Vertuschen im Namen des Herrn

Die katholische Kirche hat allein im Erzbistum München und Freising die Aufklärung zahlreicher Missbrauchsfälle systematisch hintertrieben

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159 Priester, 96 Religionslehrer, 15 Diakone und sechs pastorale Mitarbeiter sind allein in der Erzdiözese München und Freising wegen sexuellen Missbrauchs oder körperlichen Misshandlungen "auffällig geworden". Doch die Fälle, die im Zeitraum von 1945 bis 2009 aus mehr als 13.200 Akten ermittelt wurden, könnten nur die Spitze des Eisberges sein. Die Rechtsanwältin Marion Westpfahl, die am Freitag ein vom Erzbistum in Auftrag gegebenes, insgesamt 250 Seiten starkes Gutachten vorstellte, ging davon aus, dass die tatsächliche Zahl "wesentlich höher" liege.

Kriminelle Energie legten nämlich offenkundig nicht nur die unmittelbaren Täter, sondern auch Personen an den Tag, denen es um die systematische Vertuschung dieser Vorgänge ging. Nach Ansicht der Gutachter fanden "Aktenvernichtungen in erheblichem Umfang" statt, große Bestände seien "außerhalb des Ordinariats in Privatwohnungen eingelagert" und auch innerhalb der Ordinariatsräume nicht vor Unbefugten geschützt worden.

Eine zuverlässige Zentralerfassung des Aktenbestandes erfolgte nicht, so dass im Zuge der Untersuchung überraschend immer wieder an verschiedensten Orten Akten bzw. Teile hieraus auftauchten.

Kernaussagen des Gutachtens

Oder eben nicht …

Täterprofile

Die Gutachter versuchten sich auch als Profiler, um bestimmte täterbezogene Persönlichkeitsmerkmale zu ermitteln. 45 bis 65 Jahre alt, psychisch und physisch wenig belastbar, alkoholabhängig und kaum arbeitsfähig - so ungefähr sieht demnach der typische Geistliche aus, der zu sexuellem Missbrauch und/oder körperlichen Züchtigungen neigt.

Außerdem wollten die Anwälte festgestellt wissen, dass sich die "ganz überwiegende Anzahl der einschlägigen Vorfälle" im ländlichen Bereich ereignet habe.

Mittäterprofile

Dass viele von ihnen einer angemessenen Bestrafung entgingen, sich keiner therapeutischen Behandlung unterziehen durften oder mussten und sich - im Falle ihrer Entdeckung - an anderer Stelle zeitnah neue Opfer suchen konnten, hatte augenscheinlich mit diversen Helfern und Helfeshelfern im erzbischöflichen Ordinariat zu. Das Gutachten konstatiert – insbesondere vor dem Inkrafttreten der "Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz" (2002), die mittlerweile noch einmal überarbeitet wurden – eine explizite "Nichtwahrnehmung der Opfer, ihrer körperlichen und insbesondere seelischen Verletzung und der hiermit verbundenen, teilweise dauerhaften Tatfolgen".

"Auffällig gewordene" Priester wurden in vielen Fällen nicht suspendiert, sondern versetzt, weitere Straftaten billigend in Kauf genommen. Jahrzehntelang entsprach das vollständige Desinteresse am Schicksal der Opfer der immens fürsorglichen Betreuung, welche das Ordinariat den misshandelnden Geistlichen zuteil werden ließ.

Ihm (dem Täter, Anm. d. Red.) und auch der Kirche galt jede Anstrengung, eine öffentliche Wahrnehmung des Tatgeschehens und – wie man meinte – einen Skandal zu vermeiden. Mit dieser aufklärungsfeindlichen Priorität steht das Fehlen jeglicher innerkirchlicher Sanktion in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle in Einklang.

Kernaussagen des Gutachtens

Die Gutachter sehen die Gründe für dieses schwer erklärbare Verhalten in einem "fehlinterpretierten klerikalen Selbstverständnis". Nach ihrer Einschätzung fühlten sich die Verantwortlichen "einem brüderlichen Miteinander" und dem "rücksichtslosen Schutz des eigenen Standes" verpflichtet. Korpsgeist im Namen des Herrn, den seine irdischen Stellvertreter – naturgemäß ohne wirkliche Rücksprache – im eigenen Sinne interpretieren.

Erweist sich bereits dieses Selbstverständnis als ernstzunehmendes Aufklärungshindernis war für die Gutachter ein weiterer Bereich auffällig, der geeignet ist, aufgrund Abschottung massive Aufklärungsverhinderung nach sich zu ziehen. Es handelt sich um homo-sexuell veranlagte Kleriker, die mit Blick auf die kirchlichen Lehren zur Homosexualität und Priestertum bedauerlicherweise einem besonderen Erpressungspotential unterliegen.

Kernaussagen des Gutachtens

Offene Fragen

Wie hoch die Dunkelziffer der Täter und Missbrauchsopfer ist, lässt sich also nur mutmaßen. Gleiches gilt für die Anzahl und die Identität der Personen, die sich innerhalb des Ordinariats über Jahre und Jahrzehnte gezielt mit der Verschleierung der Übergriffe und der Vernichtung beträchtlicher Aktenbestände beschäftigten.

Welche Rolle der heutige Papst, der von 1977 bis 1982 Erzbischof in München und Freising war, in diesen Fällen spielte, wird sich vorerst ebenfalls nicht endgültig klären lassen. Gutachterin Westphal wies darauf hin, dass die Beschäftigung mit "auffällig gewordenen" Priestern seinerzeit in den Aufgabenbereich des Generalvikars fiel, bescheinigte aber auch der Ratzinger-Administration eine "katastrophale Aktenpflege", für die es einleuchtende Gründe gegeben haben mag. Schließlich existieren durchaus Indizien, die darauf hindeuten, dass der frühere Erzbischof sehr wohl über bestimmte Vorkommnisse und Verdachtsmomente informiert war.

Unabhängig davon: Sollten sich nicht gerade kirchliche Würdenträger verpflichtet fühlen, im Ernstfall die "politische Verantwortung" zu übernehmen?

Dunkelziffern

Überflüssig zu erwähnen, dass sexueller Missbrauch und körperliche Misshandlungen nicht auf die katholische (und evangelische) Kirche beschränkt sind. Der neue, am vergangenen Donnerstag veröffentlichte Zwischenbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufklärung des sexuellen Kindesmissbrauchs macht deutlich, dass es sich um ein gesamtgesellschaftliches Problem von noch immer ungekannten Ausmaßen handelt.

Aktuelle Daten, die vor wenigen Tagen von der Hotline und Onlineberatung für Opfer sexuellen Missbrauchs veröffentlicht wurden, bestätigen allerdings gerade mit Blick auf die kirchlichen Institutionen den Verdacht, der auch von den Gutachtern des Erzbistums München und Freising geäußert wurde. Die Dunkelziffer liegt weit über der Anzahl bislang bekannt gewordener Fälle.

In den ersten acht Monaten berichteten Anrufer der Lebensberatung im Bistum Trier, die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz arbeitet, von mehr als 1.000 sexuellen Übergriffen. Gut 14 Prozent der Opfer gaben an, über einen langen Zeitraum immer wieder missbraucht worden zu sein.

Ein Aufräumer mit Präventionsbeauftragten

"Für mich waren es die sicher schlimmsten Monate meines Lebens. Meine Empfindungen waren Scham, Traurigkeit und Betroffenheit." Reinhard Marx, der Erzbischof von München und Freising, der von Papst Benedikt XVI. gerade erst zum Kardinal ernannt wurde, blieb angesichts der schockierenden Befunde wenig anderes übrig, als stellvertretend die Verantwortung für die Vielzahl sexueller Übergriffe und körperlicher Misshandlungen zu übernehmen. Marx, den von einer bekannten Boulevardzeitung postwendend zum Aufräumer gekürt wurde, formulierte bei der Gelegenheit eine Zielvorgabe, die viele Menschen bisher für selbstverständlich gehalten hatten.

Unser Ziel heißt: Unsere Einrichtungen, Pfarreien, Schulen und Jugendgruppen sollen sichere Orte für Kinder und Jugendliche sein – Orte, wo sie Geborgenheit und Schutz erfahren – Orte, an denen ihnen glaubhaft der Kern der christlichen Botschaft vermittelt und vorgelebt wird.

Reinhard Marx

Ob der Kardinal ernsthaft davon überzeugt ist, dass sich vergleichbare Delikte in Zukunft verhindern lassen, darf allerdings bezweifelt werden, auch wenn es in den Diözesen mittlerweile "Beauftragte" gibt, die dafür sorgen sollen, dass die "Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" eingehalten werden. "Ich kann nur davor warnen, nach diesen Erfahrungen einfach zur Tagesordnung überzugehen", erklärte Marx, ohne detaillierter darauf einzugehen, an wen diese Warnung gerichtet war.

Gut möglich auch, dass die Leidenschaft des frisch gebackenen Kardinals zur inneren und äußeren Erneuerung in der aktuellen Debatte massiv überschätzt wird. Immerhin war es derselbe Reinhard Marx, der den emeritierten – und gerade eben aus dem Schoss der Kirche ausgetretenen Gotthold Hasenhüttl - vom Priesteramt suspendierte, nachdem der Theologieprofessor auf dem ökumenischen Kirchentag in Berlin (2003) gemeinsam mit evangelischen Geistlichen Brot und Wein geteilt hatte.

Auch der unbeugsamen Moraltheologin Regina Ammicht-Quinn, die mittlerweile am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen und als Staatsrätin für interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie gesellschaftliche Werteentwicklung der Landesregierung Baden-Württemberg arbeitet, verweigerte der mutmaßliche Reformer die Lehrerlaubnis für die Universität Saarbrücken.

Wen besuchen?

Für die katholische Kirche in Deutschland geht es bei diesem Thema um viel, wenn nicht um alles. Bei dem Teil der Bevölkerung, der dem "Relativismus" anheim gefallen ist, wird sie in den letzten Jahren ohnehin mehr Kredit verspielt haben, als ihr überhaupt noch zur Verfügung stand. Doch der massenweise Missbrauch von Schutz befohlenen Kindern und Jugendlichen dürfte auch die orthodoxesten Anhänger zum Nachdenken über Anspruch und Wirklichkeit zwingen.

Die zahlreichen Missbrauchsfälle führten schließlich schon Anfang des Jahres gerade in den katholisch geprägten Regionen Süddeutschlands zu einschneidenden Konsequenzen. Die Zahl der Kirchenaustritte stieg mancherorts von 200 bis 300 pro Monat auf deutlich über 1.000. Ob Benedikt XVI. bei seinem Staatsbesuch im Jahr 2011 überhaupt noch "Gravitationszentren des deutschen Katholizismus" oder wenigstens die Andeutung "kirchlicher Kernlande" vorfindet, ist nach den aktuellen Erkenntnissen fraglicher denn je.