Auch der gute Mensch muss gelegentlich recht haben

Zu Peter Sloterdijks Theorie der Gaben

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"Warum ich doch recht habe", lautet die Überschrift unter der Peter Sloterdijk in der Zeit neuerlich seine Vision zur Ersetzung der Steuern durch eine "vom Geist der Gabe" bestimmte Gesellschaft darlegt und gegen seine Kritiker verteidigt. Qua Überschrift klassifiziert sich diese Sprecherposition also als Rechthaberei, und wie so häufig bei selbsternannten Rechthabern natürlich auch als die eines Verkannten. Soll man hier eher an trotzige Ätsch-Ich-habe-recht-Kindergartenallüren denken oder als stilistisches Vorbild Friedrich Nietzsches Ecco Homo, genauer die Kapitel "Warum ich so weise bin", "Warum ich so klug bin" und "Warum ich so gute Bücher schreibe", vermuten?

Wie dem auch sei, Peter Sloterdijk verteidigt seine Position, derzufolge nur eine "Ethik des Gebens die Stagnation der zeitgnössischen politischen Kultur überwinden könnte". Dabei konzidiert er eingangs – man möchte direkt sagen: generös –, dass niemand leugnen wolle, dass zu einer "geordneten Staatlichkeit ein zuverlässiges Finanzwesen gehört". Steuerabgaben scheinen also nicht per se abwegig zu sein, auch wenn, so Slotderijk dann doch wieder pragmatisch, "über ihre angemessene Höhe zu streiten bliebe". Nun will Sloterdijk hier nicht den Bund Deutscher Steuerzahler um eine philosophische Abteilung ergänzen, in die Niederungen der Steuersätze begibt sich denn doch nicht hinab. Vielmehr will er den im "Innersten des Selbstverständlichen" waltenden Komplex von Annahmen herausdestillieren, um diesen als völlig "unplausibles Konstrukt" zu erweisen.

Das neuzeitliche Staatwesen kenne vier Modi, um sich der Güter seiner Bürger zu bemächtigten: "Plünderungen", "Auflagen", "Gegenenteignungen" und "Spenden". Das gegenwärtige Fiskalsystem stelle ein ungutes Amalgam aus Auflagen und Gegenenteignungen dar, in dem sich autoritär-obrigkeitsstaatliches und sozialistisches Umverteilungsdenken verbinden. Rettung aus diesem irrlichternden System bietet die Revolution der gebenden Hand: Es soll das mechanistisch erstarte Zwangsregime, das nur den "Tribut von Unterworfenen" kennt, durch die freiwillige und "adressierte Gabe" ablösen – eine "von Einsicht und generösem Beitragswillen getragene aktive Gebe-Leistung zugunsten des Gemeinwesens". Eine schöne Vision, insbesondere in der Vorweihnachtszeit.

Der Geist der Gabe

Gegenüber einer von "nebulösen Rechtsformen statuierten Schuld der Steueruntertanen" erstrahlt die generöse Gabe in reinem, schönem Licht. Leider sehen Theoretiker der Gabe diese weniger idealistisch. Geben ist – darin stimmen Marcel Mauss, Jean Starobinski und Pierre Bourdieu überein – ein höchst ambivalenter Akt.

Zwar gibt es immer wieder Versuche, die Gabe "phantasmatisch zu überhöhen", wie die Literaturwissenschaftlerin Gisela Ecker in ihrer Studie Giftige Gaben schreibt, aber grundsätzlich sind Gaben soziale Akte, die, wie Bourdieu feststellt, auf Täuschungen basieren. Gaben folgen einer Verschleierungstaktik, die über den inhärenten Tauschmechanismus hinwegtäuschen muss, um zu funktionieren: Gabe und Gegengabe ergänzen sich, mag letzere auch immaterieller Natur, etwa Dankbarkeit, sein.

Aus diesem Grund kann es auch keine reine Gabe geben. Gerade die Gabe verstrickt in den Schuld und Verschuldungszusammenhang, aus dem Sloterdijk die Bürger befreien will. Es ist ausgerechnet der von Sloterdijk als Denker einer immer als "noch im Kommen begriffenen Demokratie" zitierte Jacques Derrida, der die Gabe als "Figur des Unmöglichen" radikal entidealisiert hat: Die reine, wirkliche Gabe folge einer anökonmischen, der Tauschzirkulation entzogenen Logik. Als solche tritt sie nur selten, nur spontan und deshalb als "Überraschung" auf.

Die reine Gabe darf weder dem Geber noch dem Empfänger ins Bewusstsein treten – welch ein Kontrast zur Vision eines Finanzministers, der Sloterdijk zufolge künftig sein "Ressort als Seminar für Geberbildung zu führen" habe. Trotzdem solle man an der reinen Gabe, so Derrida, als Ideal festhalten. Fraglich ist allerdings, ob ein Staatswesen seine Belange auf einer Figur des Unmöglichen aufbauen sollte.

Der despotische Staat

Angesichts des Furors, mit dem Sloterdijk auf das bestehende Fiskalsystem losgeht, bleibt seine Gegenvision der Gabe merkwürdig unterkomplex. Diesem idealisierten Konstrukt der schönen Gabe traut er nichts weniger zu, als die Gesellschaft aus dem "fiskalischen Mittelalter" zu befreien, in dem der unterworfene Steuerbürger entweder stumpf seine Abgaben zahlt oder auf Steuerflucht sinnt.

Sloterdijk will die fehlende Legitimierung des Steuerstaates nachweisen; auf diese Legitimierung verzichte nur "gern, wer offen für die vorgeblich gutartige Despotie des leviathanischen Wohlfahrtsstaates eintritt". Das Wort vom despotischen Wohlfahrtsstaat ruft die liberale Tradition nicht nur der Staatsverachtung, sondern auch die Wut auf die Empfänger von Transferleistungen auf, die sich der steuerpflichtige Bürger anders als mit einer "adressierten Gabe" eben nicht aussuchen kann.

Tatsächlich katapultieren Sloterdijks Einlassungen die Gesellschaft nicht ins Mittelalter, aber immerhin doch um gute 200 Jahre zurück. Sie erinnern an die Debatten um den Staatszweck am Beginn der Moderne: Welche Fürsorgepflicht hat der Staat, welche Rolle kommt dem Almosen zu? Im Zuge der Rezeption liberaler Ideen wurde die Staatszweck-Lehre, die bis dato die "Glückseeligkeit" aller als Staatsaufgabe definiert hatte, umformuliert: Namentlich Kant sieht den Staat nun als Garanten der Freiheit des Einzelnen. Almosen seien hingegen eine "Tugendpflicht", die keiner "äußere Gesetzgebung anheimzustellen" sei. Doch war Kant kein Freund der freiwilligen Gaben: "Durch die Almosen werden Menschen niedrig gemacht." Der Staat habe sich deshalb um die Belange der Fürsorge zu kümmern. Das kann er nur tun, wenn er die Mittel dazu hat.

"Frei adressierbare Gabe"

Seine Kritiker, moniert Sloterdijk, hätten angesichts seiner Utopie eines generösen Gemeinwesens einzig den "Kollaps des sozialen Lebens" befürchtet. Nun hat ja niemand etwas dagegen, dass Wohlhabende spenden. Bekanntlich rief Bill Gates dieses Jahr Reiche dazu auf, ihr Vermögen zu spenden. Als Mitstreiter konnte Gates hingegen den Milliardär Warren Buffet gewinnen. Als einer von vierzig "Patriotic Millionaires for Fiscal Strength" wandte sich dieser allerdings jüngst auch per öffentlicher Annonce an Präsident Obama, um mehr Steuern zahlen zu können.

Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Steuern muss offenbar nicht durch freigiebiges Spenden schwinden. Der deutsche Multimillionär Peter Krämer kritisierte hingegen die Spendenaktion von Bill Gates, da sie innerhalb des US-Finanzsystems daraus hinausliefe, dass Reiche entscheiden, ob sie lieber spenden oder Steuern zahlen: "Nicht der Staat soll entscheiden, was gut für die Menschen ist, sondern die Reichen wollen dies bestimmen. Das ist eine Entwicklung, die ich wirklich schlimm finde. Wer legitimiert diese Menschen zu entscheiden, wo solche riesigen Beträge hinfließen?"

Die Legitimationsfrage, die Sloterdijk an den Steuerstaat stellt, muss sich, folgt man Krämers Argument, auch die "adressierte Gabe" gefallen lassen. Da Sloterdijk sie nicht stellt, bleibt sie leider unbeantwortet.

Das Gute im Menschen

Sloterdijk wirft seinen Kritikern vor, dass sie "ganz entschieden nicht glaubten, dass aus Freiwilligkeit in sozialen Angelegenheiten je etwas Gutes und Verlässliches entsteht". Wer nicht auf die gute, generöse Anlage des Menschen vertraue, hege "traurige Ansichten über die menschliche Natur".

Nun reicht eigentlich ein kurzer Blick in eine von Kriegen, Armut und Umweltkatastrophen bestimmte Welt, um traurige Ansichten von der menschlichen Natur durchaus plausibel zu finden. Aber es ist Vorweihnachtszeit und da haben auch hochgestimmte Erwartungen ihr Recht. Doch jenseits dieser vorfestlichen Gefühle sieht die soziale Realität offenbar anders aus: Die neue Studie des Bielefelder Konfliktforschers Wilhelm Heitmeyer, die vor kurzem vorgestellt wurde, konstatiert eine "Vereisung des sozialen Klimas" in Deutschland.

Insbesondere Besserverdienende verweigerten sozial schwachen Gruppen zunehmend ihre Unterstützung und werteten diese ab. Einen Grund für die wachsende Entsolidarisierung der Wohlhabenderen sieht Heitmeyer in der Finanzkrise. Aktienbesitzer etwa hätten Angst vor Verlusten oder gar schon Teile ihres Vermögens verloren. Der gute Mensch, er folgt also zum Beispiel ganz ungut der Fieberkurve der Börsen.

Ebenso spekulativ wie bestimmte Aktienfonds sind deshalb Überlegungen über eine menschliche Natur, die nach allem, was wir wissen, extrem formbar, elastisch und flexibel ist. Weder sollte der Staat seine Belange von den gebenden oder eben nicht gebenden Händen dieses emotionalen Wackelkandiaten namens Mensch abhängig machen, noch taugt die von schöner Spendenbereitschaft bestimmte Weihnachtsstimmung zur Seinsbestimmung des Sozialen:

Der Mensch muss sich hüten vor dem moralischen Eigendünkel, daß er sich selbst für moralisch gut hält, und eine vortheilhafte Meinung von sich hat, das ist ein träumerischer Zustand, der sehr unheilbar ist.

Immanuel Kant

Der Text erschien am 10.12.2010 in der Frankfurter Rundschau.