Logos und Wirklichkeit

Gespräch mit dem Philosophen Thomas Metscher über Einheit und Differenz menschlichen Bewusstseins, den linguistic turn, Wittgenstein, Hermeneutik und ästhetische Wahrheit - Teil 2

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In seinem Buch Logos und Wirklichkeit sammelt Thomas Metscher die in den verschiedenen philosophischen Disziplinen verstreuten Teilerkenntnisse und bettet sie in einen weiten systematischen Ansatz ein. Dabei will er den von der idealistischen Philosophie behaupteten Zusammenhang der Vernunft materialistisch-interdisziplinär entwickeln und gleichzeitig die historisch und geographisch unterschiedlichen Rationalitätstypen nicht unterschlagen.

In Teil 1 des Interviews geht es unter anderem über Gehirnforschung, Ideologie, Shakespeare und das menschliche Bewusstsein

Herr Metscher, Sie haben Ihr Buch "Logos und Wirklichkeit" genannt. Ein gewichtiger Titel. Worum geht es?

Thomas Metscher: Mein Buch handelt im weitesten Sinne von menschlichem Bewusstsein, genauer gesprochen von gesellschaftlichem Bewusstsein in der Universalität seiner Äußerungen - als Konkretum, wie es sich in der Welt zeigt. Ich habe versucht, den gesamten Bereich vom alltäglichen Bewusstsein, den gegenständlichen Tätigkeiten über die Wissenschaft bis in die Höhenluft von Religion, Philosophie und Kunst zu erfassen.

Hier stand ich vor dem Problem, einen Begriff finden zu müssen, der das Gemeinte - Bewusstsein als Teil der Wirklichkeit - darstellt. Im Deutschen stehen uns hier nur einige Worte zur Verfügung. Der Titel Bewusstsein und Wirklichkeit schien mir deswegen nicht passend, weil das Wort "Bewusstsein" heute durch die neurophysiologisch bestimmte Bewusstseinsphilosophie stark besetzt ist, so dass beim Leser leicht eine falsche Assoziation entstehen könnte.

Andere Worte wie zum Beispiel "Vernunft" sind viel zu eng. "Geist" ist durch die lange idealistische Tradition vorbelastet. So bot sich in diesem Falle recht glücklich das aus dem Griechischen stammende Wort Logos an, welches zwar eingedeutscht, aber von allen zur Verfügung stehenden Begriffen am wenigsten belastet ist. Hinzu kommt: Das Wort Logos hat eine Vielschichtigkeit und Vielfalt von Bedeutungen. Allein das Langenscheid-Lexikon zählt 36 verschiedene Bedeutungen auf, die von Denken, Denkfähigkeit, Sprache, Wort, Unterredung, Erzählung bis hin zu Erklärung, Beweisführung und Plan reichen. Zudem ist der Logosbegriff mit einer Reihe von Bedeutungen auch im Alltagsleben verwurzelt. Gerade durch die Komplexität und Weite der Bedeutungen ist durch das Wort Logos der hier untersuchte Bereich gut eingrenzt.

Im Begriff Logos stecken also genau die Bedeutungen und Kategorien, die Sie in ihrem Buch in einen Entwicklungszusammenhang bringen. Können Sie uns diesen rote Faden in ihrem Buch kurz erläutern?

Thomas Metscher: Bewusstsein entsteht und entwickelt sich als Resultat evolutionärer Prozesse in den Vorgängen menschlicher Reproduktion. Dieser Sachverhalt ist durchgängig und von Beginn an prozesshaft zu denken. Hier liegt auch der Keim von Geschichtlichkeit. Im Sinne dieser Bildung nun stellt die menschliche Entwicklung eine ‚zweite Stufe' des evolutionären Prozesses dar, einen qualitativen Sprung, der sich mit der "Menschwerdung des Menschen" vollzieht. Diese Stufe wird mit der von Marx im ersten Band des "Kapital" entwickelten Analyse der allgemeinen Arbeit unabhängig von jeder gesellschaftlichen Form erreicht.

Es gibt selbstverständlich Vorformen, aber im Arbeitsprozess wird dieser Vorgang manifest, ist der Sprung vollzogen. In ihm siedle ich dann auch den Prozess kultureller Bildung an. Diese zweite Stufe ist gegenüber der ersten dadurch ausgezeichnet, dass in ihr gesellschaftliches Bewusstsein, also 'logos' in meinem Sinn, als Konstituente hinzutritt. Mit anderen Worten: Der Logos wird geboren aus der Lebensnot - dem Trieb zum Überleben, der Notwendigkeit der Reproduktion. Beim Menschen bedeutet das stets Reproduktion durch Arbeit.

Symbolisches und begriffliches Denken

Der elementare Logos ist im Arbeitsprozess sedimentiertes Bewusstsein, ihm sind die logischen Grundbestimmungen des Bewusstseins höherer Komplexitätsstufen eingebrannt. Denn mit der historisch-kulturellen Bildung menschlicher Gesellschaft entwickeln sich höhere kulturelle Komplexitätsstufen. Sie bringen die Entwicklung des Logos mit sich - als Voraussetzung und Resultat zugleich und machen dann auch Welterklärungsmodelle notwendig Diese besitzen zunächst den Charakter praktischer Weltorientierung, erweitern sich später jedoch zu umfassenderen Modellen (in Religion, Mythos, Kunst usf.).

Aus dem elementaren Logos gehen auch die Grundlagen symbolischen und später begrifflichen Denkens hervor und damit auch von Religion, Mythos, Kunst, Wissenschaft bis hin zur Philosophie. Auch diese entstehen ursprünglich aus lebenspraktischen Prozessen, aus Lebens- und Überlebensnotwendigkeiten, das wird zu oft vergessen. Sie bilden sich aus und verselbständigen sich im Prozess der Arbeitsteilung, konstituieren sich als ideologische Formen mit der Entwicklung von Klassengesellschaften. In diesem Prozess steht dann auch die Kunst, der mein besonderes persönliches und professionelles Interesse gilt. So schließt das Buch mit einem Teil zum ästhetischen Logos.

Der Kern in ihrem Buch ist also der Versuch, den Begriff des "elementaren Logos" zu entwickeln. Können Sie uns diesen näher erläutern?

Thomas Metscher: Der mit dem elementaren Logos gegebene Komplex kategorialer Bestimmungen, wie er der Marxschen ontologischen Analyse der Arbeit abzulesen ist, umfasst Subjekt und Objekt des Arbeitprozesses, den Arbeitenden und seinen Gegenstand, und den Prozess selbst als einen ganzen. Methodisches, instrumentelles und teleologisches Wissen gehören dazu. Dazu gehört, implizit zumindest, ein Wissen zeitlicher Abläufe und räumlicher Ordnung, ja ein Verstehen der Welt, in der der Arbeitsprozess stattfindet und Subjekt und Objekt dieses Prozesses ihren Ort haben.

Ich versuche zu zeigen, dass kategoriale Bestimmungen, wie sie etwa die Kantsche Kategorienlehre entwickelt, sich in der ontologischen Analytik des Marxschen allgemeinen Arbeitsbegriffs finden - dass sie, anders gesagt, in der Arbeit phänomenal aufzuweisen sind. Ich entwickle überdies als Hypothese den Gedanken, dass das Grundmuster dialektischer Vernunft, das 'übergreifende Allgemeine' im Sinne von Hans Heinz Holz, dem Arbeitsbegriff inhäriert

Der elementare Logos in diesem Sinn ist also der Ausgangspunkt meiner Überlegungen, von dem aus der rote Faden gezogen wird, der das Ganze, wie ich hoffe, zusammenbindet. Von diesem Einsatzpunkt her unternehme ich den Versuch, einen argumentativen Zusammenhang zu entwickeln und den Kontinent des menschlich-gesellschaftlichen Bewusstseins zu kartographieren.

Idiota de Mente

Ich versuche zu zeigen, dass es bereits auf dieser Ebene komplexe Bestimmungen von Bewusstsein gibt, sich dort Momente dialektischer Vernunft nachweisen lassen und so etwas wie Verstehen, also Weltinterpretation vorausgesetzt werden muss: Man muss einen Arbeitgegenstand verstanden haben, muss ihn in einen Weltzusammenhang einordnen können und so weiter, um ihn überhaupt bearbeiten zu können.

Kategorien wie Sein, Negation, Werden, Qualität, Quantität und Maß sind auf dieser grundlegenden Ebene bereits vorhanden, wie das berühmte Beispiel des Löffelschnitzers in Nikolaus Cusanus' Dialog Idiota de Mente zeigt: Wenn man einen Löffel schnitzen will, kann man dies nicht mit jedem Stück Holz gleich gut machen, sondern man muss es in seinen qualitativen wie quantitativen Bestimmungen kennen. Gesamtzusammenhang und Relationalität müssen gegeben sein: Ein Gegenstand im Zusammenhang und in Relation zu anderen ausgesondert, bevor er bearbeitet wird.

Diese Arbeit erfolgt zweckbestimmt, also teleologisch. Der Vorgang selbst besitzt eine Eigenbewegung, verändert und entwickelt sich mittels Negation. Es existieren Diskontinuität, Sprung und Übergang von Quantität in Qualität, denn irgendwann in diesem Prozess gibt es den Punkt, an dem dieses Stück Holz zum Löffel wird. Und so weiter. Also sind Bestimmungen, die ich in der dialektischen Logik finde, im Arbeitsprozess phänomenal vorhanden und nachweisbar, damit aber auch empirisch für jedermann nachvollziehbar.

Menschenrechte

Wichtig ist mir weiter das Verhältnis der vorliegenden Bestimmungen und Gestalten historischer Vernunft mit den Unterschieden in den kulturellen Bewusstseinsformen und des zugrundeliegenden elementaren Logos aufzuzeigen. Es ist heutzutage Konsens, dass man von der Pluralität der Bewusstseins- und Kulturformen ausgeht und die Frage nach der Einheit gar nicht mehr gestellt wird. Ich habe mit Hans-Jörg Sandkühler einen ausführlichen Briefwechsel geführt, in dem er als Reaktion auf mein Buch zum Beispiel über Menschenrechte schreibt, so etwas wie Einheit und Vernunft gebe es gar nicht und wäre auch gar nicht notwendig, da man einfach voraussetzen könne, dass hier etwas Gemeinsames existiere und dies dann pragmatisch bewältigt.

Für mich klingt das nach einem Waffenstrecken der Philosophie, denn ein Anspruch der Philosophie, zumindest des deutschen Idealismus; war immer, an einer Einheit des Denkens festzuhalten und den Zusammenhang der Vernunft zu begründen. Mein Buch ist der Versuch, diesen Weg materialistisch bis hin zu den objektiven Bewusstseinsformen Religion, Mythos, Wissenschaft, Kunst und Philosophie zu begehen.

Inwiefern ist die Geschichte in Ihrem Buch von Bedeutung?

Thomas Metscher: Die Geschichte ist von gleicher Wichtigkeit wie die Kategorie gegenständliche Tätigkeit, mit der sich Marx sowohl vom alten Materialismus als auch vom Idealismus unterscheidet, indem er darin das Moment des alten Materialismus - die Sinnlichkeit und Gegenständlichkeit der wirklichen Welt - mit dem im Idealismus herausgearbeiteten Moment der Tätigkeit, der Produktion verbindet. Die Gegenständlichkeit ist auch bei anderen Philosophen zentral.

Nehmen wir zum Beispiel als Einsatzpunkt das Tractatus Philosophicus Logicus von Ludwig Wittgenstein. Wittgenstein, ein großer und radikaler Denker, setzt ein mit der Welt als Gesamtheit der Tatsachen, die Tatsachen als das Bestehen von Sachverhalten, die Sachverhalte als Verbindung von Gegenständen. Es ist interessant, dass auch er wie Marx die Gegenständlichkeit als axiomatischen Punkt am Anfang seines philosophischen Denkens bemüht. Nur ist hier der große Unterschied, dass Wittgenstein auf dem Standpunkt von Feuerbach steht, den Marx kritisiert, nämlich die gegenständliche Welt, als Gegenstand, als fixum zu nehmen, während Marx sie als Tätigkeit begreift und dadurch die Zeitkategorie, also Geschichtlichkeit involviert.

"Nichts ungeschichtliches unter dieser Sonne"

Weiter ist Geschichte nicht nur in einem strukturellen, sondern auch empirischen Sinne verifizierbar: Es gibt nichts ungeschichtliches unter dieser Sonne. Wer wie ich in Bergen herumsteigt, hat mit Steinen zu tun. Steine, scheint es, sind zeitlos, sie scheinen unveränderbar, wie für die Ewigkeit geschaffen. Dabei haben auch sie ihre Geschichte, wenn nur nach anderem Zeitmaß. Die Gebirge sind nicht für ewig dar. Ja man entdeckt mitunter Muscheln, Schnecken, Korallen in ihnen, Ablagerungen einer Meeresvergangenheit. Da erinnern wir uns: Dieser Stein kommt aus dem Meer, und die Muscheln sind Teil seiner Geschichte. Oder er stammt aus der Tiefe der Erde.

Geschichtlichkeit ist also eine Grundkategorie des Marxschen Denkens - des ‚neuen Materialismus', der sich eben historisch und dialektisch versteht. Wer die Wirklichkeit umfassend und komplex erfassen und begrifflich beschreiben will, muss auf die Kategorie Geschichte zurückgreifen. Alles andere bleibt Stückwerk. Deshalb ist der Marxsche Ansatz dem von Wittgenstein und der bürgerlichen Philosophie nach ihm überlegen, selbst jenen, bei denen ab und an ein wenig Geschichtlichkeit auftaucht.

Mit diesem marxschen Grundtheorem kann man die Phänomene in der Perspektive ihrer Veränderung am adäquatesten erklären: Die Gegenständlichkeit ist werdend-geworden. Gegenstände sind immer etwas, was geworden ist, aber gleichzeitig im Prozess eines Werdens steht und in der menschlichen Tätigkeit kann dieses Werden durch Bewusstsein zumindest beeinflusst werden.

Sie führen in Ihrem Buch aus, dass in der Sprache verschiedene Aneignungstypen von Welt vorliegen, die wiederum die Basis für die Assimilation von Wirklichkeit im Kulturbildungsprozess bilden. Können Sie uns das erläutern? Was hat Sprache mit Logos zu tun?

Thomas Metscher: Gerade in der marxistischen Tradition hat aus Gründen, die mir nicht einsichtig sind, die Frage nach Sprache keine zentrale Rolle gespielt und es schien mir gerade im Rahmen einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins von einiger Wichtigkeit, auf die Sprache zu sprechen zu kommen. Für Marx und Engels war die Sprache die erste materielle Existenz des Geistes, des Logos, des Bewusstseins. Auch der Geist liegt immer nur in materieller Form vor und zeigt sich erst einmal anhand von Tönen und Lauten. Den hegelschen reinen Geist gibt es also gar nicht.

Diesen Ansatz nehme ich auf, wenn ich von der Sprache als der ersten materiellen Existenzform des Logos schreibe. Im Unterschied zum Marxismus spielt Sprache in der bürgerlichen Philosophie, etwa bei Heidegger, Wittgenstein, Gadamer und nach den linguistc turn erst recht eine große Rolle. Nach den Meisterdenkern des Poststrukturalismus ist Welt gar nur noch als Sprache vorhanden. In diesem Umfeld müsste sich eigentlich eine marxistische Position ganz gut behaupten können.

Erkennen, Wissen und Verstehen

Ich entwickle den Gedanken, dass in der Sprache für den Menschen Welterfahrung materiell präsent ist. In gewisser Weise knüpfe ich hier auch an Wittgenstein an. Seine Theorie des Sprachspiels, also eines kulturell geregelten Universums sprachlichen Handelns, in denen sich sprachliches Agieren und kommunikatives Handeln zu einem eigenen in sich geschlossenen Zusammenhang verdichten, ist in der Tat zu gebrauchen, nur liegt Wittgenstein mit seiner These, das Sprachspiel hätte nichts mit der Welt zu tun, falsch: Gerade im Universum der Sprache ist die Welt symbolisch gegeben.

Des weiteren wird in der Welt Wissen und Weltverstehen sedimentiert: Ich versuche Wissen und Verstehen auf erkenntnistheoretischer Ebene in Relation und das Verstreute, was in der gegenwärtigen Philosophie vorhanden ist, in einen Zusammenhang zu bringen: Zum Verstehensproblem gibt es die riesige Tradition der Hermeneutik; zum Wissen gibt es das gewaltige Fachgebiet der Epistemologie, aber ihre Spezialisten, so habe ich den Eindruck, nehmen sich nicht einmal mehr zur Kenntnis. Aber im menschlichen Bewusstsein, in der Art und Weise, wie wir Welt haben und uns aneignen, uns die Welt durch Bewusstsein erschließen, gehen Erkennen (als positiver Akt), Wissen (das sedimentierte Resultat von Erkennen) und Verstehen (als eine Deutung von Welt) eine Symbiose ein.

Dichterische Sprache und Alltagssprache

In der dichterischen Sprache wird Weltverstehen artikuliert, aber dies geschieht bereits in der Alltagssprache, wo Welt sprachlich erschlossen und so verstehbar gemacht wird. Dieser Aspekt der Sprache bildet einen Mittelpunkt dichterischen Sprechens. In der dichterischen Sprache wird Welt als Zusammenhang entworfen und ‚interpretiert'. So komme ich zu dem Gedanken, dass im Universum der Sprache die Welt, tendenziell sogar Welttotalität präsent ist. Ich diskutiere auch die umstrittene Frage, inwiefern die Sprache Weltbildcharakter hat. Ich spreche hier von weltbildnerischen Potentialen die aus der dichterischen Sprache (aber nicht aus der Umgangssprache) herausgeholt werden können.

Ihre Thesen bilden also letztendlich doch einen Gegenentwurf zum linguistic turn und zur Philosophie Ludwig Wittgensteins?

Thomas Metscher: Ich würde eher behaupten, dass meine Thesen zur neueren Linguistik (so weit ich sie kenne) quer stehen. Dort werden diese Probleme auf ganz andere Art behandelt. Gegenentwurf ist hier ein zu großes Wort. Ich würde auch zwischen Wittgenstein und dem, was dann später aus Wittgenstein gemacht wurde, unterscheiden. Dieses originelle Denken musste erst von Bertrand Russel domestiziert werden, die wittgensteinsche Linguistik und Philosophie ist eine völlig akademische Disziplin geworden, während Wittgenstein ganz im Gegenteil überhaupt kein akademischer Philosoph war.

Wittgensteins Tractatus wird jedenfalls eröffnet mit einem Paukenschlag: ‚Die Welt ist alles, was der Fall ist', die ‚Gesamtheit der Tatsachen'. Hier ist der Versuch, auf die radikal möglichste Weise mit traditionellem Denken, dem überlieferten metaphysischen Ballast zu brechen. Seine Hinwendung zur diesseitigen Welt ist vergleichbar der Wendung Feuerbachs (gegen Hegel), doch kannte Wittgenstein diesen sicher nicht. Er verbleibt im Grunde auf dem Standpunkt Feuerbachs und des alten Materialismus, ohne es zu wissen, vermute ich. Es ist der Standpunkt der fertigen Phänomene, der unveränderbaren Welt.

Marxens Einsatz bei der gegenständlichen Tätigkeit geht meines Erachtens über Wittgenstein hinaus - bis heute über alle bürgerliche Philosophie. Für Marx' Standpunkt sind die Tatsachen geschichtlich. Sie sind werdend-gewordene. Ihre Relation - ihr Zusammenhang, ihre Gesamtheit - ist zudem dialektisch. Als menschlich-gesellschaftliche sind sie - ein weiteres Zudem - Resultat menschlichen Handelns. An diesem Punkt müssen wir einsetzen und weiterdenken. Denn hier liegen unsere Stärke und unser ungebrochenes Potential. Deshalb großen Respekt für Wittgenstein, doch im Bewusstsein seiner Grenzen, die die Grenzen seiner Klasse sind.

Sprachspiel und Abbild

Der frühe Wittgenstein hat sogar noch eine mechanische Einszueins-Relation vom Abbildcharakter der Sprache behauptet. Hinterher hatte bei ihm aber die Sprache gar nichts mehr mit der Welt zu tun. Dabei kann ich etwas mit der Idee anfangen, dass die Welt eine Art Sprachspiel darstellt, weil damit eine gewisse autonome Struktur postuliert wird. Ich komme ja aus der Philologie und für mich ist die poetische Sprache die höchstentwickelte, nach der sich eigentlich Sprachtheorie auszurichten hat. Die Idee des Sprachspiels ist mir sehr sympathisch, nur dass diese Idee nun nichts mit der Welt zu tun haben soll, leuchtet mir nicht ein und ist auch, wie ich finde, eine völlig unnötige Folgerung. Wittgenstein hätte nämlich durchaus seine Abbildrelation in das Sprachspiel integrieren können.

Ihr Buch schließt mit dem Satz ab: "Die Wahrheit der Künste, in letzter Analyse ist kathartisch." - Können Sie und das näher darlegen?

Thomas Metscher: Die ästhetische Wahrheit ist eine Grundfrage der Künste. Dies hat eine objektive Entsprechung in den Werken, wie Wirklichkeit verarbeitet wird, aber Wahrheit in den Künsten läuft letzten Endes doch im ästhetische Erlebnis, das in den Werken kommuniziert und in der kathartischen Erschütterung transportiert wird. Am Ende dieser Kunsterfahrung steht immer Rilkes: "Du sollst dein Leben ändern."

Ich mache die ästhetische Wahrheit an einer Reihe von Kategorien fest, die sowohl die Form wie den Inhalt betreffen, im Kern an der Dialektik beider. Dabei geht es, was die inhaltliche Seite angeht, um die Authentizität der menschlichen Erfahrung, die in den Werken gestaltet ist, um Widerstand, Befreiung, Kritik, Utopie, auch um die Darstellung des Typischen geschichtlicher Erfahrung - also durchaus auch um Dinge, die wissenschaftlich relevant sind. Ja es gibt die Überschneidung mit wissenschaftlicher Wahrheit. Auf der formalen Seite sind es Konkretion, Prägnanz, Intensität der gestalteten Erfahrung, die hier genannt werden können.

Diese formalen Mittel aber haben einen Sinn. Sie bewirken etwas, was keine Wissenschaft erreicht. Es ist der Effekt der Katharsis, an den ästhetische Wahrheit gebunden ist - was sie von aller Wissenschaft unterscheidet: einer leidenschaftlichen Berührung, einer affektiven Betroffenheit, die im Kern der ästhetischen Erfahrung steht, diese zu einem echten Erlebnis werden lässt. Kraft der Form wird der gestaltete Inhalt zur kathartischen Erfahrung, Inhalt und Form sind die Bedingungen der Katharsis. In dieser Trias, und nur in ihr konstituiert sich, was Wahrheit in der Kunst heißen kann. Der Brecht der großen Stücke und späten Inszenierungen hat das durchaus gewusst. Leidenschaft, sagt er, trete an die Seite von Verstand. Sie zusammen erst machen große Kunst - über alle Ideologie hinaus.

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