"Die Jugendlichen müssen sich doch schlichtweg veralbert vorkommen"

Nach 15 Jahren Ausbildungsplatzkrise wischt der Petitionsausschuss des Bundestages mit einem Federstrich eine der größten Petitionen der vergangenen Jahre vom Tisch und verwehrt den Petenten sogar das Recht auf eine Anhörung zur Sache

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Die so genannte "dritte Ausbildungsplatzkrise" dauert nun bereits seit 1995 an. Alle Vereinbarungen zwischen Wirtschaft und Politik sowie Notprogramme der Regierungen blieben bisher weitgehend wirkungslos. So waren bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends weit über eine Millionen Jugendliche unter 29 Jahren ohne Berufsausbildung - und es wurden immer mehr.

Grafik: DGB

Eine deswegen von vielen Landesschülervertretungen und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) im Jahr 2006 begründete Initiative zur Verankerung des Rechts auf Ausbildung im Grundgesetz brachte nach vielen Demonstrationen und anderweitigen Aktionen im Mai 2008 schließlich eine Petition mit 72.554 Unterschriften in den Deutschen Bundestag ein und forderte die Regierenden auf, endlich tätig zu werden: Gemäß Sozialstaatsgebot, Bundesverfassungsgerichtsurteilen und immer größer werdender Nöte von immer mehr Jugendlichen im Lande müsste statt Lippenbekenntnissen und Notprogrammen endlich ein auswahlfähiges Ausbildungsplatzangebot her.

Über zwei Jahre geschah nichts. Dann, Mitte Oktober 2010, meldete sich der Petitionsausschuss des Bundestages bei den Petenten und teilte sinngemäß mit: Die von ihnen geschilderten Probleme existieren gar nicht, darum wurde die Petition soeben abgelehnt. Gestern hat die Initiative eine Öffentliche Stellungnahme zur Ablehnung der Petition für ein Grundrecht auf Ausbildung veröffentlicht.

Telepolis sprach mit Helmut Weick, einem der Koordinatoren des Bündnisses gegen Ausbildungsplatzmangel und Jugendarbeitslosigkeit sowie Mitherausgeber des Buches Ausbildung für Alle! Auswege aus der Ausbildungskrise.

Herr Weick, was halten Sie von dieser Antwort des Petitionsausschusses?

Helmut Weick: Sie ist völlig inakzeptabel! Nachdem die Petition über zweieinhalb Jahren verschleppte wurde, kam es im Herbst 2010 auf der Grundlage eines Votums der Berichterstatter der Bundestagsfraktionen zur abschließenden Beratung. Das mit Regierungsmehrheit von CDU/CSU und FDP beschlossene Votum des Petitionsausschusses als Beschlussempfehlung für den Bundestag lautete:

Vor diesem Hintergrund sieht der Petitionsausschuss die gemeinsamen Anstrengungen von Bundesregierung und Wirtschaft im Ausbildungspakt als erfolgreich an; Anlass für parlamentarische Initiativen im Sinne der Petition besteht daher nicht. Der Petitionsausschuss empfiehlt, das Petitionsverfahren abzuschließen.

Schreiben des Petitionsausschusses an die Petenten vom 13.10.2010

Alle Anträge der Oppositionsmitglieder von SPD, Linken und Grünen im Ausschuss zur Weiterleitung der Petition an die Fraktionen, den Bundestag und die Bundesregierung, ob zur "Kenntnisnahme", zur "Berücksichtigung" oder auch "als Material", wurden im Petitionsausschuss regierungsmehrheitlich abgelehnt.

So wurde das Anliegen von über zweiundsiebzigtausend jungen Menschen, jedem Jugendlichen eine qualifizierte Ausbildung zu ermöglichen, dann auch am 30. September 2010 vom Bundestag rein machtpolitisch mit den Stimmen der Regierungsmehrheit abgebügelt und in den Papierkorb befördert.

Ist denn an der Behauptung nichts dran, dass das Problem inzwischen geringer geworden ist?

Helmut Weick: Nein, keineswegs. Der so genannte Ausbildungspakt ist ja kaum mehr als heiße Luft: Diese Vereinbarung zwischen Politik und Wirtschaft gibt es seit dem Jahr 2004. Nach wie vor finden aber jährlich hunderttausende Jugendliche keinen Ausbildungsplatz. Die vermeintlich "neuen" Ausbildungsplätze sind in der Regel welche, die zuvor an anderer Stelle weggekürzt worden sind – und kaum je "zusätzliche".

Allein am 30. September 2010 fehlten wieder 126.000 Ausbildungsplätze! Fast jeder zweite Bewerber wartet inzwischen mindesten ein Jahr auf einen Ausbildungsplatz. Über 400.000 Jugendliche befinden sich im so genannten Übergangssystem, also in einer "Warteschleife" auf einen Ausbildungsplatz. Nur 23 Prozent der Betriebe bilden überhaupt noch aus, obwohl alle Betriebe ausgebildete Fachkräfte nutzen wollen. Inzwischen gibt es mehr als 1,5 Millionen junge Menschen unter 29 Jahren ohne Berufsausbildung.

Die Schlagzeilen sind seit einem Jahrzehnt dieselben. Da heißt es einmal "Zehntausende Ausbildungsplätze fehlen", dann 5 Jahre später etwa "Ausbildungsplätze fehlen auch in den nächsten fünf Jahren", und schließlich heute, erneut 3 Jahre später, titeln die Blätter mit "106.000 Lehrstellen fehlen". Und was geschieht? Unverantwortlich wenig bis nichts!

Grafik: DGB

Das klingt, als wären Sie ziemlich wütend.

Helmut Weick: Ja, das bin ich allerdings. Und nicht nur ich. Sie müssen sich das einmal vorstellen: Unsere Petition wurde getragen und unterstützt von unter anderem den Landesschülervertretungen der Bundesländer Bayern, Berlin, Hamburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Schleswig-Holstein, vom Deutschen Gewerkschaftsbund, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der Jugend der Industriegewerkschaft Metall, Elternvertretungen, vielen Landesjugendringen, der Christlichen Arbeiterjugend Deutschlands, der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland und vielen, vielen anderen. Noch breiter kann ein Bürgerbegehren kaum aufgestellt sein. Wie aber reagiert die Mehrheit im Petitionsausschuss? Sie schmettert die Petition einfach mit der Begründung ab, es gebe keinen Handlungsbedarf.

Diese Beschlussempfehlung verunglimpft meiner Meinung nach das Anliegen all derjenigen, die sich in einer der größten Petition der vergangen Jahre, zum Themenbereich Bildung bzw. Ausbildung sogar mit der größten Petition in der Geschichte der BRD, für ein Grundrecht auf Ausbildung ausgesprochen haben. Eine öffentliche Anhörung wie bei Petitionen dieser Größenordnung üblich und möglich, wurde verweigert. Missstände bei der Berufsausbildung wurden in der "Empfehlung" einfach schöngeredet oder verschwiegen. Wichtige, dem Petitionsausschuss vorgelegte und angeführte Studien, Expertisen, Gutachten und Urteile des Bundesverfassungsgerichtes wurden ignoriert.

Allein vor dem Hintergrund der erschreckenden Faktenlage zur Situation der Berufsausbildung, ihrer Bedeutung für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, ist die Behandlung und Ablehnung der Petition völlig inakzeptabel. Die Jugendlichen müssen sich doch schlichtweg veralbert vorkommen.

Gradik: Böckler Institut

Wie sieht Ihre Alternative zum regierungsamtlichen Ausbildungspakt denn aus?

Helmut Weick: Letztlich wird es nur mit einem verbindlich festgeschriebenen und einklagbaren Rechtsanspruch auf Ausbildung möglich sein, jederzeit, also auch unabhängig von der konjunkturellen und demografischen Entwicklung, für alle Jugendliche ein auswahlfähiges Ausbildungsplatzangebot sicher zu stellen.

Die praktische Umsetzung eines Rechtsanspruches erfordert allerdings auch eine finanzielle Absicherung, die sich vorteilhaft mit einer gesetzlichen Umlage, die alle Betriebe an der Ausbildung beteiligt, realisieren lässt. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Jahr 1980 eröffnet dazu den erforderlichen Handlungsspielraum. Für den Fall fehlender Ausbildungsplätze wird darin der Auftrag an den Gesetzgeber deutlich formuliert, denn das Verfassungsgericht stellt die gesellschaftliche Ausbildungsverpflichtung der Unternehmer fest und spricht dem Staat ausdrücklich das Recht zu, mit einer Berufsausbildungsabgabe auf eine genügende Zahl Ausbildungsplätze hinzuwirken.

Was die juristische Seite des Rechts auf Ausbildung angeht, lässt sich insgesamt aus verschiedenen Studien, Expertisen, Gutachten und Urteilen schlussfolgern:

  1. Es ist möglich, einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Ausbildung im Grundgesetz festzuschreiben.
  2. Der Gesetzgeber, Bundestag und Bundesrat, ist geradezu aufgefordert zu handeln, um Vorgaben aus dem Grundgesetz, aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes (insb. dem Urteil aus dem Jahr 1980) und aus Verträgen mit der EU und der UN in die Praxis umzusetzen.

Und wie soll es nun weitergehen – bleibt der Rechtsanspruch auf Ausbildung nach wie vor Bündnisziel?

Helmut Weick: Ich denke ja! Denn ohne ein Recht auf Ausbildung wird das Lehrstellenproblem nicht zu lösen sein. Wir werden mit einer Beschwerde den Petitionsausschuss und die Bundestagsabgeordneten mit der inakzeptablen, rein machtpolitischen Ablehnung der Petition konfrontieren. Selbstverständlich gehen wir mit dem Skandal aus dem Petitionsausschuss nun auch in die Medien. Und natürlich wird der Protest mit weiteren Aktionen auch weiter auf die Straße getragen.

Die Ablehnung der Petition hat aber auch gezeigt: Der Spielraum, das Bündnisziel, ein soziales Grundrecht durchzusetzen, scheint in der marktwirtschaftlichen Verfasstheit der BRD möglicherweise zu eng zu sein. Insofern wird es auch darauf ankommen, die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt dahingehend zu verändern, dass das, was in jeder vernünftig organisierten Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit wäre, umfassende Bildung und Ausbildung für alle, baldmöglichst Wirklichkeit wird.