Völkerverständigung durch WikiLeaks

Das eigene Wort lässt sich nicht abstreiten

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Als die USA nach dem Zweiten Weltkrieg New York als Sitz der UNO durchsetzten, war dies nicht etwa nur eine noble Geste. Wie man beim Geheimdiensthistoriker James Bamford nachlesen kann, ging es vielmehr darum, dem damals offiziell nicht einmal existierenden Abhör-Geheimdienst, aus dem später die National Security Agency (NSA) hervorging, die Arbeit zu erleichtern, indem man die Diplomaten der Welt auf amerikanisches Territorium lud, wo man sie bequem und ohne Gefahr rechtlicher Irritationen ausspionieren konnte. Nun ist im aktuellen Leak nachzulesen, dass auch US-Diplomaten in die Schnüffelei auf UNO-Leute eingebunden waren. Obwohl selbst nicht scheu beim Lesen fremder Briefe, wird die Weltmacht nun pampig, wenn die eigene Diplomatenpost vorgelesen wird, man spricht gar von einem "kriminellen Akt", durch den WikiLeaks in den Besitz der Dokumente gelangt sei.

Kriminell jedoch handelten bisweilen US-Diplomaten und ihre Zuträger, welche Informationen auf nachrichtendienstlichem Wege beschafften. So hatte die Berliner US-Botschaft offenbar bei den Koalitionsverhandlungen einen jungen Spion aus den Reihen der FDP in ihren Diensten, der sich mit selbstgefertigten Protokollen bei den amerikanischen Freunden beliebt machte. Wer einmal einen Verrat begeht, bleibt insoweit lebenslänglich erpressbar. Überraschen sollte solche Neugierde nicht, saßen doch schon bei den Gründungen der Parteien im Nachkriegsdeutschland stets Informanten der Siegermächte heimlich am Verhandlungstisch.

Von den am Sonntag bekannt gewordenen US-Einschätzungen deutscher Spitzenpolitiker hat es die FDP am härtesten getroffen. So wird Ex-Fallschirmspringer und Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel als "schräge Wahl" bezeichnet, Chefdiplomat Westerwelle sinngemäß als seiner Aufgabe nicht gewachsen. Wie sollte denn auch ein des Deutschen nicht mächtiger Berliner US-Botschafter Philip Murphy einen Außenminister respektieren, der wiederum nicht einmal solide Englishkenntnisse vorweisen kann?

Kanzlerin Merkel wiederum wird anerkennend als "Teflon" bezeichnet, da an ihr nichts hängen bleibt, und ihr engagierter wie temperamentvoller Einsatz für US-Anliegen wie SWIFT gelobt. Innenminister De Maizières hingegen habe "eine steile Lernkurve vor sich". Die süffisanten Äußerungen, die dem US-Botschafter Murphy zugeordnet werden, dürften sich auf dessen Amtszeit kaum verlängernd auswirken.

Wie schon ansatzweise bei den bisherigen Aktionen, arbeitete WikiLeaks diesmal noch intensiver mit den Redaktionen großer Zeitungen zusammen. Allein 50 Journalisten hatte der deutsche Medienpartner Der Spiegel für den Super-Scoop abgestellt, die das Material sichteten und sensible Personendaten anonymisierten. Dem Vorwurf, Persönlichkeitsrechte zu verletzen oder Gefahren für Leib und Leben von Spitzeln zu riskieren, wie dies bei früheren WikiLekas-Aktionen vorgebracht wurde, wollte man sich nicht ausgesetzt sehen.

Im Gegensatz zu früheren Leaks gab die Whistleblower-Organisation diesmal der US-Regierung eine Woche Zeit, sich auf den digitalen "D-Day" vorzubereiten. Während Pentagon & Co. bislang WikiLeaks zu ignorieren und kleinzureden versuchten, musste die US-Regierung diesmal tanzen: Die peinlichen Besuche, welche die Spitzendiplomaten kurzfristig bei den Regierungen absolvierten, um die Wogen im voraus zu glätten, hätte sich ein Drehbuchautor einer Politsatire kaum schöner ausmalen können. WikiLeaks-Erfinder Julian Assange, der persönlich schwierige Monate hinter sich hatte, dürfte sein globales Schachspiel genossen haben.

Angesichts dieses Vorlaufs verfolgte denn auch die Weltpresse dieses Wochenende gespannt die Veröffentlichung und die Reaktionen. Auch Assange, der mit seinem Twitter-Account über ein praktisch unzensierbares, weil nicht durch DDoS-Atacken angreifbares Sprachrohr verfügt, machte insoweit diskret PR. Angeblich soll versucht worden sein, WikiLeaks mit DDoS-Attacken abzuschießen. Seltsam, denn der Server des Betreibers scheint nicht in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein, obwohl er im selben Netzsegment steht.

Aufgrund einer Vertriebspanne in Basel gelangten Spiegel-Hefte an einem Kiosk zu früh in Umlauf, was sich sofort über Twitter verbreitete: Der Leak wurde selbst vorzeitig geleakt! Der Tagesspiegel wollte schon eine eine Stunde nach der schließlich vorgezogenen Spiegel-Veröffentlichung wissen, dass der Leak "niemandem nütze".

Hatten die deutschen Medien noch bis Mitte des Jahres so ihre Probleme, WikiLeaks zu akzeptieren und angemessen zu gewichten, war der aktuelle Leak nunmehr Thema Nummer 1 bei den Nachrichtensendungen: Das ZDF zitierte Italiens Außenminister Franco Frattini, der vom "11. September der weltweiten Diplomatie" sprach; in der ARD stellte die Polit-Talkshow "Anne Will" kurzfristig das Programm um. Aufgrund der frischen Informationslage debattierte man jedoch nahezu nur Eitelkeiten.

Bodenloser Leichtsinn mit schweren Folgen

Doch das Material, soweit es bereits jedermann zum Download bereitsteht, ist hochbrisant. Saudi-Arabien etwa forderte von den USA den Angriff auf den Iran. Wer um die engen Beziehungen zwischen der saudischen Herrscherfamilie und den einflussreichsten Familien der USA weiß, wird solch ein Ansinnen kaum geringschätzen. Hochnotpeinlich wird es, wenn die US-Diplomaten mit Staaten konspirieren und offen zugeben, wie sie andere "Partner" hereingelegt haben: Als sich etwa Israel besorgt wegen des US-Exports von modernen Luft-Luft-Raketen an Jordanien geäußert hatte, konnten die USA Entwarnung geben: die gelieferten Raketen seien eine "Exportversion", deren Qualität keinen Fortschritt zu einem älteren Modell darstelle. Auch den Jordaniern werden die USA nun einiges zu erklären haben.

Im selben Dokument ist von geheimen Lieferungen von Munition an Israel die Rede, mit der im Iran Bunker geknackt werden könne. Israel beurteilte das Jahr 2010 insoweit als sehr kritisch. Mit Jemens President Abdullah Saleh vereinbarte das Pentagon, heimliche US-Bombardements von Al-Qaida-Stützpunkten als jemenitische Bomben zu deklarieren.

Gerade diese vertraulichen Äußerungen der Partner-Länder sind es, die einen nur schwer überschaubaren Schaden anrichten dürften. Das eigene Wort kann man nicht als "Verschwörungstheorie" oder "Stimmungsmache" abtun. Hatten die US-Geheimdienste bislang etwa verächtlich auf den Bundesnachrichtendienst geschielt und wegen der fatalen Abflüsse durch Doppelagenten nur noch spärlich mit Geheiminformationen versorgt, so sind es nun die USA, welche in Sachen Geheimhaltung nicht mehr als zuverlässig angesehen werden können. Die 1991 erfolgte Einrichtung eines diplomatischen Informationsnetzes, dem Secret Internet Protocol Router Network (SIPRNet), aus welchem die Daten gezogen wurden, und etlichen Leuten Zugang bot, war ein bodenloser Leichtsinn, der allen Regeln des im Geheimdienst üblichen Need-to-know-Prinzips widersprach.

Über 200 der mehr als 250.000 Datensätze hat WikiLeaks nun auf der eigens eingerichteten Website cablegate.wikileaks.org online gestellt und verheißungsvoll kommentiert, man werde laufend nachlegen. In der kommenden Woche wird der Spiegel täglich das von ihm aufbereitete Material veröffentlichen. Man darf mehr als gespannt sein – auch, ob und wie die Welt, die nun die Supermacht so nackt wie noch nie sehen darf, dem mutmaßlichen Whistleblower Bradley Manning seine Aktion danken wird.

Markus Kompa hat am 29. November im SWR2 mit Prof. Dr. Bernd Greiner, Hamburger Institut für Sozialforschung, und Hans Leyendecker, Süddeutsche Zeitung, über "Was müssen wir wissen? Demokratie in Zeiten von WikiLeaks" diskutiert.