gemeinschaft in München haben untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen der Zahl der neugeborenen Mädchen und Jungen und der Nähe zu einem ionisierende Strahlung (IR) abgebenden Atomkraftwerken in Deutschland, der Schweiz und Belgien gibt. Hintergrund dafür ist die KIKK-Studie von 2007, nach der das Leukämierisiko für Kinder mit der Nähe zu Atomkraftwerken steigt. Die Studie ist umstritten, die Strahlenschutzkommission wies sie zurück, das Bundesamt für Strahlenschutz erklärte vorsichtig, dass sie methodisch korrekt sei.

Normalerweise liegt das Geschlechterverhältnis bei den Geburten (Sex Odds) bei 105 Jungen pro 100 Mädchen. Dass eine radioaktive Belastung von Vater bzw. der Mutter sich auf das Geschlechterverhältnis auswirkt, geht aus einigen Studien hervor, wird aber nicht von allen bestätigt. Ist der Vater belastet, steigt es beträchtlich an, werden also weniger Mädchen geboren, ist die Mutter belastet, sinkt das Verhältnis.

Die Wissenschaftler weisen auf Analysen der Sex Odds aus 23 europäischen Ländern und den USA zwischen 1950 und 1990 von Hagen Scherb und Eveline Weigelt hin, aus der hervorgeht, dass das Verhältnis mit dem Ende der oberirdischen Atomwaffentests kleiner wurde. Nach der Tschernobyl-Katastrophe ist das Geschlechterverhältnis 1987 in 38 europäischen Ländern "hochsignifikant" angestiegen, in den USA hingegen gesunken. Erst ab 2000 beginnt das Geschlechterverhältnis in Europa wieder zu sinken. Das habe sich auch in den belasteten Gebieten in Bayern gezeigt, besonders deutlich aber in Russland oder Belarus.

Die Wissenschaftler sprechen von einer "Geschlechterlücke" bei den Lebendgeburten und durch radioaktive Strahlung "verlorene Kinder". Betroffen seien davon vor allem die Mädchen. In einer Studie gehen Scherb und Weigelt davon aus, dass durch Tschernobyl in Europa und Teilen Asiens zwischen 1987 und 2007 250.000 weniger Jungen als erwartet und 831.000 weniger Mädchen geboren worden seien.

Auswirkungen bis in eine Entfernung von 35 km, mit einem Peak bei 14,4 km

In der neuen, ausdrücklich als vorläufig bezeichneten Studie: "Is the human sex odds at birth distorted in the vicinity of nuclear facilities (NF)? A preliminary geo-spatial-temporal approach" wollen die Wissenschaftler herausgefunden haben, dass es einen Unterschied im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis in Abhängigkeit der Entfernung des Wohnorts zu einem Atomkraftwerk gibt. Sie haben beim Modell der Raleigh-Verteilung einen Peak in einer Entfernung von 14,4 km von deutschen und schweizerischen Atomkraftwerken festgestellt, ab 40 km lässt sich kein Unterschied mehr zu weiter entfernten Lagen erkennen. Im Modell einer reziproken Funktion lässt sich der Effekt erst ab einer Entfernung von 10 km sehen, wo das Geschlechterverhältnis am höchsten ist und dann kontinuierlich abfällt, um ab einer Entfernung von 30-40 km wieder normal zu werden.

Grafik: Kusmierz/Voigt/Scherb

Einzelne Atomkraftwerke haben sie dann mit einem Radius von 35 km untersucht. Um Kruemmel ist bei den deutschen Atomkraftwerken danach das Geschlechterverhältnis mit 1.0085am höchsten, gefolgt von Philippsburg mit 1.0063, um Isar 1 und 2 liegt es bei 1.0041. Interessant ist auch, dass um das ehemalige Kernforschungszentrum das Verhältnis bei 1.0070 und um Gorleben bei 1.0570 liegt. Durchschnittlich beträgt es im Radius von 35 km um Atomanlagen 1.0035, in einer Entfernung von 14,4 km 1.0051. Die Werte wurden auf der Basis des auf den Wert 1.0000 gesetzten Geschlechterverhältnisses ab einer Entfernung von über 35 km berechnet.

Aus den Berechnungen ergeben sich, dass in einem Umkreis von 35 km um die 31 deutschen Atomanlagen um die 15.000 Mädchen weniger geboren wurden, als sich statistisch erwarten ließe. Die Veränderung des Geschlechterverhältnisses zu Ungunsten der Mädchen bei der Geburt könnte auf eine Schädigung des Erbguts durch die ionisierende Strahlung hinweisen, die von Atomkraftwerken abgegeben wird. IPPNW versucht dies so zu erklären:

Atomkraftwerke geben auch im Normalbetrieb radioaktive Isotope, z.B. überschweren Wasserstoff (H 3, Tritium) und radioaktiven Kohlenstoff (C 14) in die Umgebung ab, die vom menschlichen Körper unbemerkt aufgenommen werden und "innere" Strahlung verursachen. Bei Brennelementwechseln, Störfällen und Schnellabschaltungen sind diese Vorgänge gesteigert. Selbst wenn "erlaubte" Grenzwerte dabei nicht überschritten werden, sind ungeborene Kinder offensichtlich in Gefahr. Die Regelwerke für diese Grenzwerte sind veraltet und unterschätzen das wahre Risiko.

IPPNW

Der Onkologe Knüsli ist ebenfalls von der Stichhaltigkeit der Studie überzeugt:

Die Resultate sind hochsignifikant, sie halten auch strengen statistischen Zusatztesten wie einer Sensitivitätsanalyse stand. Man kommt an diesen Resultaten der verlorenen Kinder in der Umgebung von AKWs nicht vorbei. Es muss angenommen werden, dass die radioaktive Strahlung, die die AKWs auch im Normalbetrieb abgeben, dafür verantwortlich ist.