Ihr seid ja alle doof

Warum ausgerechnet negative Forenthreads die lebhafteste Diskussion nach sich ziehen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Natürlich ist nicht Leserbeschimpfung das Thema, sondern die wissenschaftliche Betrachtung sozialer Dynamik im Netz. In den letzten Tagen erschienen gleich zwei Arbeiten zu dieser Thematik, die beide ein gemeinsames Fazit ziehen. Es gibt genau einen sicheren Weg, einem Thema höchstmögliche Aufmerksamkeit zu sichern: Man poste einen negativen Kommentar.

Während ein slowenisch-britisches Forscherteam Postings auf Digg.com untersucht hat, befasste sich ein britisch-polnisches Team mit den Onlineforen der BBC.

Grundlage der Analyse war dabei eine Bewertung einer großen Anzahl von Postings auf ihren emotionalen Inhalt. Obwohl nur aus Text bestehend, geben auch kurze Antworten schon einiges über das Gefühlsleben ihres Verfassers preis. Welche Wörter und welche Smileys hat er verwendet? Wie häufig sind Tippfehler (im Unterschied zu Rechtschreibfehlern) und wie hoch sind die Anteile von Groß- und Kleinschreibung? Zwar wird die Beurteilung hier nicht immer eindeutig möglich sein, doch das Rohmaterial hat für die soziologische Forschung einen großen Vorteil: Es ist in riesiger Menge vorhanden, und die Zeitabfolge der Beiträge lässt sich fast sekundengenau erfassen. So kommen die Forscher auch der Dynamik der User-Interaktion auf die Spur.

Allein aus den BBC-Foren zu News und Religion untersuchten die Wissenschaftler fast 100.000 Threads aus insgesamt fünf Jahren, die 250.000 Postings von rund 18.000 Nutzern enthielten. Der aktivste Nutzer hatte dabei über 18.000 Postings verfasst, während die Postingzahl im Mittel bei 137 lag. Das sagt aber wenig über das Nutzerverhalten: Die große Mehrheit der User postet nur einmal in einem einzigen Thread, während eine Minorität sich in so großer Intensität an den Diskussionen beteiligt, dass trotzdem der Mittelwert von 137 zustande kommt. Diese Minderheit zeigt sich besonders stark in extrem langen Threads - je länger eine Diskussion andauert, desto seltener melden sich Zufallsbesucher zu Wort.

Welche Rolle spielen nun die Emotionen?

Insgesamt dominieren in den Diskussionen negative Gefühle. Betrachtet man einen bestimmten Thread, dann sind Aktivität und Negativität eindeutig korreliert: Je mehr sich in einem Diskussionsstrang tut, umso aufgeladener ist die Atmosphäre. Und umgekehrt. Aber es gilt auch: je stärker sich ein User an einem bestimmten Strang beteiligt, desto negativer werden seine eigenen Äußerungen darin. Die Schlussfolgerungen der Forscher sind ein wenig ernüchternd: Punkt 1 - vor allem negative Emotionen würden die User zu Kommentaren motivieren. Punkt 2 - die aktivsten User sind die, die sich am negativsten ausdrücken und Punkt 3 - eben diese User haben die Länge einer Diskussion in ihrer Hand.

Eine etwas andere Herangehensweise haben die Wissenschaftler gewählt, die sich Digg-Postings zum Gegenstand gewählt haben. Sie zeigen in ihrem Paper vor allem die Dynamik auf, mit der sich ein Diskussionsstrang entwickelt. Interessanterweise verhält dieser sich auf der Zeitachse ähnlich wie ein Erdbeben. Doch auch hier gehören emotionale Einwürfe zu den hauptsächlich treibenden Kräften - in ganz überwiegendem Maß handelt es sich dabei um negative Emotionen. Dabei zeigt sich ein Bild sozialer Selbstorganisation: Ist der Ausbruch nur negativ genug, kann sich rund um diesen in Minutenschnelle eine eigene Community bilden.

Für den Website-Betreiber auf der Suche nach möglichst vielen Klicks ergibt sich daraus die valide Strategie, mit provokanten Überschriften negative Kommentare geradezu einzuladen. Wer darauf wie gewünscht antwortet, gibt dem Thread unwillentlich eine Bedeutung, die dem Anliegen des Kommentators vielleicht sogar entgegenläuft. Man könnte das die Sarrazin-Strategie nennen: Wenn so intensiv über ein Anliegen gesprochen wird, erreicht der Autor mehr, als wenn seine Meinung einfach nur ignoriert würde. Das Gegenrezept kennen Telepolis-Forennutzer ebenfalls: Don't feed the troll.