Sind die Reichen gefühlsblind?

Eine wissenschaftliche Studie glaubt bestätigt zu haben, dass die Zugehörigkeit zu einer sozioökonomischen Klasse die Wahrnehmung der Mitmenschen beeinflusst

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Die Reichen und die höher Gebildeten aus der Mittel- und Oberschicht scheinen ein Defizit zu besitzen, das möglicherweise erklärt, warum hier auch fehlendes Mitleid gegenüber den ärmeren und benachteiligten Schichten verbreitet sein könnte. Die Angehörigen der unteren gesellschaftlichen Schichten sollen sich nämlich nach einer in der Zeitschrift Psychological Science veröffentlichten Studie von kalifornischen und kanadischen Wissenschaftlern besser in ihre Mitmenschen hineinversetzen und deren Gefühle erkennen können.

Für ihre Studie haben die Wissenschaftler einige Versuche durchgeführt, um zu sehen, ob sich die Zugehörigkeit zu der oberen oder unteren sozioökonomischen Klasse auf die Wahrnehmung der Mitmenschen auswirkt. Ausgangspunkt war die Überlegung, dass Menschen, die zu den gebildeteren Schichten gehört, meist auch ein höheres Einkommen und/oder einen höhere, gesellschaftlich anerkannte berufliche Position haben. Die Mitglieder der reicheren oder gebildeteren Schichten bewerten sich eher nach materiellen Gütern, um ihre Klassenangehörigen zu taxieren, woraus sie sich dann auch ihren gesellschaftlichen Rang in der sozialen Hierarchie ableiten. Und sie neigen eher dazu, selbstzentriert zu sein und auf ihre Präferenzen zu achten, um sich als Individuen herauszustellen. Mitglieder der sozioökonomisch unteren Schichten seien aufgrund ihrer geringen Einkommen und ihres geringen sozialen Status hingegen abhängiger von ihrer sozialen Umgebung, weswegen sie sich stärker an ihrer Umgebung und den Mitmenschen orientieren.

Aus diesen Lebensweisen mit unterschiedlichen Zwängen und Aufmerksamkeiten müssten sich, die die Hypothese, auch unterschiedliche Umgangsformen mit den Mitmenschen herausbilden. Die Mitglieder der oberen sozioökonomischen Klassen schauen eher, wie sie sich durchsetzen können, indem sie den sozialen Rang der anderen abschätzen, und können vieles auch kaufen, weswegen sie auch die Gefühlslage der anderen Menschen nicht erkennen müssen, die der ärmeren Klassen sind stärker darauf angewiesen, mit ihren Mitmenschen klar zu kommen, weil sie sich stärker auf diese verlassen müssen und deren Kooperation benötigen. Auch im Umgang wenden sie sich stärker mit Gesten und anderen Verhaltensweisen ihren Mitmenschen zu und sind sozial engagierter.

Die Versuchspersonen waren akademische und nichtakademische Mitarbeiter der Universität. Nicht ganz überzeugend wurden sie nach ihren Bildungsabschlüssen – Bachelor oder nicht - den sozialen Klassen zugeteilt. Zwei Drittel waren Frauen, das Durchschnittsalter lag bei 42 Jahren, drei Viertel hatten einen Bachelor oder einen höheren Universitätsabschluss. Ob bei dieser Auswahl der Test sonderlich aussagekräftig ist, sei dahingestellt. Den Versuchspersonen wurden Fotos von Gesichtern gezeigt, sie mussten sagen, welche Gefühle sie ausdrückten. Hier schnitten die Frauen besser ab, aber eben auch diejenigen, die keinen Universitätsabschluss besitzen.

Am zweiten Versuch nahmen 58 Studentinnen und 48 Studenten teil, die sich selbst einer sozialen Klasse nach ihrer Familienherkunft zuordnen konnten. Jeweils zwei Studenten, die ein Anforderungsprofil für einen Universitätsjob erhalten haben, wurden von einem Versuchsleiter einem fiktiven Bewerbungsgespräch unterzogen. Im Anschluss sollten sie, getrennt voneinander, ein fiktives Erfolgshonorar von 5.000 Dollar zwischen sich und dem Kollegen bzw. der Kollegin nach dem Erfolg teilen und die Gründe angeben. Zudem sollten sie ihre eigenen und die Gefühle des Anderen angeben. Hier waren die Empathie und die Erkenntnis der Gefühle der anderen auch abhängig davon, ob die beiden Versuchsteilnehmer der gleichen ethnischen Schicht angehörten. Auch hier wurde die Hypothese bestätigt, dass mit steigender sozioökonomischer Klassenzugehörigkeit die Empathie sinkt und eher auf die äußerlichen Merkmale der Klassenangehörigkeit geachtet wird.

In einem dritten Versuch sollte die Einschätzung der eigenen Klassenangehörigkeit manipuliert werden, indem zufällig nach Unterschieden entweder zur obersten oder untersten Klasse von 10 Klassen gefragt wurde. Auch hier sollen sich dann diejenigen, die sich weiter unten eingeordnet haben, als besser erwiesen haben, die Gefühle anderer Menschen zu erkennen. Das würde heißen, dass schon aus einer wie immer falschen oder richtigen Selbstwahrnehmung heraus sich auch die Wahrnehmung der Mitmenschen verändert. Warum aber dann auch gleichzeitig sich das Erkennen von deren Gefühlen verbessern soll? Für die Wissenschaftler zeigt dies, dass die Unterschiede aus dem sozialen Kontext kommen und nicht Eigenschaften der Individuen sind. Man müsste also, so die Hypothese, nur den sozialen Kontext ändern, um eine andere Wahrnehmung zu erzeugen, was doch ein wenig blauäugig erscheint, als würde sich das Aufwachsen in einer Schicht nicht in den Menschen niederschlagen oder würden die Menschen beliebig beschreibbare leere Tafeln sein..

"Die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse", so die Wissenschaftler als Folgerung aus ihrer Studie, "beeinflusst viele Aspekte des sozialen Leben und besonders die Gefühle, die Menschen in sozialen Interaktionen wahrnehmen und ausdrücken. Daher ist die soziale Klasse eine wichtige Variable, um zu verstehen, wie sich die Menschen aufeinander beziehen. Und sie kann Einsicht in die Rolle mit sich bringen, die Gefühle für die Stabilität von Beziehungen und für das allgemeine Wohlbefinden spielen."