Postpubertäre Revolutionslyrik

Das Gespenst des Kommunismus, Teil II: Die sozialromantische Kampfschrift eines anonymen, aber aufgebrachten linken Komitees verspricht den kommunalen Ausgang aus der spätrömischen Dekadenz

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Jüngst hat ein Pamphlet, das einen baldigen "Aufstand" prognostiziert, wochenlang nicht nur für mächtigen Betrieb im deutschen Blätterwald gesorgt, sondern auch zu einem albernen "Richtungsstreit" unter den Kulturredaktionen geführt. Verfasst hat es ein anonymes Komitee aus Frankreich. Telepolis berichtete letztes Jahr schon über Herkunft, Hintergründe und behördliche Reaktionen (Hakenkrallen Made in Germany).

This is not the end
This is not the beginning
Just a voice like a riot […]
All I wanna do is trade this live for something new.

Linkin Park, Waiting For The End

Bunter Revolutionscocktail

Im ersten Teil unserer kleinen Abhandlung über das Gespenst des Kommunismus haben wir in groben Zügen das geistige Umfeld zu beschreiben versucht, dem es unserer Ansicht nach entsprungen ist. Fügt man noch die Adressen des "Lagerphilosophen" Agamben, der "Maschinentheoretiker" Deleuze/Guattari und den "Situationskünstler" Guy Debord hinzu und mixt das alles noch mit einigen Passagen aus den Kampfschriften der "Stadtguerilla" der siebziger Jahre, dann hat man jenen bunten Theorie-Cocktail zusammen, der in Aufmachung, Abfassung und Stil mitunter an jenes wirre Mash-up erinnert, das ein "Wunderkind" namens Hegemann dank einer listigen Lektorin in zwei Buchdeckel pressen konnte (Ist Axolotl Roadkill Jugendanscheins-Pornographie?).

Besonders originell oder intellektuell anregend ist das "Aufstandsmanifest" nämlich nicht. Auch wenn der Text manche Phänomene der Biopolitik, der Gesellschaftsmaschine und der Sozialkybernetik verbal verdichtet und zuspitzt, wird man beim Lesen das Gefühl nicht los, dass man das alles schon mal irgendwie gehört oder gelesen hat, bei Trotzkisten und Radikalutopisten, Linksspießern und Kommunensektierern, nur nicht so zornig, wild und smashig. Nochmals wird in sieben kurzen Kapiteln die "Hölle" beschrieben, in der die Menschen dank des kapitalistischen "Schweinesystems" zu leben gezwungen sind:

  • die biopolitische Zurichtung zu "klassifizierbaren und kontrollierbare Ichs"
  • Das kalte Neonlicht der Warenwelt und ihrer Konsumtempel
  • die Entwertung und Enteignung emanzipatorischer Kampfbegriffe wie Selbstbestimmung und Eigenverantwortung
  • die Beraubung lebendiger Körperlichkeit durch Massenpornografie, Lohnarbeit und Fitnesswahn
  • die Kolonialisierung von Gedanken, Gefühlen und Genüssen, die uns zu einsamen Konsum-Monaden macht
  • die Entwendung einer eigenen Sprache, die eine gemeinsame Erfahrung lehren könnte
  • der Tod der Zivilisation insgesamt

Und nochmals wird das "wahre" "echte", und "unverfälschte" Leben beschrieben, die "Gebrauchswerte" schaffende "lebendige Arbeit" auf dem Land, das dem "widerwärtigen" und "falschen Leben" und der "toten Arbeit" in der Stadt als Alternative gegenübergestellt wird. Erneut wird die "Wiederaneignung des Lebens" verlangt, das Leben zum Eigentum jedes Einzelnen erklärt und der Körper als lebendiger und einzigartiger Gesamtzusammenhang beschworen.

Selbst Wachstumskritiker und jene Ökologen, die mit dem Apple auf dem Schoß in Kreativcafès zur Bio-Askese aufrufen, bieten keinen Ausweg. Auch die "Parolen der Wachstumsrücknahme", die Attac oder Fair Trade dreschen, schreiben nur die "Logik der totalen Ökonomie" fort.

Wo Gefahr ist, wächst das Rettende

Auch wenn die "Hölle" diesmal nicht, wie noch bei Jean Paul Sartre, wir, sondern praktischerweise wieder mal die anderen sind, die Rivalität der Sender um Einschaltquoten und nicht falscher Ehrgeiz und Aufmerksamkeitswahn, um ein aktuelles Debattenthema aufzugreifen, so ist "die Gegenwart", obwohl alles noch viel "schlimmer werden kann", doch nicht "ausweglos".

Denn: Das Ende des globalen Kapitalismus ist nahe, der Zusammenbruch des Systems bereits voll in Gang. Das Politische lebt, und ist in den Vorstädten, auf den Straßen, auf öffentlichen Plätzen, aber auch in privaten Räumen aktiver denn je. Maskierte und Demoralisierte, Wutbürger und Codebrecher fackeln Autos ab oder schottern Gleise, sie treten Türen ein oder rauben Geschäfte aus, sie erschleichen sich Staatsknete oder klemmen Stromzähler ab, sie plaudern Betriebsgeheimnisse aus oder reiten Cyberattacken.

Macht den Kommunen

"Diese ganze Serie von nächtlichen Anschlägen, anonymen Angriffen, Zerstörungen ohne Geschwafel", schreibt das Komitee, "hat das Verdienst […], die Kluft zwischen der Politik und dem Politischen so weit wie möglich zu öffnen." Durch sie werde wieder "Wahrheit" produziert, eine "Wahrheit", die "einen trägt". Darum "beginnt jeder aufständische Prozess mit einer Wahrheit, die man nicht aufgibt", die sich durch "Resonanz" und "Druckwellen" verbreitet, mit "eigenen Schwingungen" und "eigenen Rhythmen".

Die Macht, die es zu stürzen gelte, organisiere sich in der "Metropole", in ihren "Flüssen und Avenuen, ihren Menschen und ihren Normen, ihren Codes und ihrer Technologie". Wer ihr "Hirn", diese "grauenhafte Versteinerung" zerstöre, ruiniere daher auch die "Totalität der Warenwelt in jedem ihrer Punkte."

Wie sich die soziale Kontingenz, die sich der fortschreitenden Pluralität von Perspektiven und Erwartungshaltungen verdankt, sich in der "Vielheit der Kommunen" selbst organisieren soll, wieder einem "gemeinschaftlichen Streben" oder einem "gemeinsamen Willen" zuführen lässt, ohne dass man doch wieder auf ein größeres Organisationsgebilde zurückgreifen muss, das man dann doch wieder Staat, Politik oder Verwaltung nennen wird, bleibt das große Geheimnis der "anonymen Quelle".

Realitätstests wagen

Unwillkürlich fragt man sich beim Lesen solch blumiger Sätze, ob in diesem abgründigen Hass auf alles Urbane und Metropolitane nicht doch bisweilen das "Gespenst" Pol Pots zwischen den Zeilen hindurchlugt; und man fragt sich auch, ob die anonymen Verfasser ihr ländliches Idyll, in dem sie offensichtlich leben, schon mal verlassen haben und sich in einem der vielen Kieze und Elendsvierteln, wo sich die neue Avantgarde des Umsturzes angeblich versammelt, für längere Zeit aufgehalten haben.

Vielleicht sollten einige der Verfasser mal ein paar Gespräche mit den Bewohnern dieser Hochhaussilos und Quartiersburgen führen, um ihre sozialromantischen Vorstellungen vom "wahren Leben" der Entrechteten, Vertriebenen und Entwurzelten, einem Realitätscheck zu unterziehen. Sie sollten sich von dem Terror der jugendlichen Banden erzählen lassen, dem sie dort Tag für Tag ausgesetzt sind.

Der Reporter Jacques Davignac hat jüngst für Rue89 einen kleinen, eher unbeachteten Bericht über die Bandenkriege abgefasst, die Tag für Tag in den Elendsquartieren Marseilles stattfinden (Kalachnikov et gilet pare-balles: la Baby Connection de Marseille).

Danach streckte ein Kommando von fünf Leuten ein elfjähriges Kind, das mit Drogen handelte, mit einer Kalaschnikow nieder, zum vierzehnten Mal in diesem Jahr. Seit Jahren bekämpfen sich in Marseille Davignac zufolge Roma-Banden und maghrebinische Gangs. Bei einem anderen "Racheakt" wurde wiederum ein 16-Jähriger verhaftet. Am Steuer des Wagens, aus dem er geschossen hatte, saß sein Vater. Kalaschnikows werden, zitiert der Autor einen Polizisten, "wie wegwerfbare Rasierer" benutzt. "Sie stecken sie nach Gebrauch entweder in Brand oder lassen sie liegen. Sie haben massenweise davon im Keller."

Kraft der Gewalt

Zu glauben, dass Gewalt der Gesellschaft jene Kraft verleiht, den Niedergang und Verfall der Sitten aufzuhalten, erinnert nicht zufällig an die Schriften von Georges Sorel. Diesen positiven Wert hat sie aber beileibt nicht. Die jüngere Vergangenheit hat das nachhaltig gezeigt. Im "Zerfall der Gesellschaft" findet man vielleicht "nihilistische Intuition", aber keinesfalls den notwendigen Umschlag zum Besseren.

Und mit ländlicher Nachbarschaftshilfe und bargeldlosen Tausch, mit allabendlichen Besuchen und kommunaler Echtheitsmystik können auch die "metropolitanen Wüsten" nicht "wieder bevölkert" werden. Wenn dieses Steinzeitidyll die linke Vision einer "kommenden Gemeinschaft" ist, die die "Idee des Kommunismus" in sich tragen soll, dann könnte uns tatsächlich nur noch ein Gott retten.

Was der "kommende Aufstand" nämlich liebend gern herbeisabotieren möchte: Städte mit lokalen Gemeinschaften, daniederliegender Infrastruktur und rechtsfreien Räumen, gibt es in Nigeria, Somalia oder Mexiko, aber auch direkt vor unserer Haustür, in Paris, Berlin oder Rotterdam. Auch dort herrschen Clans, Gangs und Kalaschnikows mit Erpressung, Drogen und Ehrenmorden über manche Straßenzüge und Straßenviertel. Dort "knallt" es wirklich, allerdings nicht in jenem sozialromantischen Sinn, den sich das "Komitee" auf ihren kommunal bewirtschafteten Bauernhöfen herbeifantasiert.

Überdruss wächst

Angesichts derart kruder Revolutionsmystik verwundern manche Reaktionen der großen Tages- und Wochenzeitungen doch sehr. Immerhin ist der Text bereits vor gut drei Jahren in Frankreich erschienen. Und obwohl er danach eine Zeitlang im Internet kursierte, ist die Schrift, vom Freitag mal abgesehen (Ein linkes Manifest als Bestseller) hierzulande erst richtig zur Kenntnis genommen worden, nachdem es in Buchform auch auf Deutsch erschienen ist.

Warum die knapp hundertzwanzig Seiten umfassende "Flugschrift" dann diese Wirkung in den Redaktionsstuben hinterlassen hat, sich mancher Rezensent zu enthusiastischen Kommentaren hat hinreißen lassen, ist allerdings nur schwer zu verstehen. Sicher, gab es eine spektakuläre Häufung von Bürgerprotesten gegen Sparpakete und Großprojekte, Lebensarbeitszeiten und Verschuldungskrisen in Griechenland, Frankreich und Deutschland, bei denen der Text schon mal als Handout unter den Demonstranten herumgereicht worden sein soll. Davor gab es im Mai dieses Jahres in Berlin im Haus der Kulturen schon einen Wut-Gipfel, der sich mit der Thematik, der weltweit anschwellenden Wut-, Zorn- und Empörungswelle gezielt auseinandersetzte.

Die Heftigkeit erklären, mit der sich die Redaktionen auf diesen Text stürzten, kann dieser Vorlauf allerdings nicht. Offensichtlich hat sein "Sound", wie Der Freitag vermerkte, einen empfindlichen Nerv bei dem einen oder anderen journalistischen "Berufszyniker" getroffen. Auch in etlichen Redaktionsstuben grassieren Zorn und Wut; nicht nur über die "Ödnis, die jeder politisch denkende Mensch empfinden muss" (Marc Felix Serrao), es wächst auch die Angst, demnächst Opfer prekärer Verhältnisse zu werden. Und auch dort scheint sich ein Überdruss aufgestaut zu haben, dem der "schneidige Ton", den der Text anschlägt, ein Ventil liefert, um zumindest rhetorisch mal richtig Dampf abzulassen.

Popkultureller Mainstream

Und das vor allem im bürgerlichen Lager. Reagierten die taz (Revolution der Melancholie) Jungle World (Links ist das nicht) nämlich überaus ablehnend auf den Text, feierte Alex Rühle in der SZ seinen "verführerisch schönen" und "glänzenden Stil". Er erklärte es gar zum "Weißbuch der Protestkultur", weil es so ganz "ohne das sonstige phraseologische Sperrholz linker Pamphlete" auskomme (Das kommunale Manifest, während Nils Minkmar es in der FAS gar zum "wichtigsten linken Theoriebuch unserer Zeit" hochjubelte (Seid faul und militant!).

Erst als die taz einem Zuträger erlaubte, seinen Verdacht, das Komitee fuße ursprünglich auf politisch rechtem Gedankengut, auch in ihrem Blatt zu verbreiten (Fast wie Gas), sahen sich die Verantwortlichen bei FAZ und SZ offenbar genötigt, die Meinung der Redaktion nach außen nachhaltig zu korrigieren.

In nachgeschobenen Beiträgen von Jürgen Kaube (Den Hass genießen) und Marc Felix Serrao (Das hat er vom Vater) war jetzt zu lesen, dass "Verzweiflung" und "Ausweglosigkeit", Antimodernismus und Verächtlichmachen der eigenen Kultur längst zum "popkulturellen Mainstream" gehörten. Schon deswegen sei es letztlich unerheblich, woher der "großmäulige" Aufruf zu Aufstand und aktiver Gegenwehr komme, von Heidegger, Ernst Jünger und Carl Schmitt oder von Giorgio Agamben, Alain Badiou und Guy Debord.

Ausgeschlossenes Drittes

Richtig an diesen rasch hingeschriebenen Korrekturen ist, dass sich die Motive der Kulturkritik, an Fortschritt, Staat und Technik längst verselbständigt haben. Mit simplen Links-Rechts-Konfigurierungen ist ihr weder beizukommen noch kann sie angemessen beschrieben werden. Das Amalgam aus Kulturkritik (das System ist verrottet, moralisch zerrüttet und verkommen) und umstürzlerischen Parolen hat es immer gegeben. Sowohl bei Adorno und Horkheimer als auch bei Heidegger und Schmitt oder bei Foucault und Baudrillard lassen sich antimodernistische Affekte ebenso nachweisen wie kulturkitschige Kritik und verbalradikale Revolutionsgesten.

Grenzgänger wie Benjamin oder Bataille, Sorel oder Kantorowicz, Blanchot oder Agamben, um nur einige bekannte Adressen zu nennen, haben sich einer solchen Zuordnung strikt verweigert und sich häufig auf solchen Grenzlinien bewegt. Und nicht nur das. Zumindest eine Zeitlang haben sie mit dem Kommunismus intellektuell genauso geflirtet wie mit dem Faschismus. Was signalisiert, dass die Schubladen der Geschichte, der politischen Philosophie und Theorie nicht so simpel gestrickt sind, wie dies mancherorts immer noch geschieht.

Noch nach dem Tod großer Denker, post Hegel oder Nietzsche, post Heidegger oder Schmitt, haben sich zwar rasch rechte und linke Lager gebildet, die sich danach vielleicht in der theoretischen Ausrichtung des Erbes unterschieden haben, aber beileibe nicht immer in der Substanz ihrer Gedanken. Vielleicht liegt es auch am "jugendlichen" Alter manches journalistischen Zuträgers oder Redakteurs, dass diese "Wahrheiten" dem Kurzzeit-Gedächtnis zum Opfer gefallen sind.

Kritik der Gewalt

Mittlerweile müsste sich doch herumgesprochen haben, dass die Links-Rechts-Codierung, die ihre Entstehung der Sitzordnung in der französischen Nationalversammlung vor über zweihundert Jahren verdankt, seine Erklärungskraft verloren hat. Dass Demokratie, Freiheit und Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Demokratisierung der Technik und Friedenspolitik Domänen und Kernbestand eines politisch linken Bewusstseins sind, Rassismus, Nationalismus und Ressentiments, Macht-, Raum- und Kriegspolitik dagegen Abkömmlinge eines verirrten rechten Gedankenguts, hat in dieser strikten Gegenüberstellung schon immer nicht gestimmt. Dies zeigt schon ein Blick nach Lateinamerika (Der aufs Ganze geht), auf Hugo Chavez, Fidel Castro und Konsorten.

Gewalt, Krawall und Randale lassen sich vielleicht ästhetisieren (Immer mehr meckern), sie lassen sich verbalradikal abfedern (Die Morale Provisoire des Partisanen) und sie lassen sich vielleicht auch links und rechts politisch verorten, aber nur schwer nach gerecht und ungerecht, nach legitim oder illegitim. Wenn Autos brennen, Schulen beschmiert, Kindergärten zerstört oder Bushäuschen demoliert werden, dann mögen zwar die Herzen manches Sorelianers oder Benjaminianers höher schlagen, für die Betroffenen, die den Schaden davontragen, ist es hingegen einerlei, ob das von einem klugen linken Kopf oder ein blindwütig agierenden Springerstiefel und Glatzenträger begangen worden ist.

Ein guter Hirte

Der ganze Blödsinn eines Denkens, das in Rechts-Links-Kategorien verharrt, offenbart sich an der zeitgenössischen "Staatskritik". Gewiss nahm der "Partisan" bei Carl Schmitt eine zentrale Rolle ein. Für ihn war er jemand, der eine "autochthone Beziehung" zu seiner Scholle pflegte und sie "gegen einen fremden Eroberer" verteidigte. Aber nur, um das moderne Feld des Politischen zu vermessen, nicht aber, um das politische System zu stürzen.

Bekanntlich war Carl Schmitt ein glühender Verfechter des Ordnungs- und Staatsgedankens (Ein Feuer auf die Erde bringen). Nichts ist mithin dümmer, als ausgerechnet ihn zum Kronzeugen oder gar geistigen "Brandstifter" von "kommenden Aufständen" und "Ausnahmezuständen" zu machen. Gerade dem Staatsrechtler ging es immer darum, den geschichtlichen "Katechon" zu bestimmen, der Leviathan stärkt und die fliehenden Kräfte stoppt.

Gleichwohl wusste und ahnte er bereits Anfang der sechziger Jahre, dass "die Epoche der Staatlichkeit" zu Ende geht. Jener Staat, der die Fehden und konfessionellen Bürgerkriege einst beendet und endlich für "Ruhe, Sicherheit und Ordnung" gesorgt hat, wird jetzt entthront, durch die Wirtschaft, die Technik und die Massenmedien. Nun, nach vielen Jahrzehnten, in denen der Abgesang auf ihn angestimmt, sogar ein neues Paradigma ausgerufen und in der Wissenschaft nur noch von "Governance" gesprochen wurde, ist der Staat plötzlich wieder in aller Munde.

Gewiss gibt es den alten "Leviathan" nicht mehr. Ihm wurde beizeiten der Kopf der Souveränität abgetrennt. Doch dieser Machtverlust wurde mit Prozeduren und Techniken des Wissens, der Macht und der Subjektivierung kompensiert. Längst hat er seine Kompetenzen verlagert, sie in bestimmten Bereichen sogar ausgeweitet und sich zu einem Instrument der "Fürsorge" und "Daseinsvorsorge" entwickelt.

Für alle Sorgen und Nöte, die den Einzelnen plagen, hat er mittlerweile ein Rezept und Heilmittel parat. Wer krank ist oder keine Arbeit hat, wer von einer Bankenkrise oder Flutwelle heimgesucht wird, kann auf Hilfsfonds, auf Ausgleichszahlungen oder Versicherungsleistungen hoffen. Macht definiert sich zwar immer noch über Justiz und Polizei, ausgeübt wird sie aber pastoral oder paternalistisch mit milden Gaben. In Michel Foucaults Konzept der "Gouvernementalität" kann man das en détail nachlesen.

Unglaublicher Finanzbedarf

Die finanziellen Mittel dazu holt er sich von seinen Bürgern, indem er Steuern und Abgaben auf Dieses und Jenes erhebt, sie ständig ausweitet und erhöht und damit auch den "Zorn der Leistungsträger" (Nehmt, was Euch gehört!) auf sich zieht. Bei einem Vortrag über "Kapitalismus und Krisen", den er an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten hat, zeigte der Historiker Jürgen Kocka auf, welche ökonomischen Folgen die unbegrenzte "Ausweitung der Regierungstätigkeit" auf nahezu alle Bereiche des sozialen Lebens nach sich gezogen hat.

Betrug die Verschuldung der öffentlichen Haushalte in Deutschland nach der Großen Depression von 1929 noch 9 Prozent des BIPs, so sind es 2008, nach der Wirtschafts- und Finanzkrise, bereits 62 Prozent. Für alle anderen Länder der Eurozone oder des Westens sieht die Lage ähnlich, mitunter noch viel schlechter und schlimmer aus. In den USA etwa ist die Sparquote längst bei Null angelangt, was heißt, dass denen, die sparen, genauso viel Bürger gegenüberstehen, die auf Pump leben.

Unter der Regie des "Wohlfühlstaates" habe sich der Spar-Kapitalismus protestantischer Prägung in einen Pump-Kapitalismus verwandelt. Sicherlich habe die lasche Kreditvergabe den Konsum gefördert und damit auch das allgemeine Wohlstandsniveau erhöht, gleichzeitig habe der Staat es aber versäumt, seine großzügige Ausgabenpolitik zu bremsen.

Neoliberaler Feind

Daher verwundert es auch nicht, dass Stimmen lauter werden, die nach einer Eingrenzung staatlicher Tätigkeiten rufen, eine Einstellung dieser massendemokratischen Wählerbewirtschaftung verlangen und die Verantwortung des mündigen Bürgers einklagen.

Diese "neoliberalen" Kritiker des "Sozialstaates" sitzen nicht nur in den Redaktionsräumen des Merkur. Wir finden sie auch unter jenen Protestbürgern, die sich zur so genannte "Tea-Party" zusammengeschlossen haben, dem politisch eher rechten Spektrum zugeordnet werden und sich ideologisch häufig auf die Schriften der "libertären" Philosophin Ayn Rand berufen. Noch Alan Greenspan, der spätere Chef der Federal Reserve Bank, studierte ihre Texte auf dem College und danach noch mit Leidenschaft (Sie sah den Übermenschen als Unternehmer).

Auch die russische Emigrantin hatte sich zunächst an Roosevelts "New Deal" gerieben. Im sozialpolitischen Ausgleich, den der US-Präsident verfolgte, um die Folgen der Weltwirtschaftskrise zu dämpfen, sah sie, die den Marxismus in Sankt Petersburg ausgiebig studiert hatte, ähnlich wie Alexandre Kojève (Die Eule der Minerva) den dreisten Versuch, Amerika in ein zweites kommunistisches Land zu verwandeln. Die Krise begann auch für sie mit der Aufhebung des Goldstandards.

Erst als sich die Regierungen ihre Währungen nach und nach vom Goldwert lösten und ihren Machterhalt über das Verteilen üppiger Gelder an ihre Bürger sicherten, konnte der "Fürsorgestaat" gedeihen. Damit war nicht bloß die Büchse der Pandora zur unbegrenzten Kreditvergabe geöffnet. Der Besitz der produktiven Teile der Bevölkerung konnte ohne Inflationsausgleich "konfisziert" und "wohltätigen" Zwecken zugeführt werden.

Übel oder Segen

Seither sind nicht nur die Eigenkapitalquoten der Banken stetig gesunken, sie vergeben auch dank staatlicher An- und Verordnung Kredite an Leute, die nicht kreditwürdig sind (siehe Freddie Mac und Fanny Mae). Und während Zentralbanken allerorten faule Kredite, toxische Papiere und Anleihen verschuldeter Staaten aufkaufen und damit Papiergeld verbrennen, spannen die Staaten und Regierungen zur Stützung von Banken und insolventen Staaten einen Rettungsschirm nach dem anderen auf.

So gesehen müssten die Bücher von Ayn Rand und Alan Greenspan eigentlich auch auf der Leseliste des "schwarzen Blocks" und der "Aufständischen" liegen, stimmen doch auch sie ein Loblied auf das "Autonom werden" und das "selbstbestimmte Leben" an. Auf der einen Seite verlagert sich durch solche finanzpolitischen Eingriffe die Verantwortung auf den Staat, auf der anderen Seite gedeihen durch seine stabilisierenden Maßnahmen Wut, Zorn und die Gewaltbereitschaft, die sich nun gegen ihn richten.

Vor allem das kann man dem Pamphlet entnehmen. Auch das Komitee beklagt an prominenter Stelle den "furchterregenden ‚Wohlfahrtsstaat’", den die sozialen Kämpfe um Aufklärung und Arbeit nach dem Krieg hervorgebracht haben. "Je mehr Risse der Wohlfahrtsstaat bekommt", schreibt das Komitee folgerichtig dann auch zum Schluss, "desto mehr kommt der rohe Zusammenstoß zum Durchbruch – zwischen denjenigen, die die Ordnung wünschen, und denjenigen, die sie nicht mehr wollen."

Scheitern am Paradox

In Frankreich, und darum ist das Buch auch ein sehr französisches, war und ist "die industrielle Macht immer der staatlichen Macht unterworfen". Der ganze Stolz und das "politische Ideal der Franzosen" bleibt, schriebt das Komitee unter Bezug auf Alexandre Kojève, "die eine und unteilbare Republik". Und zwar auch dann noch, wenn diese Blase platzt und der Staat in Trümmern liegt.

Noch dieser Hinweis legt das ganze Dilemma der radikalen und insbesondere der internationalen Linken offen. Ständig sieht sie sich von Gespenstern umgeben oder verfolgt, die wild herumspuken und sie heimsuchen, wahlweise der Staat, die Partei, der Kapitalismus oder die Lohnarbeit. Ein politisches Konzept oder gar eine Strategie, wie sie diese Gespenster einhegen, loswerden und die "Idee des Kommunismus" in unserer kapitalistischen Gegenwart als die "kommende Gemeinschaft" realisieren will, hat sie hingegen nicht. Sehnen sich die radikalen Linken nach kopf- und hierarchielose Kommunalgemeinschaften, ohne Staat, Partei oder Führer, fordert die demokratische Linke (sozialdemokratische und sozialistische) ständig noch mehr Staat, Ordnung und Sicherheit, mehr Ausgaben und soziale Zuschusszahlungen.

Doch dieses sozialdemokratische Jahrhundert, da hat das "Komitee" vermutlich recht, geht unweigerlich zu Ende. Der dramatische Schuldenstand der Staaten, vor allem der liberaldemokratischen in Europa, lässt keine weitere Um- und Verteilung von Geldern mehr zu. Und das umso mehr, seitdem sich die EU-Wohlstandszone zur kapitalen Transferunion entwickelt hat.

Während die politische Linke in Europa und in den USA an diesen Problemen knabbern und folglich bis zum St. Nimmerleinstag von einer "kommenden Demokratie" (J. Derrida), einer "kommenden Gemeinschaft" (G. Agamben) oder einer "kommunistischen Hypothese (A. Badiou) fantasieren wird, haben die chinesischen Kommunisten längst ihre Lehre aus dem Scheitern des real existierenden Sozialismus gezogen. Sie haben die Versprechungen des Kapitalismus, aber auch seine steten Krisen beim Wort genommen. Sie haben ihn einfach eingemeindet und ihm eine "autoritäre" Form verpasst, die wesentlich leistungsfähiger ist als seine liberal demokratische Spielart (Das Machtspiel geht weiter).

Wahrhaft revolutionär

Revolutionär sind, das vergessen die radikale wie die demokratische Linke immer wieder, ja nicht der Staat oder die Demokratie, die bekanntlich nur die "haltenden Kräfte" verkörpern; wirklich revolutionär sind, das erkannte schon Marx und seine Getreuen vor über hundertfünfzig Jahren, allein die "fließenden Kräfte", das Kapitals und der Kapitalismus.

"Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, "heißt es im Kommunistischen Manifest. "Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht". Ins Soziologendeutsch übersetzt heißt das heute: Der Kapitalismus löst alte Bindungen und traditionelle Rollen auf, er schafft den Individualismus und erfüllt ungeahnte Konsumwünsche, aber er vermittelt auch die große Depression.

Wer hier Teufel ist, und wer Beelzebub, diese Frage muss leider – oder Gott sei Dank – unbeantwortet bleiben. Diese Frage beantworten zu wollen, hieße, die Rolle des "absoluten Beobachters" einnehmen zu wollen. Diese jedoch ist schon vergeben. Die Tragik ist, dass es offenbar immer wieder Philosophen gibt, der diese Rolle beanspruchen oder vorgeben, sie zu besitzen.

Literatur:

  • Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve 2003
  • Alain Badiou, Manifest für die Philosophie, Wien: Turia & Kant 2009²
  • Alain Badiou, Zweites Manifest für die Philosophie, Wien: Turia & Kant 2009
  • Alain Badiou/Jacques Rancière, Politik der Wahrheit, Wien: Turia & Kant 2009.
  • Maurice Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin: Matthes & Seitz 2007
  • Jean Baudrillard, Die Illusion des Endes, Berlin: Merve 1994
  • Jacques Derrida, Marx' Gespenster, Frankfurt: Fischer 1995.
  • Michel Foucault, Kritik des Regierens, Frankfurt: Suhrkamp 2010.
  • Oliver Marchart, Die politische Differenz, Frankfurt: Fischer 2010
  • Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart, Edition Patricia Schwarz 1988
  • Jean-Luc Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich: Diaphanes 2007. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin: Duncker & Humblot 1963
  • Carl Schmitt, Theorie des Partisanen, Berlin: Duncker & Humblot 1963
  • Unsichtbares Komitee, Der kommende Aufstand, Hamburg: Nautilus 2010
  • Slavoj Zizek, Auf verlorenem Posten, Frankfurt; Suhrkamp 2009

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