Der Klima-Gipfel: Mauna Loa, Hawaii

Eine Kurve verändert die Welt

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Hawaii! Palmen, Strände, Wellen, Wärme, bunte Cocktails, Bikinis, Surfbretter – die Liste der positiven Assoziationen ist lang, sobald der Name der Inselkette im Pazifik erwähnt wird. Doch von dem tropischen Flair der Küstenorte ist auf dem Gipfel des Mauna Loa wenig zu spüren. Der Vulkan auf der Hauptinsel ragt 4.169 Meter in die Höhe, auf Satellitenbildern kleidet er sich gern in Schnee. Etwas darunter, auf 3.400 Meter stehen an der Nordflanke des Berges einige schmucklose Gebäude. Sie schützen Forscher und Instrumente einer meteorologischen Station vor der Witterung.

Mauna Loa Observatory. Bild: NOAA

Hier oben kann es im Februar sowohl minus 17 als auch plus 27 Grad Celsius haben. Bisweilen pfeift starker Wind über das kahle Plateau, aber meist säuselt er nur, wenn er von Süden kommt. Der Blick auf die Nachbarinseln ist phantastisch, weil das Mauna Loa Observatory häufig über den Wolken liegt – und vor allem: Die Luft ist klar.

Das ist auch der Grund, warum hier seit mehr als 50 Jahren Messgeräte verfolgen, wie viel Kohlendioxid die Atmosphäre enthält. Sie sind im Keeling Building installiert, benannt nach dem Initiator der außergewöhnlichen Messreihe, dem Chemiker Charles David Keeling von der Scripps Institution of Oceanography in La Jolla, einem Vorort von San Diego in Kalifornien.

Neben der Tür ist die Messkurve auf einer Bronzetafel eingraviert. Sie zeigt den unaufhaltsamen Anstieg der CO2-Werte seit Beginn der Messungen 1958, überlagert vom jährlichen Ein- und Ausatmen der Natur: Von Mai bis Oktober sinken die Werte, wenn Bäume und andere Pflanzen auf der Nordhalbkugel Kohlendioxid verbrauchen, weil sie wachsen und neue Blätter bekommen. Den Rest des Jahres steigen die Werte wieder: Einjährige Pflanzen sterben, Blätter fallen und verrotten und geben das CO2 frei; die Südhalbkugel hat weniger Vegetation, ihr Vegetationszyklus fällt deshalb kaum ins Gewicht. Und jedes Jahr erreicht die Kurve im Mai einen neuen Höhepunkt, weil die vielen Milliarden Menschen der Erde Kohlendioxid aus ihren Auspuffen und Schornsteinen geblasen haben.

Weil dieser Verlauf den Einfluss von Natur und Menschheit auf die globale Umwelt dokumentiert, ist die Keeling-Kurve ein zentrales Symbol des Klimawandels. "Die Messreihe belegt, dass die Menschheit ihre planetarische Unschuld verloren hat: Sie verändert die Erde", sagt Hans Joachim Schellnhuber, Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Keelings Kollegen von der Wetterbehörde NOAA, die das Mauna-Loa-Observatorium betreibt, nennen seine Daten den "unbestreitbaren Grundstein der Klimaforschung". Und als der Chemiker 2005 starb, rief ihm sein letzter Chef Charles Kennel nach: "Die Messungen sind der wichtigste Datensatz der Umweltforschung im 20. Jahrhundert."

Von all dem war wenig zu ahnen, als Kollegen von Keeling am Morgen des 27. März 1958 die kontinuierliche Messung des CO2 in der Luft auf dem Mauna Loa starteten. Keeling selbst hatte von seinem damaligen Chef keine Reisegenehmigung bekommen; er kam im November 1958 zum ersten Mal nach Hawaii. Er hatte schon in den Jahren davor wichtige Vorarbeiten geleistet, die Apparatur zusammengestellt, vor allem für das Messprogramm gekämpft und Geld dafür besorgt.

Die Wissenschaft wusste damals wenig über das Treibhausgas. Zwar hatte der Schwede Svante Arrhenius 1895 die Rolle von CO2 in der Atmosphäre theoretisch erklärt, aber verlässliche Messungen gab es nicht. Viele Experten glaubten darum, die Werte schwankten stark nach Ort und Zeit, durchgehende Trends gebe es nicht. Keeling jedoch war überzeugt, eine kontinuierliche Messung an einem repräsentativen Ort habe große Aussagekraft. Seine Kurve zeigte dann bald, und zeigt das bis heute, dass sich das Treibhausgas mit den anderen Atmosphärengasen weltweit vermischt, und dass etwa 57 Prozent des freigesetzten CO2 in der Luft verbleiben.

Die erste abgelesene Zahl hatte Keeling ziemlich genau vorhergesagt: 313 ppm (parts per million). Unter jeweils einer Million Luftmoleküle befanden sich 313 Moleküle Kohlendioxid, also etwas weniger als ein Drittel Promille. Später merzte Keeling einen kleinen systematischen Fehler am Gerät aus, sodass der Durchschnittswert für die letzten Märztage 1958 korrigiert wurde und nun als 315,71 ppm in den Annalen steht. Knapp 52 Jahre später, im Dezember 2009, ist er auf 388,09 ppm gestiegen. Aus Messungen an Luftbläschen, die in Eis eingeschlossen waren, wissen Klimaforscher zudem, dass vor der Industrialisierung viele tausend Jahre lang etwa 280 ppm Kohlendioxid in der Luft schwebten. Die Menschheit hat also in weniger als 200 Jahren dazu beigetragen, diesen Wert um 39 Prozent zu erhöhen, weil sie in Industrie und Verkehr Kohle, Öl und Gas verbrennt. Zwei Drittel der Zunahme sind erst seit Beginn der Messungen eingetreten.

Die ersten Indizien dafür hatte Keeling schon nach zwei Jahren gesehen. 1960 veröffentlichte er in der skandinavischen Fachzeitschrift "Tellus" die ersten Daten vom Mauna Loa. Darin beschrieb er die beiden zentralen Eigenschaften der eben erst gestarteten Kurve: Zum einen den Anstieg von Jahr zu Jahr. Zum anderen die Variation über das Jahr hinweg. Keeling war davon selbst überrascht. Die April-Werte von 1958 waren höher als die März-Zahlen, die Mai-Daten lagen noch darüber. Dann gab es Stromausfälle, sodass es für Juni jenes Jahres überhaupt keine Resultate gab. "Als die Messung im Juli weiterging, waren die Ergebnisse unter die März-Werte gefallen", schrieb Keeling in seiner Autobiografie. Und: "Ich begann mir Sorgen zu machen, dass die Daten hoffnungslos sprunghaft sein könnten." Er fürchtete wohl, dass er sich doch zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte.

Doch dann begann sich der Zyklus im zweiten Jahr der Messungen zu wiederholen. Bald konnte der Forscher anhand von Vorstudien auch schlüssig erklären, was passierte – und warum die Schwankungen ihr Maximum im Mai erreichten. Pflanzen waren für den Effekt verantwortlich, wie Detailanalysen am aufgefangenen Kohlendioxid belegten. Das stützte den plausiblen Gedanken, dass von diesem Monat an auf der gesamten Nordhalbkugel der CO2-Bedarf schlagartig zunahm, weil die Natur erwachte. Besonders in den ausgedehnten Wäldern von Sibirien und Kanada schlugen die Bäume aus. Die Vegetation auf der Südhalbkugel hinterließ ab November einen deutlich geringeren Effekt, weil dort die Landmassen viel kleiner sind.

Keeling-Station. Bild: NOAA

Keeling bestand darauf den alten Apparat zur Messung zu behalten

Von lokalen Effekten waren die Messungen weitgehend frei, ragt der Mauna Loa doch weit von jeglicher Industrie über die Wetterlagen am Boden, die die Vermischung des dort ausgestoßenen CO2 zeitweise bremsen. Der Wert dieser Messung auf dem Vulkangipfel mitten im Pazifik war vor allem den Geldgebern nicht immer klar. Besonders schwierig wurde es 1964, als der US-Kongress die Wetterbehörde NOAA zum Sparen zwang. Schnell wurde die von ihr finanzierte Stelle von Keelings Techniker auf Hawaii gestrichen. Drei Monate lang gab es keine Daten, bis die National Science Foundation Geld auftrieb. Später stand Keeling unter dem Druck, die als unwissenschaftlich betrachtete Langzeit-Beobachtung Regierungsstellen zu überlassen – und verteidigte seine Arbeit.

Nur für acht Monate während der knapp 52 Jahre hat Keelings Apparatur keine Daten geliefert. Er hat sie immer wieder warten lassen und sich gegen eine Modernisierung der Geräte gesträubt. Seit 1974 läuft darum parallel zu seinem Experiment ein Messprogramm der Wetterbehörde NOAA, für das heute Steve Ryan zuständig ist. Er beschreibt in einer Mischung aus Hochachtung und Frustration, wie Keeling seine Instrumente verteidigte. "Er bestand darauf, den alten, anfälligen und relativ lauten Analysator zu behalten, der noch mit einer Vakuumröhre arbeitete. Er bestand darauf, dass die Daten per Hand von den Papierrollen übertragen wurden, wo Tintenschreiber die Messwerte aufgezeichnet hatten."

Doch Ralph Keeling verteidigt seinen Vater; auch er ist Professor am Scripps-Institut. "Mein Vater hat gewusst, wie wichtig Kontinuität ist, wenn es um die Präzision einer Langzeitmessung geht." Wer Komponenten austausche, müsse vorher mit altem und neuem Gerät aufwendige Doppelmessungen machen, um sicher zu gehen, dass die Daten zusammenpassen. "Außerdem hat er kurz vor seinem Tod noch selbst begonnen, die Apparatur umzurüsten. Es war keine Sturheit." Keeling Senior hatte einfach zu oft für den Fortgang seiner Messungen kämpfen müssen, um leichtfertig den Aufbau zu ändern.

Keeling Junior hat inzwischen die Leitung des CO2-Programms auf dem Mauna Loa übernommen; er ist in den Job im wahrsten Sinne des Wortes hineingewachsen. Was sein Vater Wichtiges tat, wurde dem Sohn erst im Lauf der Zeit klar. Als er ungefähr zehn Jahre alt war, wusste er nur, dass sein Vater "irgendwas mit der Luft maß". Darüber wunderte sich der Junge, der wusste, dass der Vater an einem ozeanografischen und nicht an einem Atmosphären-Institut arbeitete. Doch seine Liebe zur Wissenschaft wuchs an solchen Rätseln, sodass er bald ein ähnliches Fach wie der Vater studierte.

Dann wagte sich Ralph Keeling sogar an eine komplementäre Messung: die des Sauerstoffs in der Luft. Das verschlug ihn schließlich an das gleiche Institut wie seinen Vater; die Stelle, so erzählt er, habe er eher trotz als wegen der Verwandtschaft akzeptiert. Und weil er nun dort war und etwas Ähnliches machte, übernahm er schließlich das CO2-Programm auf dem Mauna Loa, als sein Vater starb. Diese Erbfolge ist in der Wissenschaft eher selten.

Bis heute muss das Scripps-Programm die Mittel zum Weitermachen auf dem Markt der Forschungsförderung einwerben. Immer wieder wird die Arbeit als reines Monitoring abqualifiziert, das nicht als Forschung gelten könne. Ralph Keeling entgegnet darauf stolz:

Bei den Mauna Loa-Messungen hat es nie einen Punkt gegeben, von wo an die wissenschaftliche Produktivität abgenommen hat.

Christopher Schrader ist Redakteur im Wissenschaftsressort der Süddeutschen Zeitung. Sein Betrag wurde mit freundlicher Genehmigung dem Buch Mekkas der Moderne - Pilgerorte der Wissensgesellschaft, eine Kooperation zwischen Spiegel online und der Jungen Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg, entnommen. Nominiert ist der Band als Wissenschaftsbuch des Jahres. Nun entscheiden die Leser.