Die Geschichte der S.M.

... oder von einer, die auszog, das Fürchten zu lernen

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Es war einmal, so beginnen schließlich alle Märchen, ein junges Mädchen. Ein fröhliches Kind, das sich zunächst altersgemäß entwickelte. Bis sich im jungen Teenager-Alter die Anzeichen einer Erbkrankheit bei ihr bemerkbar machten: Das Urbach-Wiethe-Syndrom führte dazu, dass zwei relativ kleine Bereiche in ihrem Gehirn selektiv von Kalkablagerungen gestört wurden. Die beiden Areale bilden gemeinsam die Amygdala, den Mandelkern, der als Teil des limbischen Systems für die Interpretation vieler Gefühle zuständig ist.

Seit etwa seinem zehnten Lebensjahr kann das Mädchen, von dem nur die Initialen S.M. bekannt sind, dadurch keine Furcht mehr empfinden. Ihrer Umgebung fiel das zunächst nur durch ein verändertes Verhalten auf, das für Pubertierende nicht ganz untypisch ist - etwa das bewusste Aufsuchen gefährlicher Situationen.

In ihrer weiteren Entwicklung fand sich S.M. in Situationen, die bei anderen für die Herausbildung außerordentlicher Traumen gereicht hätten: Sie wurde mit einem Messer bedroht, später mit einer Schusswaffe. Sie wurde in einem Akt häuslicher Gewalt beinahe getötet, und, wie Polizeireports bestätigen, mehr als einmal mit dem Tode bedroht. Offenbar hatte S.M. dabei stets ein Quäntchen Glück, denn in den Annalen der Medizin fand sie erst mit etwas über 20 Jahren Aufnahme, als sie sich wegen leichter epileptischer Anfälle bei dem bekannten Hirnforscher Antonio Damasio an der University of Iowa vorstellte. Für die Wissenschaft ist S.M. ein echter Glücksfall, denn eine solch selektive Schädigung der Amygdala ist höchst selten, weltweit sind nur eine Handvoll ähnlicher Fälle bekannt.

Abstand von 34 Zentimetern am komfortabelsten

S.M. wurde in der Folgezeit regelmäßig zum Subjekt wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Zunächst befassten sich Damasio und sein Team mit ihrer Fähigkeit, Emotionen in den Gesichtern anderer zu erkennen. Es zeigte sich, dass S.M. den Ausdruck von Angst nicht bemerkt - und zwar deshalb, weil sie die Augenregion beim Betrachten fremder Gesichter auslässt. Darauf aufmerksam gemacht, kann sie Angst sehr wohl identifizieren - vergisst das im Alltag aber auch wieder sehr schnell. Doch auch beim Hören von Musik fehlt S.M. das Empfinden von Angst, wie eine andere Studie feststellte

Ungewöhnlich ist auch, wie die Patientin auf andere zugeht: Ihr fehlt offenbar das Gespür für den persönlichen Raum. Während sich Menschen im Mittel in einer Distanz von etwa zwei Dritteln eines Meters zu anderen Personen am wohlsten fühlen, wählte S.M. einen Abstand von 34 Zentimetern als am komfortabelsten. Doch auch, wenn sie einer Person von Nase zu Nase gegenüberstand, zeigte sie keinerlei Anzeichen von Unwohlsein. Forscher überlegen bereits, wie sich das ausnutzen ließe - etwa in der Raumfahrt, wo die beengten Platzverhältnisse solche Raumverletzungen zum psychologischen Problem werden lassen.

Besuch im Spukhaus

Obwohl S.M. gelernt hat, wie Angst in den Gesichtern anderer Menschen aussieht, kann sie nach wie vor keine Furcht empfinden. Das haben die Forscher in Iowa erst jetzt gründlich getestet: In einem Paper in der im Januar erscheinenden Ausgabe des Fachmagazins Current Biology beschreiben sie, wie der Versuch ablief, die inzwischen 44-jährige S.M. das Gruseln zu lehren.

So besuchten die Wissenschaftler mit ihr ein Spukhaus, durch das die Patientin eine gründlich geängstigte Besuchergruppe ohne jedes Zeichen von Furcht führte - S.M. jagte dabei sogar einem der Gespenster einen Schreck ein, als sie aus Neugier mit dem Finger in seinen Kopf piekste. Beim Besuch im Zooladen wollte die Frau bereitwillig und neugierig Spinnen und Schlangen berühren, die nicht als Schoßtiere taugen.

Bei einer Filmvorführung erlebte die Patientin die Gefühle Ekel, Ärger, Traurigkeit, Glück und Überraschung auf normalem Niveau - versagte aber bei furchteinflößendsten Horrorfilmen. Trotzdem fand sie auch an diesen Streifen gefallen und konnte nachvollziehbar einschätzen, dass andere Betrachter an dieser Stelle Angst empfinden würden. S.M. (die einen IQ leicht unter dem Durchschnitt besitzt) empfindet zwar offenbar selbst keine Angst, kann aber rational beurteilen, was Angst verursacht.

Der Bursche im Märchen scheint im übrigen nicht an einer beschädigten Amygdala gelitten zu haben - oder bisher hat noch kein Forscher die von den Gebrüdern Grimm empfohlene Therapie getestet. Als der Fürchtenichts sich bei seiner neuen Gemahlin, der Prinzessin, beschwert, sich noch immer nicht gruseln zu können, sprach ihr Kammermädchen: „Ich will Hilfe schaffen, das Gruseln soll er schon lernen.“

Und sie ging hinaus zum Bach, der durch den Garten floss, und ließ sich einen ganzen Eimer voll Gründlinge holen. Nachts, als der junge König schlief, musste ihm seine Gemahlin die Decke wegziehen und den Eimer voll kalt Wasser mit den Gründlingen über ihn herschütten, dass die kleinen Fische um ihn herum zappelten. Da wachte er auf und rief:

Ach, was gruselt mir, was gruselt mir, liebe Frau! Ja, nun weiß ich, was Gruseln ist.