Viele Hobel, aber keine Späne?

Die arabischen Diktatoren können sich wieder einmal gelassen zurücklehnen - arabische Reaktionen auf die Wikileaks-Enthüllungen

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Laut Selbstdefinition will die Whistleblower-Palttform Wikileaks denen beistehen, die das „unethische“ Verhalten der eigenen Regierungen aufdecken wollen. Mit der Veröffentlichung von 250.000 geheimen Dokumenten suchte sie dies jüngst. Für viele arabische Staatsführer ist das Ergebnis besonders peinlich. Doch wird es für sie auch schmerzlich?

Die Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate halten Iran in Sachen Terrorismus für weit gefährlicher als die Hamas und Hisbollah. Saudi-Arabiens König Abdallah fordert die USA auf, den Iran anzugreifen. Und auch Ägyptens Diktator Hosni Mubarak spielt im Legokasten der Landkarten und Machtverteilungen eifrig mit.

Er riet den USA, die Sache mit der Demokratie im Irak endlich zu vergessen und stattdessen einen weiteren Diktator einzusetzen – und zwar einen, der sich weniger um den Irak als um den Iran kümmert: "Strengthen the armed forces, relax your hold, and then you will have a coup. Then we will have a dictator, but a fair one. Forget democracy, the Iraqis by their nature are too tough“. So Mubaraks Worte laut Wikileaks.

Kreativer Umgang mit potentiellen Terroristen

Überhaupt scheinen Arabiens Führer kompakte Lösungen zu bevorzugen. So erklärte Kuwaits Innenminister Sheich Jaber Khaled al-Sabah einem US-Entsandten im Februar 2009 den adäquaten Umgang mit unliebsamen Zeitgenossen: jene sieben iranischen Haschisch-Schmuggler, die die US-Marine in den Golfgewässern aufgriff, hätte sie besser in eben diesen belassen sollen:

God wished to punish them for smuggling drugs by drowning them, and then you saved them. So they're your problem! You should have let them drown.

Dies soll der Sheich, Wikileaks zufolge, „breit grinsend“ gesagt haben. Auf die Frage, ob sein Land des Terrorismus verdächtigte kuwaitische Häftlinge aus Guantanamo Bay aufnehmen könne, konterte er: „If they are rotten, they are rotten and the best thing to do is get rid of them“ (siehe dazu: Die Lösung des kuwaitischen Innenministers für die Terroristen: "Lasst sie sterben").

Kreativer erwies sich da Saudi-Arabiens König Abdallah. In seiner Unterredung mit dem Terrorismusberater des Weißen Hauses, John Brennan, im März 2009, befand er: Man solle Guantanamo-Häftlingen – ebenso wie Pferden oder Falken - elektronische Chips implantieren, um sie besser verfolgen zu können.

Libanons Verteidigungsminister erklärt Israel, wie es den Libanon angreifen kann

Ein Schmankerl der besonderen Art enthält jenes Wikileak-Dokument über Libanons Verteidigungsminister Elias Murr, das nicht über die Whistleblower-Plattform selbst, sondern Anfang Dezember über die libanesische Tageszeitung Al-Akhbar an die Öffentlichkeit geriet.

Demnach riet Murr 2008 der damaligen US-Botschafterin Michele Sison, wie Israel die Hisbollah erfolgreich angreifen könne. Zweierlei müsse Israel vermeiden: einen Angriff auf die UN Pufferzonen sowie auf die christlichen Infrastrukturen. Schließlich würden die Christen - zu denen Murr zählt - Israel unterstützen.

Gezielte Vernebelung in der arabischen Presse

Dass die „moderaten“ Verbündeten der USA im Mittleren Osten zu Landesverrat und zum Ausverkauf der legitimen politischen und zivilgesellschaftlichen Interessen ihrer Völker an die „internationale“, US-geführte Gemeinschaft bereit sind, war seit jeher ein offenes Geheimnis. Und nach den Enthüllungen durch Wikileaks ist es offener denn je. Ein Grund mehr für das Gros der arabischsprachigen Presse, noch stärker zu verschleiern. Was sollte ein bei einer staatseigenen Zeitung angestellter Journalist auch anderes tun? Statt wörtlicher Zitate und „unethischer“ Details werden die Seiten daher mit übergreifenden Diskussionen bedruckt, die mitunter im eigenen Orbit entschwinden.

Dies ist sogar dort zu beobachten, wo an und für sich Redefreiheit herrscht – etwa im Libanon. Die offene Bitte um einen israelischen Angriff auf das eigene Land behandelt die „dem Westen“ nahestehende Zeitung An-Nahar gekonnt schwachsinnig. So jubelte Amin Qamurieh am 7. Dezember:

Wikileaks ist Teil einer aktuellen Revolution gegen alle Konzepte der traditionellen Diplomatie und ein offensichtlicher Höhepunkt im erkenntnisreichen elektronischen Zeitalter, das auf dem Austausch von Informationen und deren Transparenz gründet.

Der Autor hält diesen Tenor spaltenweise durch - ohne den Namen seines Verteidigungsministers auch nur zu erwähnen. Stattdessen schließt er begeistert: Er sei „mit Wikileaks“.

Nebulös wird es besonders dort, wo politisch neokonservative Journalisten antreten, deren Bekanntheitsgrad alle aufhorchen lässt. Entsprechend verquast klingt Hazem Saghieh, Starkolumnist der in London erscheinenden und von Saudi-Arabien finanzierten Tageszeitung „Al Hayat“ in seinem Kommentar vom 7. Dezember:

Bezüglich der Araber und ihrer Politik bringt Wikileaks einen spannenden Aspekt zutage, der der wichtigste von allen ist. Nämlich: der „Skandal“ dieses oder jenes Regimes, dieses oder jenes Landes, dieses oder jenes Politikers beruht auf dem Gegenteil dessen, was (offiziell) gesagt oder angekündigt wird.

Seine bahnbrechende Erkenntnis untermauert Saghieh, indem er unter anderem und, ohne Namen zu nennen, auf die Kluft zwischen der verbalen und der realen Verfechtung der „palästinensischen Sache“ verweist. An diese Erörterung dockt übergangslos die Aussage an: „Die populäre Wahrnehmung in der Golfregion“ sei, dass der Iran „die Bedrohung“ sei.

Als sei somit alles erklärt, folgt als weiterer Rundumschlag: Die „Systeme“ (respektive Regime) dieser Region würden den „religiösen Terrorismus“ am vehementesten bekämpfen, ihre „Völker“ ihn hingegen am vehementesten unterstützen.

Auf eine Untermauerung dieser gefährlichen These verzichtet Saghieh an dieser Stelle allerdings. Stattdessen lautet die Bilanz seines Kommentars: Die arabischen Führer (welche auch immer) seien ebenso wie ihre Völker zu verurteilen; Wikileaks habe die Verlogenheit in der politischen Sprache der Araber zutage gebracht; man könne die „Welt des Skandals“ nur verlassen, indem erlaubt werde, „alles sagen zu dürfen“, schreibt Saghiegh, ohne irgendetwas zu sagen. Vor allem erwähnt er im Kontext der „palästinensischen Sache“ und der „iranischen Bedrohung“ mit keiner Silbe das israelische Nukleararsenal.

Hackerangriff auf investigative Journalisten

Umso deutlicher wird Khaled Saghieh. Der Chefredakteur der „Al-Akhbar“, der wohl einzig genuin unabhängigen arabischsprachigen Zeitung, reagiert ohne Umschweife auf den Ruf von Libanons Verteidigungsminister Elias Murr nach einem israelischen Angriff, zwecks Vernichtung der Hisbollah. Da diese für Murr getreu der US- Lesart unter die Kategorie „Terrorismus“ aufgrund ihres bewaffneten Widerstandes gegen Israel fällt, riet er 2008 Michel Sleiman - damals Chef der Armee und heute Libanons Präsident -, dass sich die Armee im Falle eines neuerlichen Angriffs Israels nicht einmischen solle, denn: “This war is not with Lebanon, it is with Hezbollah”.

Via Wikileaks und „aus den Gängen der US-Botschaft (in Beirut)“, schreibt Saghieh, erfahre man so, dass es „keinen Minister, keine Verteidigung, kein Vaterland, keine Armee, keinen Feind und keine echten Menschen gibt.“ Murrs Rat an Israel, keine christlich, sondern ausschliesslich muslimisch besiedelte Regionen zu bombardieren. Da einzig dort „Terroristen“ zu finden seien, treibe die konfessionelle Aufspaltung die Gesellschaft zudem in die Arme des Rassismus.

Es ist dies nicht das einzige Wikileaks-Dokument, das „Al-Akhbar“ in den vergangenen Tagen exklusiv veröffentlichte. Das Resultat: Die online-Plattform der Zeitung wurde am 9. Dezember gehackt und war noch bei Redaktionsschluss unzugänglich. Der für „Al-Akhbar“ schreibende Politprofessor Asaad Abu Khalil nennt auf seinem Blog als Drahtzieher die Regierungen der USA, Saudi-Arabiens und Tunesiens. Informationen, die er von der Leitung der „Al Akhbar“ bezogen haben will.

Khaled Saghieh bestätigt dies gegenüber Telepolis nicht. Es sei eine Untersuchung im Gange, aber „bis dato können wir niemanden für den Hackerangriff beschuldigen. Es ist nicht das erste Mal, dass unsere Seite attackiert wird, aber zum ersten Mal war der Angriff erfolgreich. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies mit der Veröffentlichung der Wikileaks-Dokumente zu tun hat. Doch wir versprechen unseren Lesern, bald wieder auf dem Netz zu sein. Und wir werden weitere Wikileaks-Dokumente veröffentlichen.“

Gelähmte arabische Öffentlichkeit

Dank „Al-Akhbar“ dürfte der interessierte libanesische Leser also auf dem Laufenden bleiben. Schwieriger gestaltet sich hingegen die Situation in anderen Ländern. „Exakte Übersetzungen der Depeschen ins Arabische sind vor allem im Netz zu finden, und der Anteil derer, die das Internet für solche Zwecke nutzen, ist sehr gering. In einem Land wie Syrien etwa sind es nicht mehr als zehn Prozent“, erklärt die junge Bloggerin Maryam aus Damaskus.

Doch Sprachbarrieren und Isolation sind bei weitem nicht die einzigen Gründe für das Schweigen, das die arabische Öffentlichkeit, nicht nur in Syrien, den Enthüllungen entgegenbringt – zumal angesichts des Umstandes, dass auf der Internetplattform von „Al Akhbar“ die Dokumente auf Arabisch nachzulesen sind. „Die Menschen ersticken unter den Diktaturen. Selbst wenn sie erfahren, dass möglicherweise etwas bevorsteht, das sie unmittelbar betrifft oder bedroht, bleiben sie gleichgültig, weil sie überzeugt sind, ohnedies nie etwas ändern zu können“, sagt Maryam.

Und die Diktaturen bewirken noch anderes. Sie treiben so manchen ihrer Untertanen in die Arme derer, die sie offiziell bekämpfen – allen voran die USA. So lösen die Wikileaks-Enthüllungen bei Regimegegnern mitunter die Sorge aus, jene Weltmacht, von der sie sich ungeachtet aller Erfahrungen noch „freedom“ ersehnen, könnte in eine echte Krise gestürzt werden.

Infolgedessen wird Wikileaks – sofern wahrgenommen – keineswegs nur gut geheißen. „Was ist das schon? Doch nur unverantwortlicher Boulevardjournalismus!“, schimpft gar ein verfolgter saudischer Menschenrechtler, der in den USA um Asyl bitten will. Die „wahllose Veröffentlichung geheimer diplomatischer Dokumente gefährdet lediglich Menschenleben“, beharrt er. Gewiss, ein extremer Standpunkt und daher nicht repräsentativ.

Dennoch: der Drang nach Rede- und Meinungsfreiheit ist derart groß, dass auch arabische Dissidenten längst begonnen haben, in den berühmt-berüchtigten „Achsen“ zu denken. In ihrer Logik ist alles, was am Widerstand gegen die USA und Israel festhält, vernichtend für die eigene Lebensperspektive. Dass ihr Kalkül hinkt, wie allein das „Demokratisierungsmodell“ des Irak zeigt, blenden sie in ihrer Verzweiflung entschlossen aus.

Vor welchem Hintergrund man es auch betrachtet: Vorerst können sich die arabischen Diktatoren in Anbetracht der Wikileaks-Enthüllungen – mehr oder minder – gelassen zurücklehnen. Wieder einmal.