Train Your Brain!

Der Mensch im Spannungsfeld zwischen Gehirndeterminismus und Verpflichtung zur Neuro-Askese

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Der Homo neurobiologicus ist ein zwar soziales, jedoch von Belohnung getriebenes Wesen. Seine Freiheit fällt der Festlegung durch unbewusste Hirnaktivierungen zum Opfer. Paradoxerweise appelliert gleichzeitig eine Fülle von Ratgeberliteratur an unsere Verpflichtung zur Selbstoptimierung durch die richtige Gehirnoptimierung. Welcher Weg führt aus dem Paradox? Es ist jetzt an der Neurogesellschaft, sich ihre Freiheit von den Neurodeterministen zurückzuerobern.

Es gibt heute vielleicht kein gesellschaftliches Problem mehr, zu dem sich nicht bereits ein Hirnforscher geäußert hätte. Unsere Schüler schneiden im internationalen Vergleich zu schlecht ab? Die Neurodidaktik weiß darum, den Lernstoff gehirngerecht zu vermitteln. An den Märkten mangelt es an Vertrauen? Die Neuroökonomik erklärt, welche Gehirnprozesse dafür verantwortlich sind. Manche Menschen sind zu gefährlich, um sie in der Gesellschaft frei herumlaufen zu lassen? Die Neuroforensik schickt sich an, riskante Gehirne zu identifizieren. Welcher Politiker wird das Rennen machen? Die Neuropolitik enträtselt mit einem Blick in Wählergehirne das Geheimnis des Erfolgs. Was sollen wir nur tun? Die Moralphysiologie hat die richtigen Antworten schon längst in neuronalen Aktivierungen entdeckt.

Grundlagenforschung und Theorienbildung waren gestern. Viele Hirnforscher haben längst das Parkett der gesellschaftspolitischen Diskussion betreten und tüfteln an Anwendungen ihrer neurowissenschaftlichen Erkenntnisse und Messverfahren. Wenn das Gehirn bereits Sekunden zuvor für uns entschieden hat, wenn wir das bewusste Erleben einer Entscheidung haben, dann kann der gewöhnliche Mensch gar nicht mehr mitreden. Eine Interpretation, die spätestens seit den Libet-Experimenten verteidigt wird (Die Hirnforschung und die Mär von der Willensfreiheit, Ist der Mensch ein Automat?).

Ähnlich wie die Psychologie Sigmund Freuds Entscheidungsprozesse am Anfang des 20. Jahrhunderts ins Unbewusste verschoben hat, wollen heute manche Hirnforscher die Determinanten in neuronalen Schaltkreisen entdeckt haben. Zum Aufdecken der "wahren" Gründe bedarf es also des Experten - früher des Psychoanalytikers, heute des Hirnforschers mit seinen exklusiven Messverfahren.

Eine Portion Neuro-Skepsis

Allerdings regt sich auch in wissenschaftlichen Kreisen vermehrt Widerstand. Die schwer verdauliche Kritik des Neurowissenschaftlers Maxwell Bennett zusammen mit dem Wittgenstein-Experten Peter Hacker von der Oxford-Universität zu den philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften konnte man vielleicht noch als Begriffsspielerei abtun; selbst als der Marburger Philosoph Peter Janich darauf hinwies, es handle sich auch bei den Neurowissenschaften um eine Sprachpraxis, die sich an bestimmte Vernunftregeln zu halten habe, und er die Idee eines neuen Menschenbilds ablehnte, ließ das die Advokaten des Homo neurobiologicus kalt. Zu abstrakt, zu fern dem Laboralltag waren diese Gedanken und Argumente.

Anstatt auf die logischen Einwände einzugehen, lud beispielsweise der Frankfurter Forschungsdirektor Wolf Singer den widerspenstigen Philosophen kurzerhand zu einer Gehirnuntersuchung im Magnetresonanztomographen ein.

Neu ist nun aber, dass sogar die eigenen Kollegen manchen Neuro-Erklärungen widersprechen, die sich nicht so leicht übergehen lassen. Als beispielsweise Marco Iacoboni, bekannt für seine Befunde zu Spiegelneuronen, während der Vorauswahlen für den Präsidentschaftswahlkampf in den USA die Chancen der Kandidaten neurowissenschaftlich beurteilte, blieben seine Interpretationen nicht unkommentiert. Wohl aufgrund der weitreichenden Überschrift This is Your Brain on Politics sowie plakativer Äußerungen der Art, Hilary Clinton erzeuge bei den Wählern Konflikt und ihr Parteikollege John Edwards sogar Ekel, meldeten sich binnen drei Tagen 17 namhafte amerikanische und britische Hirnforscher kritisch zu Wort. In einem Brief an die Redaktion bezweifelten sie die wissenschaftliche Basis der von Iacoboni gezogenen Schlüsse. Plötzlich gab es mehr als nur eine Neuro-Autorität über das "politische Gehirn."

Wenig später schlug eine viel allgemeinere methodische Kritik erst im Internet und dann in den wissenschaftlichen Zeitschriften Wellen. Gemeint sind die unter dem Schlagwort "Voodoo-Korrelationen" zusammengefassten Vorwürfe, die Edward Vul vorbrachte, damals noch Doktorand am Massachusetts Institute of Technology und inzwischen Assistant Professor an der University of California in San Diego. Gegen den gesamten Forschungszweig der Sozialneurowissenschaft richtete sich der Einwand, durch unsauberen Umgang mit ihren Daten würden viele Forscher ihre Ergebnisse künstlich aufblasen. Besonders heikel war die beigefügte Liste mit Namen und genauen Veröffentlichungsdaten der problematischen Arbeiten, darunter einige Schwergewichte der Szene. Zwar mussten Vul und seine Mitstreiter ihre Kritik schließlich etwas entschärfen - aus den "Voodoo-Korrelationen" wurden beispielsweise "rätselhaft hohe Korrelationen" -, doch das Image der Hirnforschung vom Menschen war plötzlich angekratzt.

Seitdem haben auch weitere Psychologen und Neurowissenschaftler ihre Bedenken geäußert. Das Ignorieren etablierter statistischer Standards könne in Einzelfällen zum Berichten von Nullbefunden führen. Anstatt immer mehr neue Experimente durchzuführen, sei es wichtig, frühere Experimente zu replizieren, um mehr über die Aussagekraft der Studien zu erfahren.

Auf die Spitze getrieben haben dies Craig Bennett von der University of California in Santa Barbara und Kollegen. Sie konnten in einem Experiment mit der funktionellen Magnetresonanztomographie sogar bei einem toten Lachs "Hirnaktivierung" nachweisen (Neural Correlates of Interspecies Perspective Taking in the Post-Mortem Atlantic Salmon) - sofern sie nicht mithilfe etablierter statistischer Kontrollverfahren das Risiko falsch-positiver Befunde reduzierten. Allerdings würden sich in der Forschungsliteratur zahlreiche Studien finden, die ebenfalls nicht von den Kontrollverfahren Gebrauch machten, so die Autoren.

Wer legt eigentlich das Gehirn fest?

Diese kritischen Einwände richten sich vor allem gegen die funktionelle Magnetresonanztomographie, die von vielen als die heute wichtigste Methode zur Untersuchung der menschlichen Psyche angesehen wird. Zwar gibt es für jeden der Kritikpunkte auch Verbesserungsvorschläge. Da diese aber aufwändig durchzuführen sind oder wie beispielsweise Replikationen - also Wiederholungen von bereits durchgeführten Studien - von der Veröffentlichungskultur kaum belohnt werden, muss sich erst noch zeigen, ob bestimmte Forschungszweige zur Selbstkorrektur fähig sind.

Untersuchungen, die nach dem Motto durchgeführt werden, eben ein paar Versuchspersonen in den Scanner zu schieben und hinterher eine Erklärung zu den gefundenen Aktivierungsunterschieden zu schreiben, dürften es unter dem prüfenden Blick der Fachkollegen inzwischen zumindest schwieriger haben.

Die seit 1990 verwendete funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) hat inzwischen andere Methoden der Hirnforschung überholt. Im Jahr 2009 erschienen nach den Zahlen der Wissenschaftsdatenbank ISI Web of Science mehr als sechs Studien pro Tag. Ihrem großen Erfolg zum Trotz wirft die Methode aber wichtige Grundlagenfragen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns auf. Grafik: Stephan Schleim

Die Idee des Homo neurobiologicus reicht aber viel weiter. Wenn die echten Determinanten unseres Fühlens, Denkens und Handelns eben in unbewusster Verarbeitung festgelegt sind, wie sollten wir Hirnforschern wie Gerhard Roth dann widersprechen können? Der Bremer Professor ist im deutschsprachigen Raum mit seinen neurophilosophischen Thesen zur Willensfreiheit und der Natur des menschlichen Geistes bekannt geworden. Mit dem Motto "Mein Gehirn ist meine Welt" bietet seine Firma Roth GmbH neurowissenschaftliche Beratungsleistungen für Firmen an.

In seinen Werken findet sich immer wieder die neurobiologische Entscheidungstheorie, derzufolge subkortikale und unbewusst arbeitende Gehirnbereiche wie das limbische System, die Basalganglien und das Kleinhirn letztlich die Funktionsweise der höheren Gehirnareale steuern. Zur Untermauerung seiner These von der Unfreiheit des Menschen führt er Experimente an, in denen Patienten sich durch elektrische Stimulation sogar über ihren eigenen Willen irren würden: Durch die Reizung bestimmter Bereiche würden nicht nur Bewegungen hervorgerufen, sondern auch die Überzeugung, die Patienten selbst (und nicht der Hirnforscher) hätten diese Bewegungen gewollt!

Wenn eine Täuschung so weit gehen kann, dann scheinen wir wirklich der Hilfe des Hirnforschers zu bedürfen, um unsere echten Beweggründe zu identifizieren. Ein Problem in Roths Erklärung ist allerdings, dass die durchgeführten Untersuchungen das genaue Gegenteil ergeben haben. Die Patienten, deren Gehirne man elektrisch stimuliert hat, waren sich nämlich durchaus des Eingriffs bewusst und haben das auch deutlich geäußert: "Herr Doktor, ich schätze, dass Ihre Elektrizität stärker ist als mein Wille."

Vielleicht werden die Befunde umgedreht oder ignoriert, weil sie nicht zu dem provokanten Bild des Homo neurobiologicus passen. Ebenso wird in der Diskussion um den Neurodeterminismus und seine Schlussfolgerung, Menschen könnten nicht frei sein, ein entscheidender Aspekt vergessen: Auch in Untersuchungen wie den berühmten Libet-Experimenten werden nicht nur wissenschaftliche Konstrukte - notwendige Operationalisierungen für den Laborversuch - auf die Probe gestellt, sondern ist es gerade das Ziel, durch eine geschickte Manipulation das Gehirn der Versuchspersonen derart zu manipulieren, dass sich ein interpretierbares Verhalten oder Erleben zuverlässig hervorrufen lässt. Das heißt, der mutmaßlichen Gehirndetermination geht in Experimenten tausendfach eine Determination durch die Umwelt und von Menschenhand voraus.

Wenn die komplexe Interaktion eines Menschen in seiner sozial und kulturell geprägten Lebenswelt vergessen wird, dann ist es kein Wunder, wenn manche Hirnforscher ein reduzierendes und reduziertes Bild vom Menschen zeichnen.

Von der Gehirn- zur Selbstoptimierung

Wenn aber nicht nur das Bild des Homo neurobiologicus auf wackeligen Beinen steht, sondern man die oft beschworene Figur vom Gehirn als dem komplexesten uns bekannten Gegenstand des Universums ernst nimmt (Was ist Computational Neuroscience?), dann kann man über die Selbsthilfe- und Ratgeberliteratur rund ums Hirn nur staunen. Neben wissenschaftlich entwickelten Verfahren wie Pharmakologie und Gehirnstimulation werden heute selbst Sport und Meditation im Zeichen des Gehirns verstanden. Durch die geschickte Ausnutzung von Neuroplastizität - also der Formbarkeit des Gehirns - und kritische Lernperioden scheint alles möglich, wenn man sich an die richtigen Prinzipien der Neuro-Askese hält. Doch selbst für das verbreitete Gehirnjogging, mithilfe speziell entwickelter Spielchen das Gehirn zu stimulieren und so in vielen geistigen Leistungsbereichen besser abzuschneiden, lassen sich nicht ohne Weiteres wissenschaftliche Belege finden (No gain from brain training).

Neurodiskurse durchziehen heute zentrale gesellschaftspolitische Themen - besseres Lernen, psychische Gesundheit, mehr Produktivität dank Selbstoptimierung durch Gehirnoptimierung. Der Fokus aufs Gehirn lenkt aber von den sozialen Perspektiven auf diese Fragen ab, beispielsweise für wen und warum man sich überhaupt immer weiter optimieren sollte (Enhancement: Wer will immer mehr leisten?)?

Und selbst wenn sich im Gehirn Determinanten für und Korrelationen mit sozialen Problemen finden lassen, folgt daraus nicht automatisch, dass eine Gehirnintervention immer die beste geeignete Lösung sein muss. Denn der Mensch ist eben viel mehr als die Summe seiner neuronalen Verschaltungen; und selbst wenn uns unsere Verschaltungen festlegen, dann stellt sich in der Neurogesellschaft die Frage, wer eigentlich die Verschaltungen festlegt. Es ist jedenfalls höchste Zeit, die Neuro-Autorität mancher Hirnforscher kritisch zu hinterfragen - über die dafür nötigen Fähigkeiten verfügen wir zum Glück auch ohne Gehirnjogging.

In der Telepolis-Reihe ist eben das neue Buch von Stephan Schleim, Assistant Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen (Niederlande), erschienen: Die Neurogesellschaft. Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert (216 Seiten, 18,90 Euro).

Der Autor hinterfragt, ob die Entdeckungen der Neurowissenschaften über die Natur des Menschen unsere Gesellschaft verändern werden und ob neue technische Entwicklungen direkt in unsere Gehirne eingreifen? Im Buch werden die weitreichenden Aussagen der Neurowissenschaften über Mensch und Gehirn auf den Prüfstand gestellt. Es führt von den einschlägigen Experimenten zu den aktuellen Gerichtsentscheidungen. Am Ende steht die Frage: Geht es in der Neurogesellschaft um die Hirnforschung selbst oder die Autorität mancher Hirnforscher?

Zuvor ist von Stephan Schleim in der Telepolis-Reihe das Buch Gedankenlesen. Pionierarbeit der Hirnforschung erschienen.