Geistiger Urknall

Schädelrekonstruktion (im Hintergrund) und Originalschädel von MH1. Ein internationales Team mit Forschern der Universität Zürich entdeckte am 15. August 2008 in Südafrika Knochenfragmente einer bislang unbekannten Hominidenart. Die rund 1,9 Millionen Jahre alten Fossilien zeigen Merkmale sowohl der Gattung Australopithecus als auch der Gattung Homo. Die neue Hominidenart Australopithecus sediba könnte deshalb auch eine Ahnenform des Homo sein. Bild: Universität Zürich/idw

Wann und warum kamen Bewusstsein und Sprache in die Welt?

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Immer wieder sehen sich Paläoanthropologen neuen überraschenden Fundstücken gegenüber, die den vermeintlich festverwurzelten Hominiden-Stammbaum zum Wanken bringen. Ein Beispiel hierfür ist die Entdeckung der neuen Hominidenart Australopithecus sediba, die Mai 2010 bekannt gemacht wurde. Dabei sind Schätzungen zufolge noch nicht einmal 0,02 Prozent aller potenziellen fossilen Fundstücke ausgegraben worden. Deshalb verwundert es umso mehr, dass das Gros der Forscher zu wissen glaubt, wann und wieso die Hominiden erstmals ein Ich-Bewusstsein und eine Sprache zum Informationsaustausch entwickelten.

Natürlich wird es für alle Zeiten ein Mysterium der Geschichte bleiben, wer sich als erster Mensch seiner Sterblichkeit zu Lebzeiten bewusst wurde oder den Blick den Sternen zugewandt über den Beginn der Welt sinnierte und über die erste Ursache allen Daseins rätselte. Waren die Schöpfer solcherlei Gedanken Vertreter des Homo habilis oder war es gar sein Zeitgenosse Homo erectus (beide existierten knapp eine halbe Million Jahre lang Seite an Seite), aus dem sich später Homo sapiens entwickeln sollte?

Synergetische Effekte

Fast alle vorliegenden fossilen Indizien untermauern, dass das Bewusstsein erstmals zum Leben erwachte, als sich der späte Homo erectus vor circa 1,5 Millionen Jahre darin übte, kulturelle Handlungen zu vollziehen, jagdtechnische Verbesserungen anzugehen und Werkzeuge fabrikmäßig zu produzieren. Bis zu einem gewissen Grad seiner selbst bewusst gewesen sein musste sich Homo erectus allein deshalb, weil derlei Aktionen ein Mindestmaß an abstraktem und planendem Denken erfordern. Fakt ist: Als er vor annähernd 1,5 Millionen Jahren den kontrollierten Umgang mit dem Feuer erlernte und optimierte (was zweifelsfrei höheren Verstand voraussetzte) sowie das von Homo habilis begonnene Sprachexperiment dank seines größeren Gehirns auf höherem Niveau fortsetzte und erste Ansätze kommunikativer Beredsamkeit offenbarte, hatte dies direkte Rückwirkungen auf die Vernetzung seines Denkapparats und Auswirkungen auf die Verschmelzung von Geist und Bewusstsein. Vor allem aber wurde dadurch die Ausprägung des Ich-Bewusstseins beeinflusst. Es kam zu einem synergetischen Effekt, den man getrost als den bedeutendsten der Menschheitsgeschichte bezeichnen darf: Der denkende Mensch überdachte zum ersten Mal ganz bewusst sein Denken und Handeln. Das von dem französischen Philosophen René Descartes im 17. Jahrhundert postulierte berühmte Diktum „cogito ergo sum“ („Ich denke, also bin ich“) hatte Homo erectus bereits vor Jahrmillionen verinnerlicht, wenngleich natürlich nicht auf derart subtile Weise.

Mobil und geschickt

Aus welchem Winkel Afrikas dieser neue Menschentyp damals kam, ob ein Vorgänger von Homo habilis oder Homo rudolfensis selbst (dieser lebte vor 2,5 bis 1,8 Millionen Jahren in Afrika) oder eine andere Art sein direkter Vorfahr war, bleibt ein Geheimnis, das er mit seinem Aussterben vor gut 40.000 Jahren mit ins Grab genommen hat. Auf jeden Fall zeugen Knochenrelikte in Kenia, Java („Java-Mensch“), Äthiopien und am Stadtrand von Peking („Peking-Mensch“) davon, dass der frühe Homo erectus, oft auch Homo ergaster genannt, bereits vor 2 bis 1,5 Millionen Jahren mehr an der Mobilität Gefallen gefunden hat als seine sesshaften Urahnen.

Von der Statue kräftiger als ein durchschnittlicher Vertreter unserer Epoche und ausgestattet mit einer maximalen Körpergröße von 180 Zentimetern, lebte das fremdartige Äußere des Homo erectus in erster Linie von seinen Augenwülsten und seiner steilen Stirn, dem breiten, leicht platten Gesicht und flachem Kopf. Auch der späte afrikanische und asiatische Vertreter dieser Art, der vor 1,5 Millionen bis 300.000 Jahren sein Glück in der Ferne suchte – von ihm fand man Fossilienreste in Südafrika, Kenia, China, Israel, Indien und Vietnam – hätte in jedem heutigen Schönheitswettbewerb fraglos schlechte Karten gehabt. Immerhin hätte er aber damit punkten können, als Einziger mit primitivsten Mitteln ein Feuer anzuzünden oder auf die Schnelle eine Handaxt zu produzieren.

Listiger und pfiffiger Waidmann

Hand auf Herz – wer von uns vermag denn noch ohne Feuerzeug oder Zündhölzer ein Kamin- oder Lagerfeuer kunstgerecht zu entfachen, von der Herstellung eines Faustkeils einmal ganz abgesehen. Homo erectus, der Vorfahr unseres Vorfahren, hätte sich über unsere kläglichen Bemühungen gewiss köstlich amüsiert, ganz zu schweigen von unseren unterentwickelten Qualitäten als Jäger und Sammler. In dieser Hinsicht hätte der europäische Homo erectus, der Homo heidelbergensis, der zwischen 800.000 v. Chr. bis 40.000 v. Chr. unter anderem im heutigen Frankreich, England, Spanien und Deutschland lebte, noch mehr Grund zum Schmunzeln gehabt, war er doch ein listiger Waidmann, der noch in klassischer Indianermanier mit Faustkeil, Spieß und Dolch auf die Pirsch ging, die seinerzeit immer mehr in eine Großwildjagd ausuferte.

Unterwegs in größeren Gruppen, entwickelten die archaischen Jäger mit den Jahren immer ausgeklügeltere Jagdtechniken, die darin gipfelten, dass sie in gemeinsamer Anstrengung mit Holzspeeren und Knochenlanzen Großwild wie Nashörner, Flusspferde oder Elefanten, ja sogar Löwen und andere Raubtiere erfolgreich erlegten. Im Vergleich zum Homo habilis, der bereits vermehrt Wild konsumierte, gefiel sich Homo erectus in der Rolle des exzessiven Fleischessers, aber weniger in der des ausgewiesenen Gourmets. Alles, was ihm vor die Lanze kam, fand als gebratenes Mahl kulinarische Verwendung und Vollendung. Angesichts der aufgetischten Innereien, des Fetts und Muskelfleischs wären bei den urzeitlichen lukullischen Gelagen überzeugte Vegetarier mitnichten auf ihre Kosten gekommen.

Grenzenloser Fleischkonsum mit Folgen

So wenig appetitlich die Speisen anno dazumal aus unserer Sicht gewesen sein mögen, so sehr war ihre Zusammenstellung für den Fortgang der menschlichen Evolution von zentraler Bedeutung. Schließlich wurde durch die drastische Proteinzufuhr das Gehirnvolumen von Homo erectus immer größer, viel größer als das des ebenfalls fleischverliebten Homo habilis. Der permanente Verzehr von tierischem Eiweiß bescherte Homo erectus ein Gehirn von 1100 bis 1300 Kubikzentimeter Volumen (zum Vergleich: Homo sapiens wird später 1450 Kubikzentimeter besitzen). Es ist ebendieser maßlose Verbrauch von Fleisch, der die materiellen Grundlagen für die Ausbildung des menschlichen Bewusstseins legt. Hätten sich Homo erectus & Co. ausschließlich dem Genuss von Pflanzen und Obst verschrieben, würden wir möglicherweise noch heute mit Pfeil und Bogen nach unseren Mittagsbraten jagen.

Dass es nicht dazu gekommen ist, verdanken wir zu guter Letzt auch der fortschrittlichen Klingentechnik des Homo erectus. Immerhin weisen 1,5 Millionen Jahre alte Faustkeile, wohl die ersten ihrer Art, bereits perfekte Symmetrien auf. Sie sind das Resultat einer bewussten, geplanten und überlegten Handlung, bei der gezielt auf eine bestimmte Form hingearbeitet wurde. Gleiches gilt für jene 400.000 Jahre alten Holzspeere, die Forscher im Braunkohletagebau von Schöningen (Niedersachsen) ausgegraben haben. Diese aus Fichtenholz gefertigten 2,5 Meter langen Speere mit ihrer kantigen doppelseitigen Spitze bewährten sich bei der Großwildjagd aufs Beste. Insofern war die permanente Proteinzufuhr für das wachsende Gehirn des Homo erectus garantiert.

Sprache als Schlüssel zum Aufstieg

Dass Homo erectus bereits vor 1,8 Millionen Jahren, also zu Beginn des Alt-Paläolithikums, organisch in der Lage war, sich mit Worten ansatzweise zu verständigen, belegt ein fossiler Schädel aus der gleichen Zeit, auf dessen Innenseite ein deutlicher Abdruck zu sehen ist, der auf ein gut entwickeltes Broca-Zentrum hinweist. Diese Gehirnregion bildet neben dem Wernicke-Areal das eigentliche Sprachzentrum des frühen und des heutigen Menschen. Gewiss, ausgefeilte Formulierungen mögen Homo erectus anfangs noch nicht über die Lippen gekommen sein, dafür war sein Wortschatz zu begrenzt.

Schädel eines Australopithecus afarensis-Kindes. Vor 3,3 Millionen Jahren starb ein 3-jähriges Mädchen in der Region Dikika im heutigen Äthiopien. Sein fast vollständig erhaltenes Skelett gab den Forschern bereits 2006 einen einmaligen Einblick in unsere Vergangenheit. Sprechen konnte es gleichwohl – wie seine unbekannten Eltern – noch nicht. Näheres hierzu: Informationsdienst Wissenschaft. Bild: National Museum of Ethiopia, Addis Ababa/idw

Immerhin jedoch bemühte Homo erectus sein anatomisch „sprachfähiges“ Zungenbein, um Gedachtes in Worte zu kleiden und Gegenstände des Alltags zu spezifizieren – besser und genauer als Homo habilis. Die Naturlaute, Töne und Wörter, die dabei entstanden, haben natürlich mit Lyrik, Prosa und Grammatik nichts gemein; dennoch legen sie die sprachlichen Grundsteine, die später andere Hominiden aufsammelten, ausfeilten und zu guter Letzt perfektionierten.

Die Entwicklung der Sprache ist ein markantes Beispiel dafür, dass in der Evolution des Menschen keine blinde Gen-Lotterie über das Werden und Vergehen entschied. Auch wenn alle Hominidenarten natürlich hin und wieder von zufälligen Mutationen profitierten und das ungeschriebene Darwin’sche „Survival-of-the-fittest-Gesetz“ (diesen Begriff prägte jedoch nicht Darwin, sondern der englische Philosoph und Soziologe Herbert Spencer 1864) seine selektive Kraft immer wieder offenbarte, so wurde doch die Entwicklung des Menschen durch seine kulturelle Leistungen geprägt. Anstatt darauf zu warten, bis neue Mutationen die eigene Zukunft positiv beeinflusste, nahm der Urmensch sein Schicksal selbst in die Hand und passte sich mit Geist, Technik und Überlebenswillen der sich verändernden Umwelt optimal an.

Plastik bzw. Nachbildung eines fiktiven Vertreters der Hominidenart Homo habilis. Bild: Fotografiert im Westfälischen Museum für Archäologie (Herne) von Lillyundfreya. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Homo neanderthalensis

Ein Paradebeispiel hierfür ist sicherlich Homo neanderthalensis, der 1856 in der Nähe von Düsseldorf-Mettmann entdeckte klassische Urmensch schlechthin. Auch wenn seine zahlreichen Kontakte zum aufstrebenden Homo sapiens im damaligen Europa langfristig gesehen eher Letzterem zugutekamen als ihm selbst, schaffte er es immer wieder, sich dem damals häufig wechselnden Klima anzupassen. Wie DNA-Analysen ergaben, war Homo neanderthalensis als Vertreter einer aussterbenden Art noch nicht einmal ein direkter Vorfahr des heutigen Menschen. Als er vor 130.000 Jahren aus dem Dunkel der Geschichte in Afrika auftaucht und kurz danach auf dem asiatischen und europäischen Kontinent Fuß fasst, beginnt ein hunderttausendjähriges Erfolgsmodell. Obwohl sich Neanderthaler und Homo sapiens vermischt haben, stirbt der Letzte seiner Art vor circa 25.000 Jahren aus. Die Gründe hierfür sind immer noch völlig unklar. Jedenfalls war der Neandertaler aufgrund seiner Intelligenz und Kreativität ausgesprochen erfolgreich. Er pflegte bereits einen Totenkult, produzierte Schmuck und verfügte über hervorragendes Werkzeug und effektive Jagdwaffen. Mehr noch: Er war mit Bewusstsein und Sprachintelligenz gesegnet.

Im Mai 2010 veröffentliche ein Forscherteam unter der Leitung von Svante Pääbo, Direktor der Abteilung für Evolutionäre Genetik des Max-Planck-Institutes für evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Fachmagazins „Science“ eine erste Version der Genomsequenz des Neandertalers. Die Grundthese der Studie fasst Svante Pääbo, der auf dem vorliegenden Bild einen Neandertalerschädel in der Hand hält, in einem Satz zusammen: „Neandertaler haben sich wahrscheinlich mit frühen modernen Menschen vermischt bevor Homo sapiens sich in Europa und Asien in verschiedene Gruppen aufspaltete.“ Bild: idw/Frank Vinken

Wie Genetiker des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig 2007 herausfanden, besaß der Neandertaler die gleiche Variante des Sprachgens wie der moderne Mensch. Tatsächlich sind bei beiden das einzige bislang bekannte für die Sprache zuständige Gen, ein Erbgutabschnitt namens FOXP2, vollkommen identisch. Homo neanderthalensis brachte also zumindest die genetischen Voraussetzungen mit, über Gott und die Welt zu parlieren. Ob er es jemals wirklich getan hat, bleibt eines dieser Rätsel in der Geschichte der Menschheit, auf das es keine Antwort gibt.