"Elektronisches Regieren" in Zeiten von Wikileaks

Offener Brief an Angela Merkel, Bundeskanzlerin

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Liebe Frau Dr. Angela Merkel,

heute ist Nikolaus. Und heute Abend gibt’s einen Empfang anlässlich des morgigen "Fünften Nationalen IT-Gipfels" in Dresden. Da wollte ich es mir nicht nehmen lassen, Ihnen einige e-Pfefferkuchen zu senden.

Als Wolfgang Schäuble noch Innenminister war, soll er gesagt haben: "Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten." Anschließend hat er seine Sicherheitsgesetze durchgedrückt. Wikileaks hat die Untiefen des Gedankens schonungslos zu Tage gefördert. Man könnte auch sagen, Julian Assange hat das "Vermummungsverbot im Internet" durchgesetzt, das Ihr Parteifreund Axel E. Fischer gefordert hatte – (wobei ich nicht behaupten möchte, dass Herr Fischer auch nur im Ansatz weiß, wovon er spricht!).

Wer immer bisher mit krummen Geschäften jedweder Art zu tun hatte, muss damit rechnen, enttarnt zu werden. Und wie es scheint, könnte das auch im Einzelfall der Todesstoß für ein Unternehmen sein. Sicher, um die Kriminellen in den Firmen wäre es jetzt auch nicht schade ... Aber woher wissen wir denn überhaupt, ob die einzelnen Dokumente tatsächlich unverfälscht sind?

"Elektronisches Regieren" heißt das Zauberwort

Und der einzelne Bürger muss damit rechnen, dass seine personenbezogenen Daten ans Licht kommen. Ihm ist es letztlich egal, ob der Datensammler – sei es eine Wirtschaftsauskunftei wie die Schufa, ein Steuerberater, ein Arzt oder eine Einwohnermeldebehörde – von einem rachsüchtigen Mitarbeiter oder einem externen Kriminellen zur Ader gelassen wird. Die Daten sind in jedem Fall öffentlich.

Das Risiko ist jedenfalls groß: "In zwei Drittel der deutschen Unternehmen und Behörden sind in den letzten zwei Jahren Daten über Mitarbeiter und Kunden abhanden gekommen (69 Prozent)", wie Accenture im Sommer festgestellt hat.

Das allerdings scheint Ihre Regierung eher noch zusätzlich zu beflügeln, weitere Daten zu erheben: "Elektronisches Regieren" heißt das Zauberwort. Das Innenministerium teilt mit:

Transaktionen zwischen Verwaltung und Wirtschaft sollen ab 2012 in der Regel nur noch online abgewickelt werden.

Unter www.egov2.de sind dutzende "Pilotprojekte" (wie viele Projekte sollen es denn dann insgesamt werden?) definiert.

Im Rahmen von E-Government 2.0 hat sich die Bundesverwaltung im Handlungsfeld Identifikation das Ziel gesetzt, eine eindeutige, ortsunabhängige, elektronische Identifizierungslösung für Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Verwaltung bereitzustellen.

Abschnitt "Identifikation" des E-Government 2.0

Dadurch sind nicht nur der neue Personalausweis und die De-Mail, sondern auch "einfache kommunale Massenverfahren, z. B. Einwohnermeldewesen, Straßenverkehrswesen, Führerscheinwesen, Katasterwesen, Steuerwesen, Bauwesen, Soziale Leistungen" möglich, wie Peter Klinger vom "Hagener E-Governmentkonsortium Rathaus21" vorträgt.

e-Strafzettel und Verkehrsoptimierer

Beispiel e-Straßenverkehr - der scheint auch Brüssel zu faszinieren: Die EU-Kommission will unter anderem die "Harmonisierung der Sanktionen, der Signalisation und des zulässigen Blutalkoholgehalts" und die "Übernahme neuer Technologien, z. B. elektronischer Führerschein, Geschwindigkeitsbegrenzer und intelligente Verkehrssysteme. Die aktuellen Fortschritte in diesem Bereich zielen darauf ab, Insassen, Fußgänger und Fahrradfahrer besser zu schützen und das Geschwindigkeitsmanagement der Fahrzeuge zu verbessern."

Wow! Da hat Frau Käßmann ihren e-Strafzettel künftig schon in ihrem De-Mail-Postfach, noch bevor sie ihren Rausch überhaupt ausgeschlafen hat (vorausgesetzt das Auto springt überhaupt noch an, wenn sich einer betrunken im Auto befindet). - Fehlt nur noch der e-Führerscheinentzug... Scharfe Aussicht: Ohne gültige e-Fahrerlaubnis springt das e-Auto nicht mehr an...

Damit ist das e-Ende der e-Innovationen aber noch lange nicht erreicht: Walter Maibach ist der Ansicht, dass konventionelle Nummernschilder schon bald durch RFID-Chips angereichert werden. Maibach ist Mitarbeiter der - so das Selbstverständnis – "PTV AG – Die Verkehrsoptimierer" (Stuttgart) und leitet das EU-Verkehrs-Projekt ASSET. In Großbritannien wurde bereits vor Jahren mit derlei Technik herumexperimentiert.

Die Chips verfügen über eine eigene Batterie, funken deshalb zehn Jahre lang auf bis 100 Meter Daten an jeden Interessierten. Damit lässt sich nicht nur die Geschwindigkeit von 200 Fahrzeugen gleichzeitig kontrollieren - vorausgesetzt, dass 320 km/h nicht überschritten werden! -, genauso können vereinfacht Steuern und Versicherung oder der Besuch eines Parkhauses abgerechnet werden. In Verbindung mit dem Speedpass-System von Exxon lässt sich auch das Tanken automatisiert abrechnen (allerdings soll das Goldstück bereits vor Jahren geknackt worden sein). Ja, aber wenn es nicht geknackt wäre, dann könnte man auch Autodieben auf die Spur kommen.

Offenbar nehmen sich die Europäischen Verkehrsüberwacher ein Beispiel an den Chinesen: Der Entwickler IPICO kündigte im Jahr 2009 ein "fortgeschrittenes integriertes RFID Auto-Identifizierungs und -Registrierungs-, Strecken- und Mautabrechnungsprogramm für ganz China" an. Und was bei 1,5 Milliarden Chinesen klappt, sollte doch bei 500 Millionen Europäern eine Kleinigkeit sein!?

e-Strafverfolgung im e-Zeitalter

Der e-Verkehr lässt sich dann noch mit der e-Strafverfolgung im e-Zeitalter kombinieren: Die taz meldet zum EU-Projekt Indect (Wer nichts getan hat, muss auch nichts befürchten):

Videokameras, die automatisch Verbrecher durch die ganze Stadt verfolgen, damit die Polizei sie bequem einfangen kann. Computer, die auf den Bildern Gesichter automatisch erkennen und mit breiten Datensätzen abgleichen. Das klingt nach Science-Fiction. Wenn es nach der EU-Kommission geht, könnte es so ein System 2013 bereits geben.

Wenn die e-Kameras dann in Drohnen eingebaut werden, ließen sich die 80 Millionen Bundesbürger nicht nur in Berlin, sondern auch in Berchtesgaden kostengünstig im Blick halten: Billigversionen fürs Nachbarschafts-Spannen mit iPhone-Steuerung gibt’s schon bei Saturn ab 299 Euro.

Wie praktisch: Da könnten dann die kriminellen Rentner, Hausfrauen und Schüler, die seit Wochen gegen Stuttgart21 demonstrieren, nahtlos vom Bahnhofsplatz vollautomatisch bis nach Hause verfolgt werden – egal ob sie zu Fuß, mit der Straßenbahn oder mit dem Auto unterwegs waren.

Fehlt nur noch der Robocop, der die Delinquenten dann vor der Haustür abfängt. Auch das klingt schon wieder nach Science Fiction und bösartiger Übertreibung. Ist es aber nicht: Der ASIMO von Honda legt bei einer Größe von 120 Zentimetern fünf Kilometer pro Stunde zurück. Weitere Fähigkeiten können beliebig spendiert werden: Riechorgane), Tastsinn) oder auch sprachliche Fähigkeiten. Vielleicht kann der Robocop dann auch grad von den Demonstranten die Gebühren für den Polizeieinsatz einziehen? Das intelligente Telefon dient ja heutzutage auch als Geldbeutel...

e-Polizist

Aber wir wollen hier nicht über Absurdistan spekulieren - bleiben wir bei der Realität: Dort nämlich bietet der "Robotstore" in Mannheim in seiner Rubrik "Sicherheits-, Wach- & Überwachungsroboter" schon eine Menge der Zutaten, die so ein e-Polizist braucht: Infrarot, Bewegungsmelder, Wlan-Anschluss, Radarsensoren, lichtempfindliche CCD-Kameras, Gas- und Rauchsensoren.

Die ganze Vielfalt moderner Überwachungstechnik steckt im Modell Mosro (Stückpreis: 25.300 Euro). Das Teil macht mir zwar mit lediglich 4 Stundenkilometern einen etwas schlappen Eindruck, aber das bekommen die Kurpfälzer mit ein wenig Training sicher noch hin! Ansonsten weiß er aber durchaus mit inneren Werten zu überzeugen: Er ist nämlich mit "bis zu 240 Sensoren" bestückt - kein Wunder, dass der so teuer ist! Der Hersteller wirbt:

Der Wachroboter kann sehen, hören, riechen, fühlen und sogar sprechen. In seinem 25 kg leichten, wendigen Korpus bündelt er die modernsten Technologien der gesamten Branche. Ausgestattet mit Radarsensoren, Bewegungsscannern, Ultraschallsensoren und Kamera ist er in der Lage, selbst bei völliger Dunkelheit und durch Wände hindurch Bewegungen zu identifizieren. Dabei ist Mosro permanent über Funk, ISDN oder GSM mit der Einsatzzentrale verbunden. Er erkennt potenzielle Gefahren wie Rauch, Gas oder auch ungewöhnliche Temperaturschwankungen und alarmiert unmittelbar die Kontrollstation. Einmal entdeckte Personen verliert der Roboter nicht mehr aus den "Augen". Er fordert sie dazu auf, sich über ihren Fingerabdruck zu identifizieren – mit deutlichen Worten in bis zu 24 Sprachen. Wird die Identifikation verweigert oder schlägt sie fehl, löst er Alarm aus.

Alarm auslösen?? Das ist enttäuschend! Zupacken muss er! Dazu braucht er Greifarme.

"Null-Toleranz"-Politik "bei der inneren Sicherheit"

Liebe Frau Merkel: In diesem Brief wollte ich mich lediglich mit der e-Identifikation im e-Verkehr, der e-Videoüberwachung und der e-Strafverfolgung beschäftigen. Ich ignoriere dabei unzulässigerweise die anderen Datenmonster wie

die Bankkontenabfrage,
das Bundesmelderegister,
die "Ich weiß Alles"-Datenbank namens ELENA,
die Fluggastdaten,
die elektronische Gesundheitskarte,
die von der EU geforderte Überwachung des gesamten Internetverkehrs,
die Onlinedurchsuchung,
die sich zum "allgemeinen Personenkennzeichen" auswuchernde einheitliche Steuernummer,
den angeblich intelligenten Haushalt,
die angeblich intelligenten Stromnetze,
die angeblich dringend erforderliche Vorratsdatenspeicherung,
das Zahlungsverkehrsabkommen SWIFT
und die Volkszählung Zensus2011.

Ich vermute aber, dass mir ein künftiger Innenminister schon erklären wird, warum es nur meiner persönlichen Sicherheit dient, wenn Mosro nicht nur Zugriff auf alle diese Daten erhält, sondern nach dem Erfassen meines Fingerabdrucks eben rasch daraus noch ein Profil von mir erstellt. – Das nämlich würde zu der "Null-Toleranz"-Politik "bei der inneren Sicherheit" passen, die Sie bereits vor Jahren propagiert haben.

Es schien, als wollten Sie mit Hilfe der Videoüberwachung gegen die Falschparker "in der dritten Reihe" vorgehen. Ich war mir damals unsicher, ob da die Regierungschefin oder die wahlkämpfende Parteivorsitzende geredet hatte. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass es die Regierungschefin war.

Ich zumindest halte es nicht für erstrebenswert, in einem von autonomen Robotern vollüberwachten Staat zu leben. Und ich glaube auch nicht, dass dies dem Mehrheitswillen in diesem Land entspricht.

Jenseits dieser ethisch-moralischen Debatte müssen wir uns heute aber auch mit Wikileaks beschäftigen. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz notierte zwei Tage nach der jüngsten Veröffentlichung von Julian Assange:

Die erhofften Zugewinne an Sicherheit verkehren sich damit in ihr Gegenteil: Im Ergebnis gibt es nicht mehr, sondern weniger Sicherheit, weil die unübersehbaren Datenmassen nicht mehr angemessen geschützt werden können.

Peter Schaar

Und kommt zu dem Schluss:

Deshalb ist ein radikales Umdenken erforderlich: Wir brauchen nicht immer mehr, sondern weniger Daten, und die Daten müssen ordentlich geschützt werden. Sonst ist zu befürchten, dass demnächst nicht nur diplomatische Korrespondenz, sondern ärztliche Diagnosen, Strafakten oder andere sensible Informationen ihren Weg in das Internet finden. Datensparsamkeit, IT-Sicherheit und Datenschutz sind das Gebot der Stunde.

Peter Schaar

An dieser Stelle möchte ich ein präzisieren, wer genau hier bedroht ist: Wie viel ist Kriminellen wohl das Profil einer (ehemaligen) Regierungschefin wert? Oder im Vergleich dazu das eines Ministers oder Vorstandsvorsitzenden? Das Handelsblatt berichtet (PDF) von Erkenntnissen des Münchner Sicherheitsexperten Corporate Trust: Da würden Entführer mit "Listen möglicher Opfer aus Unternehmerfamilien" arbeiten. Die Zeitung schreibt:

Die Namen möglicher Opfer finden die Kidnapper nicht nur im Fernsehen und in der Presse, sondern interessante Details vor allem im Internet. Dort sind ja nicht nur Informationen jederzeit und noch lange Jahre abrufbar. Online-Portale, Meldeauskünfte und Telefonverzeichnisse geben zudem Aufschluss über alles Mögliche, von Wohnadresse bis Hobby.

Handelsblatt

Umgekehrt scheint es aber auch Menschen zu geben, die "mit einer falschen Postadresse arbeiten, um eben nicht ohne weiteres auffindbar zu sein". Die haben natürlich gelitten, wenn das kommende Bundesmelderegister "bundesweit einheitliche Online-Dienste" ermöglicht. Kann das noch was anderes bedeuten, als dass der Bund künftig hier als zentraler Datendealer auftreten will?

Ich bin gespannt, wann Sie beginnen, die Betroffenen auf das Thema hinzuweisen, um sie anschließend angemessen bei der Debatte über das Thema "Datenschutz" zu beteiligen.

Liebe Frau Merkel, Ich wünsche Ihnen und den übrigen mehr oder minder mächtigen Teilnehmern des IT-Gipfels ein besinnliches Weihnachtsfest mit leckerem Kuchen - mit wenig Pfeffer und schon gar keinem 'e'! - und verbleibe

mit freundlichem Gruß

Ihr Joachim Jakobs

PS: Ich hatte eigentlich von Ihrem Parteifreund Fischer als bekennendem Vertreter des schlichten Gemüts erwartet, dass er "Wikileaks weltweit wegsperren" fordert - Da habe ich mich wohl bislang jedenfalls getäuscht.