Die Transparenz der digitalen Revolution steht noch aus

Aufmerksamkeit ist alles für Wikileaks, die Folge könnte ein beschleunigter Gang ins digitale Dunkel sein

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Was meistens im Dunklen bleibt, die Grundlagen der Diplomatie einer Regierung, hat nun Wikileaks an die Öffentlichkeit gebracht. Neu ist nicht, dass es Leaks gibt und dass Diplomatie hinter verschlossenen Türen praktiziert wird, sondern Wikileaks hat noch einmal deutlich gemacht, dass die Welt sich verändert hat. Vor dem digitalen Zeitalter wäre es schlicht unmöglich gewesen, so große Mengen an Informationen – in dem diesem Fall waren auch nur 6 Prozent der Informationen "geheim" - zu sammeln, zu verschicken, zu kopieren und sie vor allem auch einer weltweiten Öffentlichkeit direkt zugänglich zu machen.

Geschickt bedient sich Wikileaks dabei der renommierten Medien. Sie prüfen - oder auch nicht -, ob die Informationen verlässlich sind, vor allem spielen sie mit, Wikileaks den notwendigen Resonanzraum der Aufmerksamkeit zu verschaffen. Hier wäscht eine Hand die andere im Medienspektakel. Während Wikileaks sich weltweit als Topadresse für Informationen und Geldgeber etablieren will, wollen die von Wikileaks auserwählten Medien ganz vorne spielen und verleihen der auf Gründer Assange zugeschnittenen Organisation das notwendige Renommee. Würde man böse sein, könnte man von Medienhuren sprechen, die alles aufnehmen und verbreiten, was Aufmerksamkeit und damit Quote verschafft. Das Geschäft ist, wie man kürzlich beim "Deal" mit den Terrorwarnungen des Bundesinnenministers gesehen hat, wechselseitig.

The cables show the extent of US spying on its allies and the UN; turning a blind eye to corruption and human rights abuse in "client states"; backroom deals with supposedly neutral countries; lobbying for US corporations; and the measures US diplomats take to advance those who have access to them.

This document release reveals the contradictions between the US’s public persona and what it says behind closed doors – and shows that if citizens in a democracy want their governments to reflect their wishes, they should ask to see what’s going on behind the scenes.

Wikileaks

Kein Wunder ist, dass nun zwar Wikileaks und seine Informanten und Quellen als Schmuddelkinder oder gar als Kriminelle dargestellt werden, dafür aber gesagt wird, dass die professionellen Medien mit den neuen Datenströmen eine immer wichtigere Rolle spielen würden, weil einzig sie in der Lage wären, die Daten zu sichten und zu bewerten. Dabei ist die Situation eigentlich gerade umgekehrt. Die Mainstreammedien werden instrumentalisiert – und lassen dies gerne zu -, um eine neue Informationsquelle und eine neue Art der Informationsübermittlung zu etablieren, die letztlich ohne Makler auskommt, aber erst einmal einen Fuß in die Türe bekommen will.

Mit einem Team von 50 Redakteuren und Dokumentaren hat der SPIEGEL das überbordende Material gesichtet, analysiert und überprüft. Fast immer hat das Magazin darauf verzichtet, die Informanten der Amerikaner kenntlich zu machen, es sei denn, dass allein die Person des Zuträgers schon eine politische Nachricht an sich darstellt. In einigen Fällen trug die US-Regierung Sicherheitsbedenken vor, manche Einwände hat der SPIEGEL akzeptiert, andere nicht. In jedem Fall galt es, das Interesse der Öffentlichkeit abzuwägen gegenüber berechtigten Geheimhaltungs- und Sicherheitsinteressen der Staaten. Das hat der SPIEGEL getan.

Der Spiegel

Früher konnten die Mainstreammedien als Vermittler und Deuter dienen, weil sie einen relativ exklusiven Zugang zu den Daten hatten, Wikileaks – und das Internet – machen deutlich, dass diese Exklusivität nicht mehr existiert. Das ist auch geschäftsbedrohend, wenn nicht die Rolle der Medien anders verstanden wird. Sie werden wirklich zu Medien, die Wege zu den Quellen legen, und sich jeweils anheischig machen, sagen zu können, welche wichtig sein könnten und welche nicht.

Die "digitale Revolution" will Wikileaks, selbst ohne jede Zurückhaltung alle Mittel der Aufmerksamkeitsökonomie ausbeutend, vorantreiben. Interessant wäre, ob man auch einmal an ähnliche Informationen von geschlossenen, diktatorischen Gesellschaft herankäme – oder die Transparenz nur die Staaten betrifft, die sowieso schon eine größere Offenheit pflegen. Die Revolution wäre dann eingetreten, wenn Cablegate Staaten wie China, Nordkorea, Iran, Saudi-Arabien oder Myanmar beträfe. Zwar werden auch hier die Verhältnisse komplizierter, weil schneller und mehr Informationen und Bilder unkontrolliert über die Grenzen des Landes gelangen, aber hier wartet man noch, dass der Schatz gehoben wird. Der hat auch den Abu-Ghraib-Skandal hervorgebracht, in dem US-Soldaten die von ihnen im Dienste des Staates ausgeübten Misshandlungen auf digitalen Fotos und Videos bannten – und damit der Öffentlichkeit preisgaben, was auch einigen, nicht den wirklich Verantwortlichen, Strafen einbrachte.

Wir können sicherlich weitere Cablegates erwarten, aber wir können auch davon ausgehen, dass die Offenheit und Grenzenlosigkeit der digitalen Revolution auf allen Seiten eingegrenzt wird. Nun wird es mehr und mehr darum gehen, Inseln zu schaffen, die außerhalb der digitalen Offenheit stehen. Privat werden wir uns mehr und mehr einigeln oder nur noch strategisch Bedeutsames posten, Unternehmen und Behörden werden nicht nur die Firewalls ausbauen und den Zugriff auf wichtige Informationen einschränken, sondern auch vermehrt vermeiden, überhaupt digitale Daten zu erzeugen. Möglicherweise ist das Zeitalter der digitalen Transparenz so schnell vorbei, wie es eingeläutet wurde. Könnte gut sein, dass Wikileaks zum Vorreiter des digitalen Mittelalters wird.