Wider die Macht des Nichterzählten

Eingang zum Hauptgebäude des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen. Bild: Internationaler Suchdienst (ITS)

Internationaler Suchdienst, Bad Arolsen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bad Arolsen

Ein hübscher Ort: Bad Arolsen, rund 45 Kilometer westlich von Kassel, an der "deutschen Fachwerkstraße" und an der "Oranierroute" gelegen. 300 Jahre lang die Residenz der Fürsten zu Waldeck und Pyrmont. Ein prächtiges barockes Schloss, eine Großgemeinde mit etwa 18.000 Einwohnern, auch als "Versailles Hessens" tituliert mit dem leichten Spott, der in der Übertreibung wohnt. Heilbad, bemerkenswerte Museen, alles vorhanden. Der klassizistische Bildhauer Christian Daniel Rauch stammt von daher. Wer ein Pfeifen im Ohr verspürt, ist auch am richtigen Platz: in Arolsen wartet die größte deutsche Tinnitusklinik auf ihn.

Eine wohlklingende Adresse: Große Allee 5-9. Dort residiert seit unvordenklichen Zeiten der Internationale Suchdienst des Roten Kreuzes. Das Büro, 1943 in London gegründet, um die Überlebenden, die verschleppten und entwurzelten Opfer des Nationalsozialismus, wieder mit ihren Angehörigen zusammenzubringen und ihnen humanitäre Hilfe zu bieten, wanderte mit den alliierten Streitkräften über Versailles nach Frankfurt. 1946, in der Niemandszeit zwischen Befreiung und Neubeginn, kam es nach Arolsen, das erst seit 1997 das Bad im Namen führt. Die Lage des von Bomben verschonten Ortes ungefähr in der Mitte der vier Besatzungszonen gab den Ausschlag für die nordhessische Provinz.

Der International Tracing Service (ITS), mit guten Vorsätzen gegründet, wurde gleichwohl wie eine Verlegenheit hin- und hergeschoben, die Zuständigkeit wechselte, bis die alliierten Hochkommissare 1951 die Verantwortung übernahmen. Mit dem Ende der Besatzungszeit 1955 ergriff Adenauer die Initiative. Die Bundesrepublik verpflichtete sich, die Arbeit dieses Suchdienstes zu finanzieren, das Internationale Rote Kreuz übernahm damals die Trägerschaft, ein Ausschuss mit Vertretern aus elf Ländern die Aufsicht.

Man rechnete offensichtlich nicht mit einer langen Zeitspanne für die Arbeit. Mehrmals wurde das Abkommen verlängert, bis sich 1973 im Elferrat die Absicht durchsetzte, den Suchdienst unbefristet am Leben zu halten.

Nach deutschen nichtjüdischen Opfern wird an diesem Ort nicht gesucht. Etwa elfeinhalb Millionen von ihnen waren Kriegsgefangene oder Zivilinternierte; die Geografie ihrer Leiden umfasst 80 Länder. Jeder vierte Deutsche war auf der Suche nach jemandem oder wurde gesucht. Mehr als eine Million Menschen gelten noch immer als verschollen. Um sie kümmert sich jedoch eine andere, aber verwandte Organisation: das Deutsche Rote Kreuz unterhält noch immer einen Suchdienst in München und Hamburg für sie. Die beiden Heimkehrer Helmut Schelsky und Kurt Wagner haben ihn gegründet und scharfsinnige Methoden erfunden, um die blinden Stellen, die weißen Flecken, die Leere mit Gewissheiten zu füllen. So gibt es eine in Jahrzehnten bewährte Arbeitsteilung.

Institutionelles Gedächtnis der menschlichen Vergehen und der unmenschlichen Verbrechen

In Bad Arolsen ist eine Königsdisziplin des Gelingens die Statistik. Rund 30 Millionen Dokumente lagern in Stahlregalen und Hängeregistraturen unter einem sachlich flackernden Neonhimmel. Sie geben Hinweise auf rund 17,5 Millionen Menschen. Nach der Wiedervereinigung kam neues Material aus der DDR hinzu. Jedes Jahr wachsen die engen Regalgassen angeblich um 250 Dokumentenmeter.

Ein institutionelles Gedächtnis der menschlichen Vergehen und der unmenschlichen Verbrechen ist diesen vergilbenden Blättern und schütteren Namenslisten eingeschrieben. Es handelt sich um Deportationslisten, Häftlingskarteien, Gestapoakten, Unterlagen von Versicherungen, Meldeämtern, Dokumente zum "Lebensborn", auch zu Kriegsgerichtsverfahren, das Beweismaterial aus den Nürnberger Prozessen.

Brieftaschen von KZ-Insassen im Archiv des Internationalen Suchdienstes (ITS) in Bad Arolsen. Bild: Internationaler Suchdienst (ITS)

Die Hinterlassenschaft einer Bürokratie der Verschleppung, der Ausbeutung und des Todes, eingesammelt, soweit nicht noch von der SS vernichtet, von den Stäben der Alliierten, ergänzt und erweitert durch Zufallsfunde. Darunter die Transportkarte eines Mädchens, das am 3. September 1944 vom Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz verschleppt wurde: Anne Frank. Ein Gestapoblatt über den ehemaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Die Liste der 1200 Juden, die der Industrielle Oskar Schindler vor dem Tod bewahrte. Ein Totenbuch aus Buchenwald. Auch die Effekten, die armselige Habe von Häftlingen, die ihnen bei der Einlieferung ins KZ abgenommen wurde, finden sich in reichlicher Zahl: 4300 Umschläge mit Utensilien beispielsweise aus Neuengamme; immerhin 2700 konnten an Opfer oder ihre Angehörigen zurückgegeben werden. Für die anderen fehlt jede Spur. Schmucksachen, Lippenstifte, Kämme, Geldbörsen und was nicht alles sonst an Resten eines annullierten Lebens liegen herum und warten: auf was und auf wen?

Alle Informationen sind eingearbeitet in eine zentrale Namenskartei, die nach einem phonetischen System geordnet ist. Eine Arbeit für Tüftler: Für den Namen "Schwartz" gibt es angeblich 156 Versionen, und "Abramovitsch" kann man in 849 diversen Fassungen schreiben.

Der Internationale Suchdienst in Arolsen hat unterschiedliche Aufgabengebiete gehabt: Familien zusammenführen, Ansprüche auf Wiedergutmachung und Entschädigung sichern, Indizien über Personen zusammentragen, Lebens- und Sterbedaten mitteilen. Eine der folgerichtigen Absurditäten, die nur im Schatten der Verwaltung von Toten möglich sind: es gibt am Ort eine Behörde, die sich "Sonderstandesamt" nennt und die Totenscheine und andere Urkunden ausstellt, damit materielle Ansprüche von Angehörigen geltend gemacht oder weitere Urkunden ausgestellt werden können.

Kein Holocaust-Archiv

Von Anfang an stand dieser Suchdienst unter dem Dilemma zweier unterschiedlicher Erwartungen: den Opfern und der historischen Forschung zu dienen. Daraus entstand eine Spannung, die von Jahr zu Jahr weitergereicht wurde: hier die Betroffenen und Gezeichneten mit ihrem Anspruch auf Persönlichkeitsschutz, dort die Erwartungen der Geschichtsschreiber auf ungehinderte Freigabe aller Akten. Die Leitung entschied sich in den siebziger Jahren für das humanitäre Mandat und wehrte Historikerwünsche weitgehend ab. Der Druck, der daraus entstand, vergrößerte sich durch personelle Engpässe. Lange Wartefristen entstanden bei der Bearbeitung, vollends als die Zwangsarbeiter-Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" in Gang kam. Der Suchdienst wurde zwischen 2000 und 2007 mit etwa 950.000 Anträgen überhäuft.

Überdies galt der psychologische Mechanismus: Je länger die Historiker von den Akten ferngehalten wurden, desto wertvoller wurden sie. In der Öffentlichkeit mutierte die Dokumentenzentrale in Bad Arolsen zum "weltweit größten Holocaust-Archiv". Erwartet wurden vom Suchdienst letzte Auskünfte über den Mord an den europäischen Juden. Das heißt: die Zahl, die endgültige, verbindliche Zahl. Aber dort ist sie nicht zu ermitteln, denn es handelt sich beim IST überhaupt nicht um ein Holocaust-Archiv. Vor allem wären die Völkerwanderungen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu rekonstruieren. Der Migrationsforschung kann mit diesem Material aufgeholfen werden – wenn diese entsagungsvolle Kärrnerarbeit überhaupt jemand betreiben will. Die Dokumente aus der Nachkriegszeit sind bereits digitalisiert und stehen zur wissenschaftlichen Verfügung. Aber die Forscherneugier ist eng begrenzt, seitdem sie befriedigt werden könnte.

Zentrale Namenkartei mit 50 Millionen Hinweisen zum Schicksal von 17,5 Millionen Opfern der NS-Verfolgung. Bild: Internationaler Suchdienst (ITS)/Richard Ehrlich

Es handelt sich um acht bis zehn Millionen Menschen, die überwiegend aus dem Osten verschleppt wurden und das Kriegsende noch erlebten. Kopien des Materials gingen auch an das Holocaust Memorial nach Washington, an Yad Vashem nach Israel und ans Nationale Institut des Gedenkens in Warschau.

Der Dienst für die Einzelnen bleibt noch immer das hauptsächliche Erfordernis. 2008 erreichten Bad Arolsen mehr als 10.000 Anfragen aus 76 Ländern. In der Hälfte der Fälle gab das Material Auskünfte preis. Rund 80 Prozent galten den biografischen Spuren und dem Leidensweg von Gefangenen in Konzentrationslagern, Ghettos und Gefängnissen unter Gestapo-Aufsicht, den Sklavenarbeitern in der deutschen Kriegsindustrie und Versorgungswirtschaft.

Geschichte in Akten

Auch noch die Enkel verspüren diesen Sog, Ahnenforschung zu betreiben über mörderische Zeiten. 17 Prozent beziehen sich auf Zwangsarbeit. Früher haben sich die Angehörigen mit ihren Nach- fragen zu den Verschollenen vorgearbeitet, jetzt fast ausschließlich zu Angaben über sie. Die Daten, Ortsnamen, verbürgten Umstände treten an die Stelle der gesuchten Person, hinterlassen eine ungewisse Spur, bestenfalls die Gesuchten in effigie. In einer Welt, in der die Sicherheiten immer mehr schwinden, enthält die Gewissheit, dass verschwundene oder ermordete Menschen wenigstens noch einen Umriss in den Dokumenten hinterlassen haben, dass ihre Fährten nicht ganz gelöscht sind, ein Gran Trost. Der große Meister namens Vergessen, der ungezählte Opfer von der Bühne des Gedächtnisses fegen wollte, hat nicht das letzte Wort. Aber bald wird diese Geschichte nur noch in Akten vorhanden sein. Die Dokumente übernehmen die Auskünfte ganz, die Historie wird über Ausstellungen vermittelt.

Im Archiv des ITS befinden sich über drei Millionen Korrespondenzakten (so genannte T/D-Fälle, Tracing/Documents) zum Schicksal von NS-Verfolgten. Bild: Internationaler Suchdienst (ITS)/Richard Ehrlich

Wäre man gläubig, müsste man an die Akten glauben. Wenigstens in dem Sinn, wie das Suchen und Finden in Döblins letztem Roman "Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende" die ganze Existenz ergreift. Da sucht eine Mutter nach ihrem Sohn, einem vermissten Soldaten auf der sogenannten Siegerseite des Zweiten Weltkriegs. Auf den Ämtern wird die alte Frau mit einem geheimnisvollen Magnetismus zwischen dem Verschollenen und seinem Umriss auf dem Papier getröstet: "Wenn erst für einen Mann die Akten angelegt sind und alle Punkte schön beieinanderstehn, dann dauert es nicht lange, und der Mann stellt sich ein. Es ist kurios, Sie werden es nicht glauben, manchmal dauert es bloß ein paar Wochen, manchmal auch einige Monate und länger, aber es ist wirksam – als wenn man in eine Falle ein Stück Speck legt, und schon riecht es die Maus, und schon ist sie da."

Ach, die Akten. In Friedland lagern Frageblätter und Auskunftsbögen von 3,7 Millionen Menschen, die dieses Grenzdurchgangslager passiert haben, um irgendwo eine neue Heimat zu finden oder in der alten sich wieder heimisch zu machen. In Berlin und Marienfelde gehen die Akten der DDR-Flüchtlinge ebenfalls in die Millionen. Und Zirndorf wäre zu nennen und ein halbes Alphabet an weiteren Namen. Wer mag sich durch diesen Montblanc an beschriebenem Papier durcharbeiten?

Die Hunderte von Mitarbeitern, die in Bad Arolsen dieses abgründige Wissen verwalten, wirken rettungslos dem Dienst an einer Papier werdenden Vergangenheit verfallen, an der nichts repariert werden kann – in der Zwangsjacke der Vergeblichkeit. Aber vielleicht mehr denn je gilt der Satz von Günter Anders, in dem er zusammenfasste, was er unter dem "prometheischen Gefälle" verstand: Wir können uns nicht vorstellen, was wir herstellen. Demnach wäre die Imagination eine Kunde, die auch in Zukunft über diesem Sammelplatz der Verlorenen, Verschwundenen, Verschollenen, über diesem Geisterreich des Archivs, schwebt.

Jedes Jahr erhöht sich die Zahl der geklärten Fälle. Auf der Waage, die eine moralisch wertende Justitia tariert, spielt das keine Rolle: das Gewicht des Verbrechens lässt sich damit nicht ausgleichen. Aber diese Aufklärungen zählen denn doch. Wer von den Nachgeborenen erfährt, was wann wo und wie den Angehörigen geschehen ist, wird zwar durch dieses Wissen kaum weniger belastet sein als er zuvor in seiner Ungewissheit war, aber er wird vielleicht nicht mehr von jenem fressenden Zweifel und von der Melancholie heimgesucht, den der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel markierte, als er von der Macht des Nichterzählten sprach, die sich in den Nachgeborenen einnistet. Mit anderen Worten nennt man sie "transgenerationelle Traumatisierung". Immerhin noch drei Prozent der Anfragen in Arolsen gelten nach mehr als 60 Jahren der Suche nach Angehörigen.

Das Ende in Bad Arolsen? Nicht absehbar.

Wilfried F. Schoeller ist Professor für Literatur des 20. Jahrhunderts, Literaturkritik und Medien an der Universität Bremen. Schoeller war Leiter der Abteilung "Aktuelle Kultur" im Hessischen Rundfunk/Fernsehen. Er schrieb Bücher u. a. über Adorno, Heinrich Mann, Michail Bulgakow und ist der Herausgeber des Gesamtwerkes von Oskar Maria Graf. Er verfasste zahlreiche Literaturfilme und Hörspiele.

Sein Beitrag ist dem Buch "Mekkas der Moderne - Pilgerorte der Wissensgesellschaft" entnommen. Mehr unter: Mekkas der Moderne.