Der Balkan soll seine Geheimnisse verlieren

Nach Wikileaks gibt es nun auch die Balkan Leaks

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Fast jedes Kind auf der Welt dürfte inzwischen wissen, dass der Australier Julian Assange die treibende Kraft hinter Wikileaks ist. Als aber am vergangenen Donnerstag wie aus dem Nichts plötzlich die Enthüllungsseite Balkan Leaks im Netz erschien, blieb zunächst unklar, wer hinter ihr steckt.

Die bulgarischen Geheimdienste könnten das Whistleblower-Portal geschaffen haben, "um Naivlinge zu jagen", argwöhnte der Autor "Borsi" in seinem Blog: "Um diese in die Irre zu führen", könnten die Ermittlungsbehörden "einige alte, doch nicht allzu bekannte Daten als Köder ausgeworfen haben", warnte er in seinem "Balkan Leaks oder Balkan Täuschung (Ismama)?" überschriebenen Text. Tatsächlich können lediglich zwei der sieben bisher auf Balkan Leaks veröffentlichten Dokumente als Neuerscheinungen im eigentlichen Sinne gelten, die restlichen haben bereits in der einen oder anderen Form für Furore in Bulgariens medialer Öffentlichkeit gesorgt.

Mögen Borsis Ahnungen manchem als paranoid oder gar als Verschwörungstheorie erscheinen; vor dem Hintergrund der jüngsten bulgarischen Geschichte sind sie keineswegs abwegig. Es war im Sommer 2008, als die Website "Opassnite Novini" (Gefährliche Nachrichten) mit einer kruden Mischung aus sensationellen Enthüllungen und abwegigen Kompromaten in kürzester Zeit große Popularität errang. Nach wenigen Wochen wurde sie stillgelegt. Bis heute ist unbekannt, wer die "Opassnite" zu welchem Zweck ins Netz gestellt hat. Der von der Staatlichen Agentur für Nationale Sicherheit (DANS) zum Urheber erklärte und Mitte September 2008 von mehreren maskierten Männern mit Eisenhämmern halbtot geschlagene Journalist Ognjan Stefanov bestreitet die Autorschaft.

Wegen auf der Website "Opassnite" veröffentlichter "klassifizierter Informationen" leitete DANS den operativen Vorgang "Galeria" ein und bespitzelte mehrere Dutzend Journalisten und Politiker. Interessante Einzelheiten zur Affäre DANS/Opassnite sind nun auf "Balkan Leaks" in Bulgarisch und Englisch nachzulesen, in einem "DANS-Report", der allerdings bereits seit Herbst 2009 bekannt ist.

"Assen Jordanov bestätigt und dementiert nicht, hinter Balkan Leaks zu stehen", meldete die das Online-Portal Blitz noch am Freitag. Der aus Burgas stammende Journalist ist auch in Deutschland bekannt, bekam im Oktober 2010 den Leipzig Media Award verliehen. "Jordanov thematisiert die Missstände und setzt sich fortlaufend großen persönlichen Gefahren aus", hieß es in der Preisbegründung. Jordanov betreibt mit dem in Paris ansässigen bulgarischen Journalisten Atanas Tschobanov das Online-Portal www.bivol.bg (Büffel), das sich erklärtermaßen für investigativen Journalismus und Medienfreiheit einsetzt. Am darauffolgenden Samstag hat sich nun Jordanovs Kollege Tschobanov als "Sprecher" von Balkan Leaks bekannt.

In einem ausführlichen Interview mit Bulgariens auflagenstärkster Tageszeitung Trud (Arbeit) sagte Tschobanov, Balkan Leaks werde von einer "Gruppe von Leuten mit verschiedenen Horizonten" betrieben: "Bei uns gibt es Journalisten, Spezialisten für Informationstechnologie und andere Experten, die nicht wünschen, namentlich bekannt zu sein. Unser Fokus liegt auf der Korruption. Es eint uns die Idee, einen Raum zu schaffen, in dem Leute ihre Ansichten äußern können. Dies muss aber verpflichtend mit der Unterstützung von Dokumenten geschehen. Wir prüfen jedes Signal, bevor wir es auf die Seite stellen", beteuerte Tschobanov gegenüber Trud.

Der 1968 geborene Tschobanov lebt seit Anfang der 1990er Jahre in Paris, hat dort im Fach Computerlinguistik promoviert und war lange für die Zeitung der Bulgaren in Frankreich Parischki Vesti Pariser Nachrichten tätig. Dabei hat er sich offensichtlich nicht nur Freunde gemacht. Als er sich im Frühjahr 2009 als Kandidat der konservativen Union demokratischer Kräfte (SDS) vergebens um einen Sitz im Europaparlament bewarb, stellten einige namentlich unterzeichnende Auslandsbulgaren die Website Wer ist Atanas Tschobanov online. Auf ihr werfen sie Tschobanov u. a. politisches Vagantentum und die betrügerische Aneignung der "Parischki Vesti" aus merkantilem Antrieb vor.

Balkan Leaks nimmt nicht nur eine Enthüllungs-, sondern auch eine Archivfunktion für sich in Anspruch

"Der Balkan behält keine Geheimnisse mehr", lautet der Slogan von Balkan Leaks, das erklärtermaßen dem Vorbild von Wikileaks nachgestaltet ist. Ihrem Editorial zufolge wollen seine Macher nicht nur für Bulgarien, sondern auch für die übrigen Balkanländer die zum Kampf gegen das Geflecht aus organisierter Kriminalität und politischer Korruption nötige Transparenz schaffen. Bisher hat Balkan Leaks lediglich zwei "Eigenveröffentlichungen" präsentiert. Zum einen eine Liste mit 34 angeblichen Freimaurern im bulgarischen Justizsystem, deren Wahrheitsgehalt vom Großmeister der "Großen Loge", Volodja Losanov, bestritten wird.

Balkan Leaks zweite "originale Enthüllung" ist, dass die Dateivorlage zum am 30. November 2010 zwischen der bulgarischen Nationalen Elektrizitätsgesellschaft NEK und der russischen Rosatom unterzeichneten Memorandum zur Gründung einer Projektgesellschaft für das geplante Atomkraftwerk Belene vom Computer der privaten bulgarischen Firma "Risk Engineering" stammen soll. Deren Chef, Bogomil Mantschev, gilt als dominante Figur der bulgarischen Atomwirtschaft.

Weniger Neuheitsgehalt als historischen Informationswert besitzen die anderen fünf Dokumente. Zwei davon, das Informationen zum Prozess gegen die "Gebrüder Margini" liefernde Abhörprotokoll "Ivan Ivanov aka Rilski" und das Stenogramm der Anhörung des Polizeigenerals Vanjo Tanov vor der Parlamentarischen Kommission "Innere Sicherheit" zum Skandal um Ex-Innenminister Rumen Petkov wurden bereits vor zwei Jahren von dem Wirtschaftsblatt "Kapital" publiziert. Außerdem gibt es einen Bericht über den immer wieder als "politischer Kommentator" für Aufhorchen sorgenden Stefan Gamisov und einen Gasliefer-Vertrag zwischen Gazprom und den bulgarischen Partnern Bulgargaz und Overgaz, deren Authentizität Balkan Leaks "momentan nicht garantieren kann".

Die etappenweise Veröffentlichung von Abhörprotokollen zum Prozess gegen den wegen Bestechung angeklagten Ex-Verteidigungsminister Nikolai Tsonev hat Balkan Leaks am Samstag angekündigt. Diese seien ihr gerade zugespielt worden und würden noch geprüft.

Balkan Leaks habe nicht nur eine Enthüllungs-, sondern auch eine Archivfunktion, so begründet Tschobanov die Veröffentlichung brisanter, aber bereits bekannter Dokumente: "Die sind als Background wichtig und enthalten Dinge, die aktuelle Skandale aufhellen können". Er ruft dazu auf, vertrauliche Dokumente zu politischen, finanziellen oder kriminellen Vorgängen an Balkan Leaks zu schicken und sichert "absolute Anonymität" zu.

Balkan Leaks bedient sich des Netzwerks "TOR", das auch Wikileaks bis vor einigen Monaten benutzt hat. "Wenn Sie Dokumente schicken, gehen diese über einige Dutzend verschiedener Marschrouten, die von staatlichen Institutionen nicht kontrolliert werden. Dies sind Computer, die an dem Netzwerk teilnehmen. Im Falle von TOR geht es um hunderttausende Verknüpfungspunkte (Computer) in allen Ecken der Erde und die Verfolgung der Information ist absolut unmöglich. Nicht nur für DANS, sondern auch für jeden anderen Sicherheitsdienst im Ausland", erklärte Tschobanov gegenüber Trud.