Orte prägen, Identität schaffen - und hinterfragen

"A subway è chiù sicura" von Perino & Vele (Neapel, Metro-Station Salvator Rosa)

Zur Wechselwirkung von Kunst und Raum

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Kunst wird heute allenthalben goutiert und hofiert, auch postuliert. Vernissage reiht sich an Vernissage, jeweils gut besucht, und längst nicht nur von entsprechend vorgebildetem Publikum. Glaubhaft scheint Kunst zu versprechen, dass die Routine durchbrochen, die Augen erneut geöffnet, die Palette der Ideen wieder angereichert werden. Entsprechend positiv ist sie besetzt. Was dazu führt, dass fast jede bildnerische Ambition oder Äußerung zur Kunst stilisiert wird.

Aber all dies findet zumeist in geschlossenen Räumen, in Museen, Galerien oder Industriehallen statt, zudem in vorab fixierten Ausstellungszeiten, die nach vier, sechs oder zehn Wochen enden, im übrigen auch in dieser Periode nur stundenweise zugänglich sind. Kunst und Raum meint also etwas anderes, weniger reglementiertes, weniger in die Konventionen unserer zeitgenössischen Gesellschaft eingestelltes Schaffen und Rezipieren.

Von Mimmo Paladino gestaltete U-Bahn Station in Neapel, im Rahmen der "Stazioni dell'Arte"

Es geht, abstrakt gesprochen, darum, wie und mit welchen Mitteln die Gesellschaft im (städtischen) Raum heimisch wird. Freilich muss jedesmal genau analysiert werden, was gemeint ist, wenn heutzutage von der Abschaffung der Grenze zwischen Kunst und Leben die Rede ist - von der Überwindung beziehungsweise Erweiterung des Kunstsystems, vom Ausbruch aus der Enge der musealen Räume und vom Streben nach Akzeptanz beim größeren, demokratischen Publikum. Was aber unter dem Begriff "Leben" verstanden wird oder zu verstehen sei, bleibt weithin offen. Dennoch – oder gerade deshalb – wäre es fatal, Kunst ausschließlich als Frage des Geschmacks anzusehen.

Raum beinhaltet auch eine identitäre Kategorie; Raum verdichtet sich zu Orten, mithin zu Heimat. „Die soziale und sozialpsychologische Beziehung zu einem Ort“, so Detlev Ipsen, „ist nicht nur für viele Menschen von Bedeutung, sondern auch für die Entwicklung der Orte selbst. Die Verbindlichkeit, mit der sich Handlungen auf einen Raum beziehen, hängt von dem realen und symbolischen "Ortsbezug" ab. Auf diese Weise entwickeln sich lokale Milieus, die ihrerseits die Entwicklung des Ortes bestimmen.“ Die Stadt ist eine zeitliche und räumliche Schichtung, die den unterschiedlichen Formen gesellschaftlichen Lebens einen spezifischen Platz einräumt. Jede zu erwartende gesellschaftliche Entwicklung wird sich deshalb immer auch in der Struktur des urbanen Organismus’, im Plan der Stadt, in der Gestaltung des Quartiers und seiner Räume abbilden.

Der Kunst kann dabei eine entscheidende, wiewohl häufig unterschätzte, mitunter gar ungeliebte Bedeutung zukommen. Bleibt natürlich die Frage, vermittels welcher Strategien solche Potentiale zur Geltung gebracht werden können. Nun ist aber das menschliche Sensorium für die vergleichsweise labyrinthischen Verhältnisse der räumlichen Umwelt nicht ohne weiteres konditioniert. Auch hat Raum viel mit Erinnerung und Gewöhnung zu tun. Und er wird eher in zerstreuter Gewöhnung aufgenommen denn in konzentrierter Aufmerksamkeit.

Ohnehin muss man von der Illusion Abstand nehmen, dass Kunst dem Betrachter ein geschlossenes, fest umrissenes Bild liefern müsse, das er mit einem Blick konsumieren kann. Auf den verschiedenen Maßstabsebenen des Raums spielt Kunst eine je unterschiedliche Rolle, was allein schon verbietet, von einem konsistenten Rahmen zu sprechen. Zur Präzisierung unseres Gesprächsgegenstandes sollen nun im folgenden zwei Annahmen gelten:

  1. Die Diskussion beschränkt sich auf die Kunst im öffentlichen, urbanen Raum, jedoch nicht bloß auf Kunst-am-Bau- oder Stadtbild-Ebene.
  2. Kunst wird nicht gegen Ökonomie, Planung usw. ausgespielt, sondern als notwendiger Komplementär verstanden. Man kann nicht nicht gestalten, d.h. auch die Nicht-Gestaltung des Raumes ist eine gestalterische Aussage, eine Art negativer Intervention.

Autonomie und Kontext

Der grösste Moment eines Kunstwerks im öffentlichen Raum sei sein Abtransport, mokierte sich der deutsche Künstler Jochen Gerz vor einiger Zeit über das oft klägliche Dasein der im Stadtraum aufgebauten Kunst. Wie sehr sich diese sarkastische Übertreibung einmal zu einer positiven Zukunftsvision auswachsen könnte, war dem im öffentlichen Raum erprobten Kulturarchäologen Gerz vermutlich Anfang der Neunziger noch nicht zur Gänze bewusst. Wobei Gerz schon seinerzeit die Imagination einer neuen Leere in der Stadt mit dem Verschwinden vorhandener Kunstwerke gleichsetzte.

Mehr und mehr werden heute Stimmen laut, die eine kritische Überprüfung oder zumindest pflegliche Wartung der bis dato in unseren Städten angesammelten Kunstwerke fordern. Hier wäre jene Entdeckung ins Spiel zu bringen, die sich Ivan Illich zuschreiben lässt, dass nämlich Objekte in sich inhärent Eigenschaften mit gesellschaftlichem Charakter haben. Und das bedeutet in der Konsequenz: Es gibt Dinge, die den sozialen und/oder kulturellen Zusammenhalt befördern, und es gibt Dinge, die die Isolation hervorbringen. Was nicht minder für die Kunst gilt.

„Verlust der Mitte“ hat der konservative Kunsthistoriker Hans Sedlmayr die vom bürgerlichen Individualismus seit dem Beginn der Renaissance Schritt um Schritt aufgegebene Idee der Ganzheit genannt. Wo die Vorstellung eines Verwobenseins in größere Zusammenhänge nicht mehr allgegenwärtig ist, kann ihre Spiegelung oder Nichtspiegelung in den kulturellen Schöpfungen des Menschen auch nicht mehr als wohltuend oder schmerzhaft empfunden werden. Für die Gestaltung öffentlicher Räume mittels Kunst gilt insoweit nichts anderes als für alle anderen menschlichen Bemühungen auch. Verlust der Mitte bedeutet in seinem Sinne insbesondere den Verlust der Chance, aus einem konzentrationsfördernden räumlichen Ensemble heraus zu einer (um es pathetisch zu sagen) geistig-gesellschaftlichen Mitte zu gelangen - zu jener Mitte also, aus der allein die normative Kraft zur Auslotung der Grenzen legitimer Selbstentfaltung erwachsen kann. Zu jener Mitte also auch, die die Demokratie aus dem öffentlichen Diskurs zu gewinnen hofft. Öffentliche Räume aber, in denen bloße Subsistenz-Funktionen wie Handel, Versorgung und Verkehr die Akzente setzen, erfüllen diese Voraussetzungen nicht.

Kurz nach seinem Amtsantritt als Kulturdezernent in Frankfurt/Main artikulierte Hilmar Hoffmann diesbezüglich eine recht prononcierte Auffassung, indem er im Amtlichen Mitteilungsblatt der Stadt Frankfurt vom 21.November 1970 definierte: „Kultur ist das, was zur Humanisierung der Städte beiträgt, im denen wir unsere Zukunft einrichten.“ Der öffentliche (städtische) Raum wurde seinerzeit zum gewichtigen Aktionsfeld der Kultur (erklärt). In der Diskussion um die Demokratisierung von Kunst, der kritischen Ausgestaltung der Stadt und der Initiierung von kritischem Bewusstsein bildeten sich in der Ära nach 1968 drei zentrale Thesen aus, die verschiedene Reformvorstellungen repräsentieren:

  • (1) Die Kunstausstellung im öffentlichen Freiraum als Demokratisierung von Kunst: Der elitäre Charakter von Kunst liege weniger in ihren Äußerungsformen, sondern vielmehr in ihrer Präsentationsweise. Deshalb sei der öffentliche Raum als Ausstellungsort den traditionellen Galerie- und Museumsräumen vorzuziehen; denn erst der öffentliche Raum ermögliche die öffentliche Aneignung von Kunst.
  • (2) Das Stadtbild lässt sich durch eine künstlerische Ästhetisierung des öffentlichen Raumes positiv verändern: Kunst sei ein mögliches Instrument konkreter Umweltgestaltung im Sinne einer Ästhetisierung des gebauten menschlichen Lebensraumes. Die optischen Defizite der gebauten Umwelt seien durch Kunst behebbar; darüber hinaus setze das Formaltypische des Einzelkunstwerkes im städtischen Raum Akzente und schaffe damit Identifikations- und Orientierungswerte für die Bewohner.
  • (3) Öffentliche Kunstaktionen stimulieren öffentliche Kommunikation und wirken damit bewusstseinsbildend: Der prozessuale Aspekt des Kunstwerkes in Form seiner öffentlich-handwerklichen Herstellung durch den Künstler wie in Form seiner Entwicklung durch die Bürger selbst unter Moderation des Künstlers provoziere Kommunikation in der Öffentlichkeit.

Diese Thesen lassen sich zwar retrospektiv - etwa folgendermaßen - relativieren:

  • (zu 1) In einer demokratischen Gesellschaft mag dieser Anspruch richtungsweisend sein; doch haftet ihm eine gewisse Naivität an, weil er außer acht lässt, dass das Kunstwerk im Sinne einer symbolischen Gestalt als Kunstwerk nur für denjenigen existiert, der die Mittel besitzt, es sich anzueignen, d.h. der über den Code verfügt, es zu entschlüsseln. Die Abwehrhaltung, die viele betroffene Bürger an den Tag legen, ist insofern nachvollziehbar, als sie in der Unkenntnis des speziellen Codes denjenigen anwenden, der für die alltägliche Wahrnehmung und damit für Entschlüsselung der vertrauten Eindrücke gilt.
  • (zu 2) Inwieweit das Stadtbild sich durch Kunstwerke "bereichern" lässt, kann ohne eine sehr fundierte und sicher problematische Rezeptionsanalyse nicht bestimmen werden.
  • (zu 3) Statt schlicht die Objekte als Ewigkeitswerte in die urbane Landschaft zu setzen, sollten die Sehgewohnheiten der breiten Bevölkerung aufgenommen werden; doch steht dem zumeist das historische Selbstverständnis des Künstlers entgegen, als Genius vornehmlich die "Verständigen", also eine Elite, ansprechen zu wollen.

Aber es sind letztlich Thesen wie diese, die in der Diskussion über mögliche Funktionszuweisungen und Perspektiven von Kunst und Raum unumgänglich sind, um den grundsätzlichen theoretischen Rahmen realistisch zu markieren. Zugleich müssen zumindest folgende Fragen zum Verhältnis "Kunst und Raum" aufgeworfen und beantwortet werden: Warum, mit wem, für wen, und wie?

Der Frage "Warum?" lässt sich vielleicht mit der These begegnen: Kunst im Raum kann unter den bestehenden Verhältnissen nicht davon ausgehen, (bereits) einen wichtigen Stellenwert im Bewusstsein der Menschen einzunehmen. Wesentliche pädagogische Intention der künstlerischen Praxis sollte es deshalb sein, die ästhetische Verbesserung des Lebensraumes als gesellschaftspolitische Notwendigkeit für humane Existenz zu verdeutlichen.

Nach dem "Mit wem?" gefragt, könnte die Antwort lauten: Urbane Kunst darf nicht als isolierte Einzelaktivität betrieben werden, vielmehr sollte sie in enger Verflechtung mit städtebaulichen, architektonischen und sozialen Maßnahmen der konkreten und/oder emotionalen Verbesserung der Lebenssituation von Menschen dienen.

Zur Frage "Für wen?" vielleicht folgende These: Kunst im Stadtbild kann nicht von dem Anspruch ausgehen, für alle schlechthin verständlich und wichtig zu sein; sie muss deshalb zielgruppenspezifisch betrieben werden und sich an den bestehenden unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen und Interessen orientieren.

Und schließlich als hypothetische Antwort auf die Frage "Wie?": Kunst im Raum sollte grundsätzlich an den verschütteten Bedürfnissen nach Ausbildung von Identität und Selbstverwirklichung ansetzen. Also geht es vorrangig um Kunstformen, die sich an den Defiziten heutiger Lebensräume im Hinblick auf die Benutzer definieren - und darauf reagieren.

Die mögliche Leistung der bildenden Künste und ihre gesellschaftliche Bedeutung liegen in ihrer Medienspezifik und in ihrer Geschichte begründet. Insoweit bildende Kunst als Medium der Auseinandersetzung über Wahrnehmungsweisen und Denkinhalte dazu beiträgt, dass Erfahrung nicht nur flüchtig und individuell erlebt, sondern kollektiv aufgenommen und historisch – weil für die Geschichte fixiert – verarbeitet wurde und wird, insoweit diese bildende Kunst also Bedeutungsfunktion erfüllt, hat sie wie die Erstellung differenzierter Wahrnehmungsfelder zur Ausbildung von Atmosphäre in ästhetisch verarmten Bereichen einen gesellschaftlichen Charakter.

Geringe Halbwertszeiten?

„Kunst für alle“ bleibt dennoch eine Fiktion. Zudem ist heute mit der seit Jahrzehnten fortgeschrittenen künstlerischen Ausstaffierung der urbanen Orte zugleich das lange geflissentlich ignorierte und zweifellos urheberrechtlich heikle Problem der Entsorgung von Kunstwerken gegeben. In diesem Zusammenhang hat Birgit Sonna jüngst an einen Vorfall erinnert, der gerade in seiner Skandalisierung die Dimensionen deutlich macht: Als sich der Kasseler Oberbürgermeister vor etwa fünf Jahren der zum städtischen Schmuddelobjekt verkommenen "Documenta"-Treppe des Landschaftsplaners Gustav Lange zu entledigen suchte, gab es ein von den Medien hysterisch verfolgtes Gefecht zwischen vermeintlichen Kunstkonservatoren und um das Stadtbild besorgten, selbsternannten Kunstrichtern. Lange erwirkte gegen die nach endlosem Hickhack vor Gericht entschiedene Entfernungserlaubnis seiner ramponierten und überdies seit je wenig geliebten Treppe eine einstweilige Verfügung. Davon ließ sich allerdings der auf Wählerstimmen erpichte Oberbürgermeister nicht beeindrucken. In einer Nacht- und Nebel-Aktion rückte er der verächtlich als "Elefantenklo" bezeichneten Treppe mit einem Trupp von Sägeleuten zu Leibe und signierte die Holzteilchen im Anschluss triumphierend vor aller Augen. Das Ende des Streitfalls: Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen schwerer Untreue, die Spitze der Stadtverwaltung wurde zu Bußgeldern verdonnert, und an den Künstler gingen zur eleganten Bereinigung des Zivilrechtsverfahrens 50.000 Mark aus einem privaten Spendentopf.

Durch ressentimentbeladene Vorgänge wie diese wird deutlich, dass das landauf, landab seit Jahrzehnten vermehrt Inventar an Kunst des öffentlichen Raums dringlich einer schrittweisen Revision bedarf. Die mögliche Verfallszeit der Kunst im öffentlichen Raum hängt nicht nur von der jeweiligen Qualität der Kunstwerke beziehungsweise von ihrer mehr klassischen oder zeitgeschmäcklerischen Ausrichtung ab, sondern auch von dem Tempo des urbanistischen Wandels. Denn in einem zunehmend transitorischen Umfeld läuft auch die Kunst Gefahr, früher oder später ihr kontextuelles Auffangnetz zu verlieren. Und dies gilt nicht nur für künstlerische Arbeiten und Interventionen, die ursprünglich nach den Prämissen der Site-Specifity entsprechend historischen, alltäglichen architektonischen Gegebenheiten erfolgt sind.

„Das Wort 'Gestalt'“, so formulierte vor vielen Jahren der Soziologe Lucius Burckhardt, „macht uns Deutschsprachige so rasch keiner nach. Es sagt sehr viel und verschleiert noch mehr. Seine implizite Behauptung, "das Ganze sei mehr als die Summe seiner Teile", ist fruchtbar, verschweigt aber, daß die Addition der Teile zu diesem Ganzen nicht naturwüchsig ist, sondern ein gesellschaftlicher Akt, ein Akt, in welchem sich Geschichte und Kultur, Herrschaft und Bildung spiegeln.“ Verschleierung, Revision, Hinterfragung, Aneignung und auch Ablehnung: All das sind Attribute, die konstitutiv sind für das Verhältnis von Raum und Kunst.

Ein vorher unbekanntes Vorstoßen in bildnerisches „Neuland“ überfordert einen Großteil der Bevölkerung, die aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Erziehung und Bildung nicht in der Lage ist, die sehr verschlüsselte Botschaft einer bestimmten "Kunst im Raum" zu verstehen und sich mit ihr zu identifizieren. Dieser Zustand verstärkt die Neigung, ausschließlich problemlose Bildangebote zu akzeptieren, die mit ihren sentimentalen und idyllischen Motiven als kulturelle Massenproduktion zu Tausenden auf den Markt geworfen werden. Und diese Neigung ist auch der Politik zu eigen.

Epoche des Raums

Von höherer Abstraktionsebene ergibt sich indes ein etwas anderer Blick. Nach einem Jahrhundert, das von einer Kultur der Zeit mit ihren Beschleunigungsphänomenen geprägt war, scheint im 21. Jahrhundert, zumindest nach Aussage von Michel Foucault, eine „Epoche des Raums“ zu folgen. Medienwirklichkeit und Netzgesellschaft, die dafür verantwortlich sind, organisieren sich nicht länger durch - historische oder auch utopische - Zeithorizonte, sondern vielmehr aufgrund der Raumformel von Globalisierung.

Mit dem allgemeinen Wirkungsgrad einer Leitkultur bringen die neuen Medien eine neuartige Raumrealität hervor, in der menschlichen Wahrnehmung und den Lebensverhältnissen nicht weniger wie in den kollektiven Phantasien. Die Rede von der im Entstehen begriffenen hybriden Wirklichkeit (mixed reality) markiert den Wandel von der örtlichen Lebenswelt zum elektronischen Paradigma des Raums. Dabei geht es neben der Entwicklung virtueller Handlungsräume heute vornehmlich um digitale Funktions- und Navigationsoptimierungen des Raums, um Kommunikations- und Mobilitätsdesign.

Fontaine du Mairie von Niki de St.-Phalle und Jean Tinguely in Château-Chinon. Bild: Peter Ossenberg

Seit einigen Jahren gibt es nicht nur in der Medienwissenschaft, Urbanistik, Soziologie oder den Cultural Studies eine breit geführte Debatte um das Verhältnis von politischem, sozialem, städtischem oder elektronischem Raum. Der Schriftsteller und Medienwissenschaftler Volker Demuth geht vor dem Hintergrund dieser Diskussionen allerdings nicht allein den Entscheidungsformen und gesellschaftlichen Auswirkungen digitaler Raumdispositive nach. In seinen Untersuchungen etwa zur Phänomenologie des Orts, zur räumlichen Symbolisierung des menschlichen Körpers und der Landschaft beschreibt er darüber hinaus andere kulturelle Praktiken des Raums, die mit dem neuen medialen Paradigma nicht ohne weiteres in Einklang zubringen sind.

Allen Beschwörungen des Virtuellen zum Trotz hat der reale "Raum" jedoch weder an Attraktivität für die Menschen noch an Relevanz für die Gesellschaft verloren. Dass sich – bezogen auf die Produktion von und den Umgang mit gebauter Umwelt - vieles längst nicht mehr „im Einklang“ befindet, ist wohl unstrittig. Von diesem Befund ausgehend, müssen Strategien entwickelt und implementiert werden, die hinreichend komplex und wirkungsvoll, dabei aber auch akzeptiert und mehrheitsfähig sind. Zumal in unserer Gesellschaft ein Unbehagen mit der gebauten Umwelt aus der Nachkriegszeit weit verbreitet ist. Wobei die Reaktion darauf nun keineswegs in einem lautstarken Engagement für die Qualität des neuen Bauens besteht, sondern in zunehmender Rückwärtsgewandtheit und wachsender Zustimmung für Denkmalschutz und Landschaftsschutz.

Aktionsfeld Kunst

Somit käme der Kunst die Aufgabe zu, solche Reaktionen produktiv in Frage zu stellen, ohne indes bloße Verunsicherung hervorzurufen. Ihr Aktionsfeld und "Entscheidungsgrund" könnte das „Dazwischen“ sein, weil die zentralen Herausforderungen heute (fast) immer zwischen den angestammten Disziplinen, tradierten Zuständigkeiten usw. liegen. Die eigentlichen "emergency cases" raumbezogener Kunst sind die „Grenzenflächen“, die schwer fassbaren Lebens- und Raumformen sowie der instabile, kurzfristig veränderliche, nach Art und Maß der Nutzung vieldeutige, heterogene und in der Dichte stark wechselnde Zustand jenseits der klar umrissenen, mehr oder weniger stabilen Zentren in Stadt oder Region.

In städtebaulich ungelösten Situationen und Brachen kann und darf die Kunst allerdings weder Trost- noch Wundpflaster sein. Wenn heute zuvorderst die gesellschaftliche Relevanz von Kunst im öffentlichem Raum eingefordert wird, dann vergisst man darüber mehr und mehr den gestalterischen Aspekt des Ganzen. Warum sollte man nicht vermehrt Künstler mit Platzkonzeptionen betrauen, deren Ästhetik sich deutlich von dem stereotypen Vokabular aus schmiedeeisernen Pollern, Waschbeton-Pflanzentrögen, Plastikbänken absetzt?

Bodenrelief „Misrach“ von Dani Karavan (Regensburg). Bild: Dr. Meierhofer. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Nun ist es sicherlich ein leichtes, sich anhand missglückter und prekärer Kunstprojekte im öffentlichen Raum eine reservierte bis skeptische Meinung zum Thema zu bilden. Nur zur Erinnerung: Sogenannte „Zeichen im Raum“ sollen Plätze strukturieren, Orientierungen und Verdichtungen in der optisch immer ärmer werdenden Stadtgestalt schaffen (Leitsysteme), auffällige formale Kontraste zu ihrer Umgebung bieten oder eigene künstliche Räume (Environments) entstehen lassen. Ein inhaltlicher Bezug zum Standort ergibt sich indes nur selten. Die Gründe für diesen Zustand liegen zum einen in der Schwierigkeit für die Auftraggeber, verbindliche Inhalte in einer pluralistisch strukturierten Gesellschaft zu setzen. Da in einer Parteinahme des öffentlichen Auftraggebers für bestimmte Gruppen eine Gefährdung der gesetzlich verankerten staatliche Freiheitsgarantie und ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz gesehen würde, unterbleibt eine solche. Zum anderen schließen sich eine als modern geltende Kunst mit ihrem Autonomieanspruch und eine vom Auftraggeber inhaltlich bestimmte Kunst weitgehend aus.

Gleichwohl muss dieser Zustand nicht als unveränderlich betrachtet werden. Unterschlägt man damit doch, dass die Freiheit der Kunst nicht gleichzusetzen ist mit dem Freisein der Kunst von konkreten, auf die Bedürfnisse und Probleme verschiedener Bevölkerungsgruppen bezogenen Inhalte. Die Forderung, dass nur die zweckfreie Kunst als Kunst zu betrachten sei bzw. dass Kunst bestenfalls das „Humane“ außerhalb realer gesellschaftlicher Konflikte zu thematisieren habe, bedeutet ihre politische Entmündigung. Darüber hinaus wird verschwiegen, dass eine inhaltlich freie bzw. inhaltlich trivialisierte Kunst in hohem Maße ideologisch ist, da sie wirklichkeitsferne Bewusstseinshaltungen fördert.

Es kann für den öffentlichen Raum keine Patentrezepte oder normative Werte geben. Oder, mit anderen Worten, sowohl eine emanzipatorische Kunstpraxis (mit sozialpädagogischen Impetus) als auch ein autonomes Kunstwerk inmitten eines Platzes vermag unter Umständen für die Anwohnerschaft identitätsstiftend zu sein. Zudem wird der Ruf nach einer öffentlichen Kunst umso lauter, je stärker die Privatisierung ihre für den Bürger kaum mehr übersehbaren, dafür aber perfekt überwachten Schneisen in den öffentlichen Raum der Innenstädte schlägt. Weder nostalgiegestättige Heimeligkeit zu schaffen, noch aufrüttelnde Skandale zu platzieren, kann Aufgabe von Kunst im Raum sein (wiewohl beides punktuell durchaus angemessen sein mag), sondern von Mal zu Mal eine spezifische Balance zu definieren, die den widersprüchlichen Anforderungen gerecht wird. Grund genug also, neu über das Verhältnis von Kunst und Raum nachzudenken.