Der göttliche User

Der Computer als göttliche Maschine in der Science Fiction - Teil 2

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mit der Erfindung und Popularisierung des Computers ab den 1940er-Jahren revolutionierten sich nicht nur Wissenschaft und Technik, auch die Science Fiction fand in der Maschine ganz neue Möglichkeiten ihre Utopien und Dystopien zu entwickeln. Die scheinbare Allmacht des Apparates hat sich seit Ende der 1940er-Jahre dabei zu einem der stabilsten Motive des Genres entwickelt. Im ersten Teil des Essays wurden drei Erzählungen der 1940er- und -50er-Jahre vorgestellt. Der zweite Teil widmet sich aktuelleren Texten mit theologischen Motiven – insbesondere der Frage nach der Ohnmacht des Users im Angesicht der Allmacht des Systems.

Teil 1: God Modes

Es hatte sich in den Erzählungen von Isaac Asimov und Arthur C. Clarke am Rande bereits angedeutet, dass die Macht des Computers nicht ausschließlich mit seinen physischen Ausmaßen wächst. „Der große summende Gott“ (dt. 1972), wie die treffende deutsche Umtitelung von Christopher Hodder-Williams „A Fistful of Digits“ (1969) den Apparat noch titulierte, erhielt seine Größe in der Fiktion auch durch die metaphysischen Ausmaße. Der technische Trend der Miniaturisierung verlief beim Sprung von der Relais- auf die Elektronenröhren-Technologie noch recht unmerklich: Man ging nicht zum Computer, sondern in den Computer, wie Joseph Weizenbaum dies einmal pointiert ausdrückte. Der Gigantismus der Geräte zwischen Anfang der 1940er und Anfang der 1960er-Jahre sich bereits in der Anzahl der empfindlichen Röhren: Bei „ENIAC“ (1945) waren es bis zu 18.000 Röhren und einem Gewicht von 30 Tonnen, beim „UNIVAC II“ (1958) mit einem stolzen Gewicht von 7,5 Tonnen immerhin noch 5200 Vakuumröhren. Clarks fiktiver „Mark V“-Variantencomputer war immerhin schon so transportabel, dass man ihn auf den Himalaya transportieren konnte.

ENIAC

Die Allmacht der Allgegenwärtigkeit

Die räumliche Schrumpfung der Hardware potenzierte sich durch die Erfindung der Transistortechnologie, die ab 1947 in den Bell Labs zur Anwendungsreife gelangte. Dieser schnellere, stromsparendere und darum weniger stark erhitzte, nicht-mechanische und daher wesentlich weniger anfällige elektronische Schalter forcierte die Miniaturisierung der Computer ab Mitte der 1950er-Jahre erheblich. Der „TRADIC“ (TRansistorized Airborne DIgital Computer) als erster Transistorcomputer war damit schon klein und leicht genug, um in einem B52-Bomber installiert zu werden. Die Schrumpfung der Computerelektronik überwand Ende der 1950er-Jahre mit der Integration von zuvor getrennten Bauteilen (Transistoren, Dioden und anderen) in wenigen ICs (integrated circuits) und zuletzt mit der Kombination aller Prozessorbausteine auf einem einzigen Chip, dem Mikroprozessor, Anfang der 1970er-Jahre eine bislang letzte Hürde.

Dies hatte vor allem auch eine Kostenreduktion zur Folge; während die Computer der 1940er- und 1950er-Jahre entweder unverkäufliche Prototypen für Forschungseinrichtungen waren oder allenfalls geleast werden konnten (auf diesem Prinzip basierte der anfängliche Geschäftserfolg Firma IBM anfangs), war es ab Ende der 1970er-Jahre schon beinahe für jeden Privatmenschen möglich, sich einen Computer nach Hause zu holen. Die Computertechnik wurde „privat“, „persönlich“, es etablierte sich ein Markt für „Personal Computer“, der bis heute zu den wachstumsstärksten der Elektronikbranche zählt. Ein über die Miniaturisierung hinausgehendes, regelrechtes „Verschwinden“ des Computers wurde durch eine weitere Technologie eingeleitet: 1962 wurden im Auftrag der US-Luftwaffe Anstrengungen unternommen, die Kommunikationstechnologien zu denzentralisieren, so dass im Fall eines Atomkrieges nicht durch gezielte Zerstörung von Nachrichteneinrichtungen die gesamte Informationsinfrastruktur lahmgelegt werden konnte. Bis Ende der 1960er-Jahre entstand die Technologie für ein dezentrales Computernetzwerk, das auch dann noch funktionierte, wenn einzelne Komponenten ausfielen, und das die Grundlage für das heutige Internet lieferte. Die darin vernetzten Computer hörten jedoch gleichzeitig auf solitäre Maschinen zu sein, sie erweitern ihre Funktionen im Netz mit anderen Computern.

»Transzendenz der transklassichen Maschine«1

Die drei Aspekte, Miniaturisierung, Privatisierung und Vernetzung von Computern, boten der Science Fiction zeitgleich und manchmal sogar bevor eine der Technologien Realität wurde, den Stoff für hochinteressante Bearbeitungen des Computer-Motivs. Im Folgenden möchte ich zwei Kurzgeschichten und einen Hörspieltext aus der Zeit ab 1980 vor stellen, die diese drei Aspekte verarbeiten, sie fiktional ausbauen und sie in einen theologischen Kontext einschreiben. Es handelt sich um Roland Rosenbauers Beitrag Und wer ist Gott? in der von ihm 1980 herausgegebenen „Science Fiction Roman-Anthologie“ (dazu unten mehr) „Computerspiele“, Stephen Kings 1983 erschienene Kurzgeschichte Word Processor of the Gods („Der Textcomputer der Götter“, 1985) und das 1999 im von Rudolf Drux herausgegebenen Band Der Frankenstein-Komplex enthaltene Hörspiel „Viktor oder Die Seele des Rechners. Ein Computer(hör)spiel“ von Ulrich Land.

Dass der Computer als vormaliger Gegenstand von technischen oder futurologischen Abhandlungen bzw. eben der Science-Fiction-Literatur in den letzten beiden Texten bereits Eingang in andere literarische Genres und Gattungen gefunden hat (und sie sind keineswegs die ersten Beispiele für diese Transgression), verdeutlicht bereits, welches Potenzial hinter dem Motiv steckt. Seine „Göttlichkeit“, die in den für die Frühgeschichte des Digitalcomputers diskutierten Texten insbesondere in einer „universellen“ Schöpfertätigkeit gesehen wurde, differenziert sich in den drei Erzählungen weiter aus: Einerseits verleith er seine Macht nun wieder dem User (den er damit freilich en passent zu versklaven droht), andererseits offenbart sich seine Schöpferkraft insbesondere in der Fähigkeit alle denkbaren und bis dato undenkbaren virtuellen Realitäten zu erschaffen. Der fantastische Aspekt liegt dann häufig darin, dass die virtuelle und nicht reale Realität zur Deckung gelangen und schlimmstenfalls nicht mehr voneinander unterscheidbar sind. Gerade hierin schließen die Erzählungen an populäre medienphilosophische Diskurse der späten 1970er und frühen 1980er Jahre an, worin sich dann abermals zeigt, dass Computer-SF in hohem Maße diskursiv ist und sich in zeitgenössische Debatten einschreibt.

»Fragen Sie die Maschine, wer Gott ist.«2

Roland Rosenbauer gab 1980 einer Reihe von deutschsprachigen SF-Schriftstellern ein literarisches Experiment vor: Auf Basis einer von ihm vorgelegten Ausgangssituation sollten sie Kurzgeschichten entwickeln, die den Plot weiterschreiben. Auf diese Weise entstand der literarische Bastard einer „Roman-Anthologie“ mit dem Titel „Computerspiele“ - eine Sammlung von Kurzgeschichten, die Rosenbauer durch so genannte, zwischengeschaltete „Orientierungsebenen“ zu einer Romanerzählung zusammenfügte. Seine Vorgabe hierfür lautete wie folgt:

Göttern gleich bedienen zwei besessene Wissenschaftler ihren allmächtigen Computer: Jede gewünschte Entwicklung realisiert die Simulationsmaschine in Form wirklichkeitsidentischer Filme. Grundlage auch groteskester Zukunftsspiele bildet stets die gleiche lapidare Ausgangssituation: Bemanntes Raumschiff kehrt aus dem All zurück – findet die Erde menschenleer – verzweifelte Suche der Besatzung nach den Ursachen dieser Weltkatastrophe.

Roland Rosenbauer

In seinem eigenen Beitrag „Und wer ist Gott?“ erzählt er vom Astronauten Harris, der sich zunächst in einer naturbelassenen Idylle wiederfindet, wo er auf eine Frau trifft, die sich als Maria, die Mutter Jesu, herausstellt. Mit ihr verbringt er eine Nacht und „rutscht“ am nächsten morgen mit ihr zusammen durch jenen Raum-Zeit-Tunnel (mit dem er zuvor in diese Welt gelangt war) in den Wilden Westen des ausgehenden 17. Jahrhunderts – in den Ort Salem. Dort werden die beiden Fremden zunächst ängstlich, dann aggressiv empfangen, insbesondere als sie sich mit „teuflischen Erfindungen“ (einem Kugelschreiber) und als biblische Maria zu erkennen geben. Ihnen soll der Hexenprozess gemacht werden.

Fehlerdreieck im Computerkreis

Das Schicksal beider wird beobachtet von O‘Malley und Frame, zwei andere Raumfahrer, die in einer entvölkerten Welt der Gegenwart auf den Computerwissenschaftler Dr. George Blison treffen. Dieser hat eine Computeranlage entwickelt, mit der er die Realität in Echtzeit und vollständig simulieren kann. Mithilfe eines „Computerkreises“, bei dem je ein Rechner die gesamten Daten der Vergangenheit verwaltet und bereitstellt, einer als „Prognosesimulator“ 3 alle möglichen Zukünfte berechnet und ein dritter schließlich ein genaues Abbild der Gegenwart erstellt, simuliert Blison die ganze Welt. Überraschenderweise hört diese jedoch in dem Moment, wo ihre vollständige Simulation im Computer beginnt, in der Realität auf zu existieren: Alle Zustände, die Blison durch die vernetzten Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftscomputer erzeugt, werden nun auch außerhalb des Rechners Realität; alles, was er aus seiner Simulation entfernt, verschwindet auch außerhalb ihrerselbst. Zwei Fragen drängen sich O‘Malley, Frame und Blison auf …

Welchen Status hat die Realität außerhalb der Computersimulation? Ist sie vielleicht selbst ein Teil von ihr, was erklären würde, warum eine Änderung der virtuellen Welt eine Änderung der (scheinbar) realen nach sich zieht? Diese Hypothese verfolgen die beiden Astronauten: „Dann würden wir auch nur in einem Computer leben …!“4 Blison jedoch zieht andere Schlüsse: Da er mithilfe des Computers in der Lage ist, Wirklichkeiten zu schaffen und eine ontologisch erste „Orientierungswelt“ wie das philosophische „Ding an sich“ schlicht unerkennbar bleiben muss, versucht er sich zunächst selbst als Gott zu sehen. Um dies den skeptischen Beiwohnern des Experimentes plausibel zu machen, fordert er diese auf: „Fragen Sie die Maschine, wer Gott ist!“5. Als Antwort erscheint etwas unerwartetes auf dem Monitor:

Die duale 11-Faltigkeit

Das Ergebnis verwirrt alle drei und die beiden Astronauten glauben an einen Programmierfehler Blisons. Dieser ist hingegen besonders von der Dreiecksform der „ERROR“-Ausgabe angetan, obgleich die die Fehlerhaftigkeit des Programms seine göttliche Unfehlbarkeit ja infrage stellt. Deshalb greift er zu einem Trick und rekonstruiert nun andersherum Gott als sich selbst: Er befreit Maria und Harris in letzter Sekunde vor dem Tod als Hexe und Häretiker, materialisiert sie mit Hilfe des Computers in seinem Labor, aus dem er gleichzeitig Harris und seine beiden Kollegen verschwinden lässt, um mit Maria allein zu sein. Ihr führt er nun seine schöpferische Macht vor, indem er außerhalb des Laborgebäudes die Menschheit wieder erscheinen lässt. Maria hält ihn deshalb für Gott und sieht ihre Bestimmung darin, mit ihm einen Sohn zu zeugen. Durch den Akt dieser Zeugung erreicht er schließlich sein Ziel: „Ich bin der Herr, dein Gott – du sollst nicht andere Götter haben neben mir!“6

Der Computerkreis, der in dieser theologischen Konstellation die Rolle des Heiligen Geistes einnimmt, wird darüber hinaus zu einem Dingsymbol, das die Konstruiertheit der Welt im Zeitalter der elektronischen Massenmedien veranschaulicht und in seiner Erscheinung als Dreier-Mininetzwerk zur perfekten Simulationsmaschine wird: Die Zeichen, die er auf seinem Monitor produziert – wozu selbst die merkwürdigen Fehlerangaben gehören – stehen referenzlos da, verweise nur noch auf sich selbst und auf kein Bezeichnetes außerhalb des medialen Kosmos mehr, das es aufgrund der vollständigen Computersimulation ohnehin nicht mehr gibt. Im Gegenteil: Dieser außermediale Kosmos wird erst durch die Generierung der Zeichen erschaffen. Die Welt dieser „Computerspiele“ ist das, was Jean Baudrillard in seiner Simulationstheorie eine „Hyperrealität“ genannt hat – eine Welt, „in der Karte und Territorium schließlich exakt zur Deckung kommen.“7

EXECUTE / DELETE

Stephen Kings 1983 verfasste Kurzgeschichte „The Word Processor of Gods“ erschien in Deutschland erstmals ein Jahr darauf im Playboy-Magazin unter dem ihr wenig gerecht werdenden Titel „Taste des Todes“; wenig passend war dieser Titel deshalb, weil er nur die halbe Wahrheit über den Text sagt und weil er dessen Charakter als Science-Fiction-Erzählung kaum anzudeuten vermochte. (Die Erzählung wurde 1988 in der Reihe Tales from the Darkside filmisch adaptiert.) King bewegt sich in den drei fantastischen Genres Horror, Fantasy und Science Fiction von Beginn seines Schaffens an, wenngleich er vor allem für seine quantitativ herausragenden Horrorromane und -erzählungen bekannt ist. Typisch für King‘sche Stoffe sind die Familie und insbesondere die Kindheit als Leitmotive. So auch in der Erzählung „Der Textcomputer der Götter“, in der es gleich um zwei Familien geht – eine lebende und eine tote; zwischen beiden steht ein seltsamer Textverarbeitungscomputer.

Richard Hagstrom, der mit seiner gehässigen, übergewichtigen Frau Lina und seinem ignoranten, faulen Sohn Seth ein eher kümmerliches Dasein als Gelegenheitsschriftsteller und Highschool-Lehrer führt, bekommt eines Tages von einem Bekannten einen Computer zugestellt. Diesen hatte Richards Neffe Jonathan kurz vor seinem tragischen Unfalltod als Geburtstagsgeschenk für Richard aus verschiedenen Elektroschrott-Teilen zusammengebastelt. Das Gerät macht einen unfertigen Eindruck; es scheint, als habe der Junge es eilig fertig gestellt, bevor sein betrunkener Vater ihn und seine Mutter Belinda (in die Richard immer schon ein wenig verliebt war) mit dem Auto eine 30 Meter tiefe Felsschlucht hinabgestürzt hatte. Richard zögert zunächst, nimmt das Gerät dann jedoch in Betrieb. Es vibriert, wird warm, raucht ein wenig, gibt bald „OVERLOAD“-Warnung aus, aber auf dem Bildschirm erscheint ein Cursor. Richard gibt zum Test ein, dass ein Bild seiner Frau an der Wand seines Büros hängt, welches sich wirklich dort befindet. Er löscht den Satz wieder mit der DELETE-Taste und plötzlich verschwindet auch das Bild von der Wand. Er gibt ein, dass ein Sack mit Goldmünzen auf seinem Bürofußboden steht und als er EXECUTE drückt, erscheint dieser dort wirklich.

Der Textcomputer der Götter

OVERLOAD / OVERLORD

Es dauert nicht lange, bis Richard auf die Idee kommt, seinen ihn verspottenden Sohn einem DELETE-Prozess zu unterziehen. Da nicht nur der Teenager, sondern auch alle Anzeichen seiner Existenz – bis hin zur Erinnerung Dritter an ihn – verschwinden, hält Richard seine Tat nicht für einen Mord: Der Textcomputer regeneriert die Realität im Wunschzustand seines Users anstatt sie bloß zu verändern. Kurz nach Seth muss auch Lina verschwinden, die, wie zum Beleg seiner Unschuldvermutung, plötzlich noch fetter ist, weil „wir keine Kinder hatten. So bist du in einer Welt geworden, in der du kein Objekt für deine Liebe hattest – so vergiftet deine Liebe auch sein mag. So also sieht Lina in einer Welt aus, in der sie alles nimmt und nichts gibt.“8

Der Textcomputer der Götter

Der Computer wird von Richard, kurz bevor er aufgrund seines unfertigen Zustandes nach einer Kaskade „OVERLOAD“-Fehlermeldungen in Flammen aufgeht, noch ein letztes mal benutzt: „ICH BIN EIN MANN, DER ALLEIN LEBT, ABGESEHEN VON MEINER FRAU BELINDA UND MEINEM SOHN JONATHAN.“9 Damit erfüllt sich Richards innigster Wunsch nach der perfekten Familie in einem Happy End. Die Maschine war hier abermals „Geburtshelfer“ einer Welt rein aus Wille und Vorstellung. Die Erzählung funktioniert erstaunlich gut, nicht nur weil King gleich von Beginn an die typischen Wunschmaschine-Aporien ausklammert („Jetzt werde ich eingeben: ALLE ELEMENTE IN DIESEM TEXTCOMPUTER WAREN PERFEKT AUSGEARBEITET, ALS MR. NORDHORN IHN HERBRACHTE. […] Aber er tippte nichts.“10), sondern auch weil er das archaische Prinzip vom „Familienroman des Neurotikers“11 hier perfekt invertiert: Nun ist es nicht mehr das Kleinkind, das sich andere Eltern herbeisehnt, sondern der erwachsene Fantast, der Literat, der sich aus Resten verbliebener infantiler Aggression und magischem Denken eine neue Familie „erdenkt“.

Jugend mit Gott

Jonathan ist nicht nur der perfekte Sohn für Richard, er ist im Prinzip auch dessen jugendlicher Doppelgänger. In Erinnerungen an seine eigene Kindheit sieht sich Richard ebenfalls als das schwächliche, unterdrückte Kind, das Jonathan heute ist. Und beide sind fasziniert von der Technik – insbesondere von Computern, von denen Richard jedoch, im Gegensatz zu Jonathan dem „elektronischen Genie“12, nichts versteht. Dass gerade größere Kinder und Teenager zu Beginn der 1980er-Jahre mit dem Computer assoziiert werden, ist eine Folge der eingangs angesprochenen „Privatisierung“ der Maschine, die zu dieser Zeit in Form des Homecomputers und nicht selten tatsächlich als Bausatz Eingang in den privatesten Bereich der bürgerlichen Kleinfamilie – das Kinderzimmer – Einzug hielt. Die „Computerkids“ hatten sich die neue Technik schnell vertraut gemacht – nicht nur als Anwender (Computerspieler), sondern aufgrund in die Systeme implementierter Programmiersprachen (allen voran BASIC) auch als Gestalter (Programmierer). Was sie damit aus den leblosen Kisten hervorzauberten, ist den Eltern von damals (der Autor dieser Zeilen spricht aus Erfahrung) oft tatsächlich als reine Magie erschienen.

Der Textcomputer der Götter

Eine Magie, die auch ihre Kehrseite zu haben hatte. Früh schon war von der „Verführung“ durch die Maschinen die Rede, von „Abstumpfung“ und all den anderen, nicht selten fantastischen13 Pejorativen, mit denen seit Jahrtausenden jedes neue Medium von der Elterngeneration begrüßt wird. Wie sehr die „Computerkids“ allerdings auch Teilnehmer einer sich rasant verändernden Welt wurden, erkannten damals ebenfalls nicht wenige – etwa die US-amerikanische Soziologin Sehrry Turkle, die bereits 1984, also auf auf dem Höhepunkt und kurz vor dem Ende der 8-Bit-Homecomputer-Ära, ihre bis heute viel beachtete Studie „The Second Self. Computers and the Human Spirit“ (dt. „Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computerkultur“, 1984) herausbrachte. Darin widmet sie sich ganz zentral der Jugend am Computer, die durch den alltäglichen Umgang mit der Maschine gänzlich neue Lebensgefühle entwickelt, was Einfluss auf das Denken, auf die Liebe, die Philosophie, die Identität usw. bekommt. Wie sehr der Computer eine Kluft zwischen die Elterngeneration und die die Generation der „Computerkids“ schlug, zeigt sich in Kings Erzählung, der sie auf wahrlich „göttliche Weise“ wieder zu verschließen versucht, in dem er seinen Protagonisten mit Hilfe der Maschine archaisch-regressiven Wunschvorstellungen umsetzen und so selbst zum „Computerkid“ werden lässt.

»Being digital, das nagelneue Testament«14

Ein Sprung um 16 Jahre in die Zukunft – ins Jahr 1999. Stephen King schreibt immer noch Techno-Horror und -Science-Fiction (zuletzt erschien 2006 ein in dieser Hinsicht viel beachter Roman namens „Puls“ über ein „magisches“ Handynetz), die Computerentwicklung ist auch in Hinsicht auf die Aspekte der Allgegenwärtigkeit im Privaten, der Vernetzung und Miniaturisierung enorm voran geschritten. Insbesondere das Internet hat sich soweit entwickelt, dass es in Deutschland nicht mehr länger ausschließlich in Universitätsrechenzentren genutzt wird, sondern über Modem und breitbandige Übertragung auch in den Privathaushalten verfügbar ist. Die Wirtschaft stellt sich auf den neuen Faktor um und erntet enorme Gewinne. Die westliche Zivilisation, so scheint es, ist eine Symbiose mit dem Computer eingegangen, hat sich seine Vernetzung zunutze gemacht, nutzt ihn so für Kommunikation, Spiel, Bildung und Informationsgewinnung. Ob es sich dabei wirklich um eine echte Symbiose handelt, ist eine Frage, die die Science Fiction nur allzu gern aufwirft (und dies seit dem Entstehen der Cyberpunk-Literatur in den 1980er-Jahren bereits oft getan hat). Kurz nach 1999 erweist sie sich mit dem Platzen der „dotcom-Blase“ tatsächlich als eher einseitiges Abhängigkeitsverhältnis.

„Kannst du mir mal sagen, weshalb ich eigentlich vor dir sitze?“, fragt Viktor in Ulrich Lands Hörspiel „Viktor oder Die Seele des Computers“ den Rechner, der ihn zu einem Spiel eingeladen hat, das nicht abgebrochen werden kann, bevor es (vom Computer) beendet wird. Welchen Regeln das Spiel folgt, bleibt unklar, nur, dass es offenbar ein verbaler Schlagabtausch zwischen Nutzer und Maschine ist, wird deutlich. Der Computer erwidert auf die Frage lakonisch, dass er sich selbst ebenfalls fragen könnte, warum er immer noch vor Viktor steht, es gäbe schließlich auch für ihn sinnvolleres zu tun. Während sich Viktor immer aggressiver werdend bemüht, die Vorzüge des Menschseins gegenüber der maschinellen Existenz des Computers hervorzuheben, verkehrt der Rechner jedes Argument in sein Gegenteil. Mittendrin, zwischen Überlegungen, was aus der Sprache im Zeitalter der Computer-Kommunikation wird, welchen Einfluss der Cyberspace auf das Gehirn nimmt und wie das Verhältnis zwischen Roboter und Benutzer als dialektisches Herr-Sklave-Beziehung denkbar ist – also zwischen vielen kritischen Aspekten des hochtechnologisierten Lebens - taucht ein längerer Abschnitt über Gott auf. „Apropos: Gibt es einen Gott?“, fragt Viktor und traditionsgemäß antwortet der Computer: „Seit exakt dem Zeitpunkt, da Sie mich eingeschaltet haben.“

»Im meinen Schaltzellen ist euer Gott endlich von den Toten auferstanden.«15

Es sei das Reden mit dem Computer, das diesen erst mit einer Seele ausstatte, so der Rechner zu Viktor. (Diesen Status als angesprochenes „Zwischending“ hat vier Jahre zuvor bereits der Technik-Soziologe Erhard Tietel in seiner gleichnamigen Dissertation untersucht.) Das Beseelen von nach christlicher Vorstellung „seelenlosen“ Dingen (Pflanzen, Tiere, Gegenstände) wiederum ist als Animismus eine uralte religiöse Praxis. Beim Computer komme jedoch hinzu, dass das Ding eine Antwort gibt, der – mangels technischem Verständnis der breiten Masse – mit blindem Vertrauen, „Gottvertrauen“16 begegnet wird:

Der Computer ist Rätsel und Rätsels Lösung, ist magisch und logisch zugleich. Wirklich und unwirklich, aber keinesfalls unwirsch. Fingerzeit, Ewigkeit, Allmacht und Güte. Die Maschinewerdung Gottes. Deus ex machina. Und das Seelenheil ist eine Sache der verlustarmen Datenübertragung. Mirakel und Mysterium. Endlich wieder was, woran man glauben kann.

Ulrich Land

Neben dem Fabulierwillen des Autors offenbart sich hier allerdings auch deutlich die altbekannte Angst vor der Maschine und ihren unerkannten Möglichkeiten; Möglichkeiten, die ihr die Menschen erst zuschreiben, indem sie die freiwillig an sie abgeben. Das reicht bis hin zu Engführungen zwischen Denken und Computieren, also dem Erklären der menschlichen Verstandestätigkeit mithilfe der Kybernetik und kulminiert bei Ulrich Land in das Problem der Künstlichen Intelligenz: Der Mann erzeugt ein künstliches Bewusstsein ganz ohne dass ein physischer Zeugungsprozess stattfinden muss - „Schöpfer und trotzdem Saubermann. Eben: Gott!“17 - und erhält so, wie in Rosenbauers SF-Story, sein schöpferisches, göttliches Potenzial zurück, das ihm seit „Frankensteins“ Zeiten zugefallen ist. Nur dass die neuen Monster „völlig entkörperlicht, völlig vergeistigt“18 sind. Und vor solch einem Monster sitzt der fiktionale Viktor (dessen Name natürlich nicht von Ungefähr gewählt ist) und muss sich die moralischen Exerzitien der Kreatur anhören, vor denen sein Urahn Baron von Frankenstein noch um die halbe Welt geflohen ist.

»Die hätten Science-Fiction-Autor werden sollen«19

Lands Text ist letztlich bloß eine als Hörspiel getarnte Polemik gegen den Computer auf der Folie eines Science-Fiction-Dialogs. Der literarische Modus dient hier allerdings abermals als Möglichkeit, Technikfolgenantizipation zu betreiben, indem der Autor die Frage nach dem „Was wäre wenn …?“ in der Gegenwart der erzählten Zeit beantwortet. Derartig reflexiv mit ihrem fiktionalen Modus gehen alle drei hier vorgestellten Erzählungen um, was vor allem verdeutlicht, dass hier nicht bloße Computer-Dystopie (bzw. wie bei King: Computer-Utopie) betrieben, sondern schon darüber reflektiert wird, dass solche Texte vielleicht gar nicht ohne derartige „Textcomputer der Götter“ entstanden wären, deren Gegenstand und Eingabemedium sie sind.

Aber mehr noch als dies wird der fiktionale Kosmos in allen drei Texten thematisiert. Fiktion hat immer schon künstliche Welten generiert, war sozusagen „virtuelle Realität“ avant la lettre. Richard Hagstrom aus Kings Erzählung ist Kurzgeschichten-Autor (hat auch schon einen Roman veröffentlicht); die Inbetriebnahme des Computers verunsichert ihn jedoch über seinen ontologischen Status: „Mit dem Gefühl, eine Ausgeburt seiner eigenen Fantasie zu sein, setzte sich Richard vor den Bildschirm“20 und über den seiner Familie: „»Ich habe keinen Sohn«, murmelte Richard. Wie oft hatte er diesen melodramatischen Satz in schlechten Romanen gelesen? Hundertmal? Zweihundertmal? Er hatte sich stets unwirklich für ihn angehört. Aber hier war er wirklich. Jetzt war er wirklich. O ja.“21

Und auch Astronaut Frame reagiert in Rosenbauers Kurzgeschichte „Und wer ist Gott?“ auf Dr. Bilsons Ausführung, durch seine Computersimulation seien virtuelle und reale Welt identifiziert worden, mit einer „wahrscheinlicheren“, das heißt literarischeren Erklärung der Vorkommnisse: „Wahrscheinlich wurde die ganze Menschheit in Form von Energiebündeln zur Sonne abgestrahlt.“- worauf Bilson antwortet: „Sie hätten Science Fiction-Autor werden sollen, Frame!“22 Dass Gott als Erklärung für physikalische Ereignisse nicht existiert bzw. nicht infrage kommt, scheint ihnen als Naturwissenschaftler unzweifelhaft; einfach eine neue Instanz (den Computer) einzuführen, die diesen Gott (in Verkörperung von Dr. Bilson) herzuleiten hilft, kann daher ebenso wenig akzeptiert werden. Die Raumfahrer treten hier als regelrechte „Apologeten“ einer harten Science Fiction auf, in der die Technik für sich selbst und ansonsten für nichts anderes steht. Der Computer, das haben die beiden Essays zu zeigen versucht, ist hingegen eine Maschine, die im genretypologischen Sinne gleichermaßen „weiche“ und „harte“ Züge besitzt und auf diese Weise den Gottesgedanken in die Technik-SF zurückzutragen imstande ist.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.