"Ehre ist eher die Hülse als der Inhalt"

Gespräch mit Winfried Speitkamp über den Begriff der Ehre und über Hegel, Ehrenmorde und albanische Blutrache

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Winfried Speitkamp hat mit "Ohrfeige, Duell und Ehrenmord" eine anregende und informative Studie über den historischen Wandel und die geografischen Unterschiede beim Begriff "Ehre" verfasst, welcher sich auch hierzulande nicht erst seit dem legendären Kopfstoß von Zinédine Zidane und den CDs des Gangsterrappers "Bushido" wieder an Popularität erfreut. Telepolis sprach mit dem Gesellschaftswissenschaftler über die Renaissance eines archaischen Dogmas.

Herr Speitkamp, Sie haben mit Ihrem Buch "Ohrfeige, Duell und Ehrenmord" eine Geschichte der Ehre geschrieben. Was hat denn eine Ohrfeige mit dem Begriff der Ehre zu tun?

Winfried Speitkamp: Die Ohrfeige ist auf der einen Seite als Ehrenbezeugung aus der Geschichte bekannt: der Backenstreich für den Lehrling, der seine Gesellenprüfung bestanden hat, oder der heute noch symbolisch ausgeführte Backenstreich bei der Firmung in der katholischen Kirche. Auf der anderen Seite ist die Ohrfeige immer als Ehrenstrafe angesehen worden: Mit der Ohrfeige konnte und durfte der Überlegene seine Untergebenen körperlich-symbolisch züchtigen, der Gutsherr das Gesinde, der Lehrherr den Lehrling, der Lehrer den Schüler.

Unabhängig vom körperlichen Schmerz wurde das als Demütigung empfunden und seit der Aufklärung auch diskutiert. In der Duellkultur noch des 19. Jahrhunderts galt: Wer ein Duell provozieren wollte, konnte seinen Kontrahenten ohrfeigen. Diese Demütigung konnte der Gegner nämlich nur durch ein Duell abwaschen. Und die Ohrfeige ist in Geschichte, Politik und Literatur immer auch als die Waffe des Schwächeren angesehen worden.

Das bekannteste Beispiel: Im November 1968 hat Beate Klarsfeld den Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger geohrfeigt, weil sie seine NS-Vergangenheit als symptomatisch für Belastungen und Traditionen der Bundesrepublik ansah. Der Geohrfeigte konnte sich nicht wehren, er war öffentlich bloßgestellt. Die mediale Wirkung einer kleinen Ohrfeige ist im übrigen ungleich größer, als wenn Klarsfeld Kiesinger zum Beispiel bei einem öffentlichen Auftritt lautstark verbal beleidigt hätte. Dergleichen passiert alle Tage, ohne dass es in die Tagesschau kommt.

Können Sie uns kurz darlegen, worum es sich bei der "Ehre" überhaupt handelt?

Winfried Speitkamp: Ehre betrifft das Zusammenwirken von Selbstachtung und Achtung durch andere, von Stolz einerseits, Anerkennung oder Prestige andererseits, von - so sagte man früher - innerer Ehre und äußerer Ehre. Der Einzelne hat ein Selbstbild, das er vor seinen Bezugsgruppen, seiner Familie, seinem Stand, seinem Verein etc., verteidigen will. Wird das Selbstbild von außen in Frage gestellt, durch Kritik oder Beleidigung, sucht der Einzelne Kompensation zu erhalten: Er beharrt auf seinem Selbstbild, will es mit der Waffe oder vor Gericht verteidigen, jedenfalls will er nicht vor seinen Bezugsgruppen als derjenige dastehen, dem man die Ehre ungestraft abschneiden kann.

Was der Einzelnen mit seiner Ehre jeweils meint, kann ganz unterschiedlich sein, und es unterscheidet sich auch im historischen Verlauf und in unterschiedlichen Gesellschaften. Aber ich kenne keine Gesellschaft, die ohne Ehrvorstellungen auskommt.

Rechtsferne Gruppen benötigen Ehrenkodices eher als rechtsnahe Gruppen

Sie zitieren in Ihrem Buch ausführlich die Bestimmungen des Philosophen G.W.F. Hegel zur subjektiven Ehre, die wir nun ebenfalls eingehend wiedergeben wollen, weil uns seine Ausführungen durchaus lohnend erscheinen:

In der Ehre betrifft die Verletzung nicht den sachlichen, realen Wert, Eigentum, Stand, Pflicht usf., sondern die Persönlichkeit als solche, und deren Vorstellung von sich selbst, den Wert, den das Subjekt sich für sich selbst zuschreibt. Dieser Wert ist auf der jetzigen Stufe ebenso unendlich, als das Subjekt sich unendlich ist. [...] Der Maßstab der Ehre geht also nicht auf das, was das Subjekt wirklich ist, sondern auf das, was in dieser Vorstellung ist. [...] Die Ehre kann nun den mannigfaltigsten Inhalt haben. [...] Der Mann von Ehre denkt daher bei allen Dingen immer zuerst an sich selbst; und nicht, ob etwas an und für sich recht sei oder nicht, ist die Frage, sondern, ob es ihm gemäß sei, ob es seiner Ehre gezieme, sich damit zu befassen oder davonzubleiben. Und so kann er auch wohl die schlechtesten Dinge tun und ein Mann von Ehre sein. [...] Im allgemeinen bleibt deshalb der Inhalt der Ehre, da er nur durch das Subjekt und nicht nach seiner ihm selbst immanenten Wesentlichkeit gilt, der Zufälligkeit preisgegeben. Indem nun die Ehre nicht nur ein Scheinen in mir selber ist, sondern auch in der Vorstellung und Anerkennung der anderen sein muß, welche wiederum ihrerseits die gleiche Anerkennung ihrer Ehre fordern dürfen, so ist die Ehre das schlechthin Verletzliche.

Die Ehre ist also in diesem Kontext - vermutlich entgegen den Vorstellungen derer, die sich auf sie berufen - subjektiv, ihre Auslegung willkürlich und ihr Fundament durchaus brüchig. Obwohl die "Ehre" vielen Menschen als das Höchste gilt, kann kaum keiner positiv ausdrücken, was damit überhaupt gemeint ist - weswegen der Interpretationsspielraum bei einem Ehrenkodex eben nicht festgefügt ist, sondern zum Unendlichen tendiert. Haben wir es hier anstelle eines allgemein verbindlichen Begriffs nicht eher mit einem Begriffs-Vakuum, einer unbestimmten Metapher zu tun, die jeder Mensch nach seinem Gutdünken gebrauchen kann und die nur deswegen Einheit unter denen stiftet, die den Begriff ebenfalls im Munde führen, weil sich alle in dieser Unbestimmtheit einig wissen?

Winfried Speitkamp: Tatsächlich: Ehre ist eher die Hülse als der Inhalt. Und die Hülse kann immer wieder neu gefüllt werden. Aber doch nicht beliebig: Was jeweils unter Ehre verstanden wird, wird innerhalb von Gruppen und zwischen Gruppen ausgehandelt, und der Einzelne muss dann entscheiden, wo er sich zugehörig fühlen will. Das kann er am besten demonstrieren, indem er die gemeinsamen Ehrvorstellungen praktiziert und verteidigt.

Hegel spricht im übrigen sehr prägnant viele wichtige Aspekte an, die das Thema Ehre so bedeutsam machen und zeigen, weshalb gerade um 1800 erneut intensiv über Ehre nachgedacht wurde: Es geht um die Persönlichkeit des Einzelnen, die eben, aus subjektiver Sicht, absolut gesetzt wird.

Damit geht es auch um das Verhältnis zum Recht: Ehre wird zwar mittlerweile häufig durch das Recht geschützt, aber als etwas angesehen, was per se neben dem Recht steht - in dieser Vorstellungswelt ist noch die Ehrenwortaffäre Helmut Kohls verankert: An das Ehrenwort muss man sich halten, selbst wenn man gegen das Gesetz verstößt. Und auch die Mafia-Ehre basiert ja darauf: Selbst rechtsferne Gruppen haben Ehrenkodices, die ihren Zusammenhalt sicherstellen - sie brauchen das sogar mehr noch als rechtsnahe Gruppen, die das formale Recht nutzen können.

Ständische Ehrvorstellungen

Bei Hegel geht es aber noch um mehr, um die Emanzipation aus ständischen Ehrvorstellungen und die Entdeckung des Individuums. Das wurde von vielen gefordert, aber Hegel benennt die Ambivalenz: Der Ehrbegriff wird willkürlicher Deutung geöffnet. Seit dem späten 18. Jahrhundert, in Aufklärung und Idealismus, hat man intensiv über Ehre diskutiert und wollte sie aus den ständischen Fesseln befreien, auf das Individuum zurückführen. Im "Staatslexikon" der 1830er Jahre, der Enzyklopädie des aufgeklärten Naturrechts in Deutschland, hat man Ehre sogar als "Urrecht", also als vorstaatliches Naturrecht interpretiert.

Es ging also darum, die als starr verstandenen Normen der ständischen Gesellschaft zu durchbrechen und das bürgerliche Individuum freizusetzen. Die Ehre sollte nur noch aus der Vernunft des einzelnen abgeleitet werden. Hegel, und dann auch Schopenhauer, haben allerdings sehr scharf erkannt, dass dieser Anspruch nicht einlösbar ist. Als gesellschaftliche Wesen sind Menschen auf Anerkennung ihrer je individuellen Ehrbegriffe angewiesen - wie gesagt, nicht nur erpicht, sondern angewiesen: Ein Mensch, dem die Ehre entzogen wird, ist nicht mehr gesellschaftsfähig, ihm droht der soziale Tod.

Welche gesellschaftsbindende Funktion erfüllt die "Ehre"?

Winfried Speitkamp: Ehre kann integrieren und ausgrenzen. Alle organisierten Gesellschaften und Staaten haben das genutzt, haben über Ehrzuteilung und Ehrentzug ihre Mitglieder honoriert oder sanktioniert. Die Ehrung, vom Eisernen Kreuz über das Mutterkreuz bis zum Bundesverdienstorden - wurde und wird ernst genommen, Menschen möchten ausgezeichnet werden für Ihren Einsatz, und umgekehrt möchte der Staat diejenigen auszeichnen, die ihm nutzen.

In Diktaturen dienen solche Möglichkeiten der Ehrung auch dazu, Gesinnungstreue zu überprüfen: Wer in den ordensseligen Diktaturen, ob NS-Regime oder DDR, kein Ehrenzeichen erhalten hatte, machte sich verdächtig. Und auch der Ehrentzug - früher zum Beispiel ganz konkret durch entehrende Strafen, den Pranger im Mittelalter und dergleichen - ist höchst wirksam, denn er führt öffentlich den ehrlosen Zustand vor.

Wie wichtig ist dabei der Kult der Männlichkeit?

Winfried Speitkamp: Das hängt von den jeweiligen Gesellschaften ab. In Kriegergesellschaften ist die Rolle des Mannes als Krieger häufig mit einem speziellen Männlichkeitskult überhöht worden. In Übergangs- und Mannbarkeitsritualen wurde das eingeübt: durch Mutproben, Angriffe auf Nachbargesellschaften und andere Herausforderungen. Heute wird es in manchen Jugendgruppen weiterhin gepflegt - zur Abgrenzung von anderen, zur Einübung von Geschlechterrollen, zur Selbstbehauptung gegenüber der Erwachsenenwelt.

Manche Ethnologen wie Georg Elwert haben in den großstädtischen Jugendkulturen der Gegenwart tatsächlich die Praktiken der jungen Krieger aus vormodernen oder nichtwestlichen Kulturen wiederzuentdecken gemeint. Bemerkenswert ist, dass in weiblichen Kriegergruppen, Amazonen-Verbänden, oft eine gezielte Abwandlung der Geschlechterrollen feststellbar ist: Die Kriegerinnen übernehmen ausdrücklich das soziale Geschlecht der Männer einschließlich männlicher Rollenattribute und Ehrnormen.

Wie würden Sie die Beziehung zwischen den Begriffen "Ehre" und "Würde" beschreiben?

Winfried Speitkamp: Ehre ist an die Achtung durch andere gebunden, sie kann entzogen oder in Frage gestellt werden. Ehre betrifft unsere Rolle als Person in der Gesellschaft. Würde dagegen ruht in jedem Menschen, kann nicht durch Beleidigung oder andere Attacken entzogen werden. Sie ist eben, darauf haben wir uns seit der Aufklärung geeinigt, "unantastbar". Die Diskussionen seit dem 18. Jahrhundert um die Emanzipation der inneren Ehre von der äußeren Ehre drehten sich im Grunde um diese Frage: Wie kann man einen Kernbestand personaler Selbstachtung vor der ständischen oder anderen gesellschaftlichen Sanktionierung retten. Auch wenn die Aufklärer meist nicht von Menschenwürde sprachen - bedeutsame Ausnahme ist der Freiherr von Knigge 1788 - ging es ihnen doch genau darum.

Ist es möglich, dass sich mit den Auswüchsen der Marktgesellschaft, in welcher die Unterwerfung der Individuen unter die Erfordernisse des Wirtschaftswachstums immer bizarrere Formen annimmt und durch allerhand vorgestanzte Selbstermächtigungsphantasien wieder kompensiert werden muss, auch in den postmodernen Gesellschaften des Westens der Begriff "Ehre" für die Menschen wieder prägend wird? Wie konnte es zum Beispiel in der aktuellen Pop-, Jugend- und Straßenkultur zu einer Renaissance des Ehrbegriffs kommen?

Winfried Speitkamp: Die Renaissance des Ehrbegriffs zeigt, wie wichtig Menschen die Anerkennung und die Integration in eine Gruppe ist, wichtiger oft als materieller Erfolg. Gerade in der Marktgesellschaft wird Ehre deshalb nicht verschwinden. Die Sache war nach meiner Ansicht ohnehin nie verschwunden. Und in Ersatzbegriffen wird immer wieder um Ehre gerungen: Da geht es um Anerkennung, Integrität und vor allem "Respekt". Wenn die Gesellschaft zerfasert in einander fremde Teilgruppen, steigt auch das Bemühen, Gruppen-Ehren zu pflegen und zu verteidigen, um Identität zu behaupten. Wenn übergreifende Angebote an Werten nicht mehr akzeptiert werden, wenn jedenfalls soziale Ausgrenzung erfahren wird, dann bietet ein rigider Ehrenkodex Halt und Zugehörigkeit, damit auch Anerkennung.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.