Der Marsch auf Europa - über die Türkei

Immer mehr afrikanische Flüchtlinge meiden den Weg übers Mittelmeer und versuchen stattdessen, auf dem Landweg in die "Festung Europa" zu kommen

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Italien ist mittlerweile eines des ausländerfeindlichsten Länder Europas – und das mit „Erfolg“. Die Flüchtlingslager in Süditalien – wie das berüchtigte von Lampedusa – sind so gut wie leer; es triumphiert die italienische Rechte. Auch in anderen Regionen Südeuropas, in denen in den letzten Jahren immer mehr Flüchtlinge aus Afrika ankamen, versiegt der Strom von Asylsuchenden. Das zeigt eine Studie der französischen Nichtregierungsorganisation Migreurop, deren Partner in ganz Europa die Situation an den Grenzen und in den Flüchtlingslagern in und jenseits der europäischen Grenze beobachten.

Im jüngsten Bericht ist zu lesen, dass statt über den Mittelmeerraum, immer mehr Flüchtlinge über die griechisch-türkische Grenze nach Europa gelangen. Insgesamt ist die Zahl der an den europäischen Mittelmeer-Küsten strandenden Flüchtlinge in den letzten zwei Jahren um über 70 Prozent gesunken. Das gilt auch für die Kanarischen Inseln: Allein dort verzeichnet man einen Rückgang der Flüchtlingsboote um nahezu 100 Prozent.

An der griechisch-türkischen Landgrenze hat sich die Zahl der illegalen Grenzübertritte dagegen um sage und schreibe 370 Prozent erhöht – allein dieses Jahr wurden 32.000 Menschen gezählt. Auf dem Seeweg in der Ägäis hat man vor einem Jahr allein 10.000 Flüchtlinge festgenommen, dieses Jahr sind es nur noch rund 5000 Grenzübertritte. Das Nadelöhr per Landübergang an der griechisch-türkischen Grenze heißt „Evros“ ist laut der Grenzsicherungstruppe "Frontex" mittlerweile zu der meist genutzten „Hintertür“ in die Festung Europa geworden. Es ist 80 Kilometer lang und 12 Kilometer breit.

Das Ping-Pong-Spiel an der türkisch-griechischen Grenze

Dort stranden viele Migranten aus Afrika, die schon einen sehr langen und ermüdenden Marsch hinter sich haben: Oftmals kommen sie aus Nord- oder sogar Zentralafrika und marschieren über Libyen, Ägypten, Israel – oder oft auch mit einem Umweg über Jordanien - bis in die Türkei, um von dort aus über die Region „Evros“ nach Griechenland zu gelangen. Durch den einstigen griechisch-türkischen Grenzkonflikt ist die Grenze vermint – aktuelle Zahlen über Opfer liegen dem „griechischen Migrantenforum“ derzeit nicht vor, doch allein zwischen und 2000 und 2006 seien 90 Menschen an der Grenze umgekommen.

Beobachter berichten, dass die Flüchtlinge durch Wälder über die Grenze kommen, erst endlos zwischen Abschiebelagern hin- und hergeschoben und dann wieder zurück in die Türkei gebracht zu werden – teilweise werden sie aber auch an dieser Grenze wieder zurück nach Griechenland geschickt. Das Spiel wiederholt laut Bericht sich oft mehrere Male. Die „Rücktransporte“ seien teils legal, teils hätten aber auch illegale Sammelabschiebungen besonders vor dem Regierungswechsel in Athen 2009 stattgefunden. Demnächst soll es in der Region auch eine neue Zentrale von Frontex geben – um die Informationen über die „Grenzaktivitäten“ besser zu kontrollieren. Auch Griechenland hat eine härtere Gangart angekündigt. Und die Türkei als „Transitland“ sieht die Immigrationsfrage als Chance enger mir der EU zu kooperieren und hat im März ein entsprechendes Gesetz gegen illegale Einwanderung erlassen.

Dennoch blieben die Migranten fast nie in Griechenland, dieses werde oft nicht wirklich als „europäisch“ angesehen – angesichts des sichtbar geringeren Wohlstandes. So kommen die Flüchtlinge nun über Griechenland nach Italien, denn die unmenschliche Praxis der italienische Behörden, Flüchtlingsboote wieder aufs offen Meer zurück zu schicken oder sie zurück nach Libyen zu schiffen, hat seine Wirkung gezeigt – über den Seeweg kommen nur noch wenige. Ein italienischer Zollbeamter beschreibt diese „Befehle“ als die Schlimmsten, die er je bekommen habe.

Auch die Grenze zu Spanien ist in den letzten Jahren undurchlässig gemacht worden – hier fanden ebenfalls viele Flüchtlinge den Tod oder warten seit Jahren vor den spanischen Enklaven auf marokkanischer Seite auf eine Chance. So auch in Osteuropa: Auch dort ist die Zahl der Flüchtlinge um mehr als 20 Prozent gesunken. Das liegt nach den Herausgebern des Berichtes ebenfalls an dem ständigen Ausbau der Grenzsicherung – in diese investiert die EU jährlich Millionen Euro.

Auf dem Landweg an der türkisch-griechischen Grenze treffen die afrikanischen Flüchtlinge nun mit den Migrantenströmen aus dem Irak, dem Iran und Afghanistan zusammen. Griechenland hat bis jetzt keinen bilateralen Vertrag über die Ausweisung von Flüchtlingen – im Gegensatz zu Italien und Spanien, die sehr eng mit den libyschen und marokkanischen Behörden zusammenarbeiten. Zwar gibt es „Rücktransporte“ aber keine gemeinsame Grenzpolitik, beispielsweise hinsichtlich von „Camps“ wie in Libyen.

Doch selbst wenn die Flüchtlinge es über Griechenland doch nach Italien oder sogar nach Belgien oder Frankreich geschafft haben, werden sie von den Behörden nach der Verordnung Dublin II (2003) in den Staat zurück geschickt, in den sie zuerst eingewandert sind – in diesem Falle also nach Griechenland. Da Griechenland aber dafür bekannt ist, sehr selten Asylbewerberanträgen stattzugeben – laut Bericht weniger als ein Prozent – werden die Flüchtlinge von Asylheim zu Asylheim und schließlich wieder in die Türkei oder ein anderes Land außerhalb der EU abgeschoben.

Elektrischer Zaun in der Sahara?

Auch bei der Grenzsicherung werden andere Wege eingeschlagen: „Migreurop“ konstatiert, dass sich die europäische Überwachung und Eindämmung der Flüchtlingsströme nach Süden verlagert hat: Nicht mehr die Maghreb-Staaten, sondern die Grenze zur Sahara, Richtung „Schwarzafrika“ also Länder in der Subsahara stünden mittlerweile im Mittelpunkt des europäischen Interesses: die Grenzen zum Tschad, zu Nigeria, dem Sudan und Mali. Eine Anekdote in dem Bericht erzählt, wie angeblich eine italienische Abordnung im südlichen Libyen die Möglichkeiten der Errichtung eines elektrischen Zauns inspiziert hat.

Der Bericht bestätigt zudem mit unzähligen Vorort-Berichten und Aussagen von Betroffenen die oftmals gruseligen Zustände in den Flüchtlingscamps – vor allem außerhalb Europas, wo keinerlei Mindeststandards, sei es medizinischer oder hygienischer Art eingehalten werden. So haben Länder wie Libyen die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet – ganz abgesehen von der Einhaltung der Menschenrechte im Allgemeinen. Doch Länder wie Italien und Frankreich haben in den letzten Jahren alles getan, damit die Camps außerhalb von Europa liegen (Karte der Camps). Dort werden die Menschen laut Bericht nicht nur zu unmenschlichen Bedingungen „beaufsichtigt“, sondern wie der Bericht zeigt, in Sammeltransporten oftmals ohne Ankündigung in die Nachbarstaaten abgeschoben.

Aber auch innerhalb von Europa kritisiert „Migreurop“ die Zustände in den „Camps“ scharf. Detailliert berichten die Flüchtlingshelfer aus ganz Europa über Unfälle, Selbstmorde und ganz alltägliche Dramen. Dabei geht es einerseits um die sogenannte „Residenzpflicht“ durch die die Flüchtlinge gezwungen sind, im Heim und Umgebung zu bleiben und wie Gefangene zu leben sowie um die Ausstattung und plötzliche Abschiebungen: So verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Juli die Zustände im Lager auf der griechischen Insel Samos.

Doch mittlerweile ist die EU erpressbar geworden: So fordert Staatschef Muammar Gaddafi unumwunden fünf Milliarden Euro pro Jahr für die „Hilfe der europäischen Grenzsicherung“ – dies wiederholte Gaddafi auf dem gestrigen EU-Afrika-Gipfel noch einmal. Er werde nicht umsonst den Grenzwächter für Europa spielen, so Gaddafi. Doch wenn er es nicht tue, werde Europa bald „schwarz“ sein.