"Der Backlash gegen WikiLeaks war zu erwarten!"

Evgeny Morozov, Experte für Internet und Globalpolitik, erklärt, warum die US-Regierung nett zu WikiLeaks sein sollte, was Spinternet ist und warum das Internet romantisiert wird

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Kaum ein Experte geht mit Internet-Enthusiasten härter ins Gericht als Evgeny Morozov. Nach eigenen Aussagen hat er nie verstanden, "woher die Idee eigentlich kommt, dass das Internet Freiheit und Demokratie fördert". Sein neues Buch heißt daher auch The Net Delusion – "Die Netz-Täuschung".

Der gebürtige Weißrusse ist mittlerweile in den USA beheimatet und als Dozent an der Stanford University tätig. Gefördert wurde er durch das Open Society Institute von George Soros und die New America Foundation. In seinem Blog Net Effect bei der Zeitschrift Foreign Policy schreibt er über die Auswirkungen des Internet auf die globale Politik.

Im Christian Science Monitor spekulierte Morozov kürzlich über eine mögliche Radikalisierung der "WikiLeaks-Anhänger", sollte Julian Assange in einem Schauprozess als Terrorist oder Spion angeklagt werden, und empfiehlt den USA im eigenen Interesse, "nett zu Assange zu sein". Telepolis sprach mit Morozov über WikiLeaks und die wirklich wirksamen Mittel, um Opposition im Internet zu bekämpfen.

Herr Morozov, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der Freiheit des Internet und den vielfältigen Versuchen, diese einzuschränken. Überraschen Sie die Reaktionen auf die jüngste Veröffentlichung von WikiLeaks?

Evgeny Morozov: Eigentlich nicht. Die Reaktion der US-Regierung und die Aktivitäten von Internetaktivisten gegen Unternehmen wie PayPal und Amazon, all das war zu erwarten, inklusive der anonymen DDoS-Attacken. Dass Amazon die Organisation von seinen Servern genommen hat, überrascht mich nur insofern, weil es so lange gedauert hat! Es gab in der Vergangenheit übrigens ähnliche Fälle, allerdings fanden sie weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich, weil die Angriffsziele damals längst nicht so bekannt waren wie Visa, MasterCard oder der Internetauftritt der schwedischen Regierung.

Noch weniger hat mich die populistische Reaktion auf die Veröffentlichung überrascht. Klar, dass Leute wie Sarah Palin oder Newt Gingrich sich eine solche Chance nicht entgehen lassen. WikiLeaks wird mittlerweile wie eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA behandelt. Die Regierung unter Obama kommt durch diese Angriffe allerdings in eine schwierige Situation: Wenn sie wirklich massiv gegen Wikileaks vorgeht, macht sie ihre eigene Politik für Internetfreiheit unglaubwürdig. Tut sie es nicht, wird sie aus demselben Grund von den Republikanern und auch vielen Demokraten angegriffen werden. Eine unangenehme Position!

Anfang dieses Jahres hielt Außenministerin Hillary Clinton eine bemerkenswerte Rede in Washington. Damals kritisierte sie scharf autoritäre Regime, die das Netz zensieren und sagte: "Wir unterstützen die Entwicklung von neuen Tools, die es Bürgern ermöglichen, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung auszuüben, indem sie politisch motivierte Zensur umgehen." Einerseits unterstützt die US-Regierung Anonymisierungstechnik wie Tor, andererseits fordert sie ein Internet, in dem kein Krimineller oder Terrorist seine Identität verbergen kann. Wie passt das zusammen?

Evgeny Morozov: In gewisser Weise passt das tatsächlich nicht zusammen, und dieser Spagat wird sich nicht ewig durchhalten lassen. Die Nachrichtendienste und das Verteidigungsministerium hassen aus naheliegenden Gründen WikiLeaks und alles, wofür es steht. Aber andererseits braucht das Außenministerium eben diese Leute, um die chinesische oder iranischen Internetzensur zu bekämpfen. Insofern finde ich die aggressiven Statements aus Regierungskreisen gegen Assange ziemlich ungeschickt. Aber soweit ich es beurteilen kann, ist die US-Kampagne für Internetfreiheit so gut wie tot. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Hillary Clinton heute noch einmal eine solche Rede halten würde.

Es ist abzusehen, dass es in der Zukunft mehr leaks geben wird, auch weil die Technik das Risiko verkleinert. Dann werden auch die Angriffe auf Anonymisierungstechniken zunehmen, und es wird schwieriger werden, finanzielle Unterstützung für ihre (Weiter-)Entwicklung zu bekommen. Viele private Stiftungen in den USA, die heute Projekte zur Umgehung von Zensur finanzieren, werden nicht das Risiko eingehen, etwas zu unterstützen, was den nationalen Interessen zuwider läuft. Auch die staatliche Regulierung des Internet könnte jetzt schärfere Formen annehmen. In Zukunft könnten beispielsweise Firmen wie PayPal oder Amazon verpflichtet werden, ihre Kunden vor Vertragsabschluss nach bestimmten Kriterien zu überprüfen. Dann würden sie WikiLeaks erst gar nicht aufnehmen.

Für Wikileaks könnten die Angriffe auf ihre Organiation die eigentlich wichtige Botschaft sein

Immerhin scheint der Versuch, WikiLeaks und vor allem die Botschaftsdepeschen aus dem Netz zu verdrängen, grandios gescheitert zu sein. Ist das wieder eine Bestätigung des so genannten Streisand-Effekts? Also: Zensurversuche wecken Aufmerksamkeit und verstärken dadurch sogar die Verbreitung der Inhalte, die eigentlich unterdrückt werden sollten?

Evgeny Morozov: Da wäre ich vorsichtig! Es ist schließlich unklar, inwieweit dieser Backlash von Wikileaks selbst gewünscht und geplant war. Haben sie Amazon nur ausgesucht, weil sie deren Dienste benötigten oder wollten sie diese Reaktion provozieren und die US-Regierung bloßstellen?

Julian Assange sagte ja kürzlich: "Seit 2007 haben wir bewusst manche unserer Server in Rechtsstaaten (jurisdictions) eingerichtet, von denen wir vermuteten, dass sie ein Defizit bezüglich der Redefreiheit haben."

Evgeny Morozov: Nun ja, das sagt er im Nachhinein. Ich finde es schwierig, über die Strategie von Wikileaks Vermutungen anzustellen. Aber es ist immerhin möglich, dass für Wikileaks die Angriffe die eigentlich wichtige Botschaft ist. Insofern würde ich den Streisand-Effekt aus der Analyse lieber rauslassen.

Gegenpropaganda statt Zensur

Kommen wir auf den Umgang autoritärer Regime mit dem Netz. Sie sprechen von der Entstehung eines Spinternet - zusammengesetzt aus den Worten spin für Manipulation und Internet.

Evgeny Morozov: Das hat nun tatsächlich mit dem Streisand-Effekt zu tun. Die Regierungen haben gelernt, dass ihre Zensurversuche nicht funktionieren, weil sie durch sie nur Aufmerksamkeit auf die Inhalte lenken und Nutzer diese kopieren und weiterverbreiten. Ein effektiverer Weg ist, diejenigen zu diskreditieren, die missliebige Informationen verbreiten, also beispielsweise zu behaupten, sie würden aus dem Ausland finanziert.

Immer mehr Regierungen wenden sich zunächst an PR-Agenturen und Berater, die ihnen helfen, zunächst die oppositionelle Online-Kommunikation auszuwerten, auch mit Datamining-Tools. Dann werden die einflussreichsten Organisationen und Internetseiten bestimmt und diese mit Hilfe von bezahlten Kommentatoren untergraben. Sie setzen auf Gegenpropaganda statt auf Zensur. Sie nutzen Blogs und Soziale Medien erfolgreich für ihre Ziele. Das unterscheidet sich methodisch überhaupt nicht von der Art, wie westliche Unternehmen und Regierungen durch Astroturfing versuchen, die Meinungsbildung im Netz zu beeinflussen.

Autoritäre Regierungen können so die ökonomischen Vorteile des Netzes nutzen, ohne offen zensieren zu müssen. Der Grad der Professionalisierung und die Autonomie der Propaganda-Blogger unterscheidet sich allerdings von Land zu Land. In einem Artikel für das Wall Street Journal habe ich das etwas detaillierter dargestellt. In Russland wurde die Propaganda sozusagen outgesourct und Internetfirmen wie Newmedia Stars übertragen, die regierungstreue Blogs und Soziale Netzwerke ins Leben riefen. In China gibt es bekanntlich die so genannten "50 Cent– Parteimitglieder", die für jeden regierungstreuen Kommentar bezahlt werden. In Ländern wie Aserbaidschan dagegen trainieren die Jugendorganisationen der Regierung ihre Mitglieder, wie sie sich in Online-Debatten verhalten sollen, und fordern sie auf, im Netz im Sinne der Regierung aktiv zu werden.

Meine letzte Frage: Sie kritisieren die die übersteigerten Hoffnungen, die sich auf soziale Veränderungen durch das Internet richten. Solche Erwartungen sind ja kein neues Phänomen; auch um Faxgeräte und Fernsehapparate und Rundfunkgeräte wurden utopische Hoffnungen gesponnen. Was steckt eigentlich hinter dieser Haltung, die sich das Heil von einer Technologie erwartet?

Evgeny Morozov: Die kurze Antwort lautet: Unwissenheit. Dann Bequemlichkeit. Es ist einfacher, von einer "Twitter-Revolution" zu sprechen, als die Widersprüche der iranischen oder chinesischen Gesellschaften wahrzunehmen. In den USA ist die Ansicht weit verbreitet, dass die Menschen in China und dem Iran quasi automatisch rebellieren werden, wenn sie nur genug Kommunikationsgeräte zur Verfügung haben. Sie glauben, dass alle Menschen sich nach Demokratie westlicher Prägung sehnen.

Die Gründe für die Romantisierung des Internet liegen in solchen falschen Annahmen. Sie wollen den Iranern und Chinesen das Internet als politische Waffe geben, damit sie ihre Regierungen stürzen – nicht, damit sie Pornos anschauen und verbotenerweise Spielfilme herunterladen. Leider ist letzteres die Regel.